Zeit
Es regnete. Die Schienen glänzten von dem kalten Wasser. Der Wind löste einzelne Haarsträhnen aus ihrem Zopf und rötete ihre Wangen vor Kälte. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Zwanzig vor drei. Um halb drei hätte er hier sein sollen. War der Zug wirklich schon 10 Minuten zu spät? Sie schaute auf die Bahnhofsuhr, aber die Uhrzeit stimmte mit der auf ihrer Armbanduhr überein. Wo blieb er nur? Sie trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
Sie bückte sich, öffnete ihren Schnürsenkel und machte ihn wieder zu. Danach ging sie ein Stück am Bahnsteig entlang und vergrub ihre Hände in der Manteltasche. Es war so kalt. Sie verkrampfte ihre Hände zu Fäusten. Verdammt, wo blieb er nur?
Langsam schlenderte sie zu einer Bank. Als sie sich setzen wollte, knisterte es in ihrer hinteren Hosentasche. Sie zog den Zettel heraus und las:
Montag, 22.12. - Bahnsteig 3 - 14:30h
Ich freue mich auf dich!
Sie lächelte. Schließlich hatten sie sich 2 Wochen nicht gesehen. Seine Worte tänzelten in ihrem Kopf und sie freute sich auch auf ihn.
So saß sie da und beobachtete die anderen Wartenden. Einige fluchten,andere spazierten umher. Aber alle sahen regelmäßig auf die große Uhr am Bahnsteig.
So saß sie da und starrte auf die Schienen, wo sich das Wasser sammelte. Wieder öffnete und schloss sie ihre Senkel. Sie wurden ganz nass, als sie eben in eine Pfütze trat.
Wo blieb er nur? Es regnete immer noch, aber nicht mehr so stark. Leicht grauer Nebel bedeckte die Schienen, wenn sie nach links sah, von wo der Zug kommen würde.
Sie stand auf und spazierte wieder ein wenig zu ihrem alten Platz. Dort machte die sich einen neuen Zopf.
Ungeduldig sah sie wieder auf ihre Armbanduhr. Viertel nach drei. Es schien, als schnürte die Zeit ihre Kehle zu. Schon so spät? Was ist da los? Während sie hier wartet, schlummert er bestimmt sorglos in seinem Sitz und träumt was Schönes. Weiß er, dass es regnet? Weiß er, dass er verspätet ankommen wird?
Der Himmel hellte auf. Langsam hört es auf zu regnen. Aber kalt blieb es trotzdem. Und windig.
Sarah ging ein paar Schritte nach vorn um zu schauen, ob der Zug schon zu sehen ist.
Endlich, die Wolken verschwanden ein wenig und die Sonne schien leicht auf die Schienen, auf den Bahnsteig und vielleicht trocknete sie auch bald die Tropfen vom Dach.
Unruhig trat sie wieder von einem Fuß auf den anderen. Die Lust auf ihn zu warten schien verflogen zu sein. Aber die Freude auf ihn blieb, also blieb sie auch. Und wartete.
Als die Uhr zehn vor vier anzeigte, hörte Sarah ein Knistern in den Lautsprechern. "Liebe Passanten, liebe Reisende. Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der Zug 0564 nach Köln verunglückte..."
Sarah starrte auf ihren Zettel. Aber die Schrift verlief im Regen...