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Zeit für Träume
Es war wieder soweit. Herr Lehmann schloss die schwere grüne Holztür auf, öffnete sie ein wenig und atmete tief ein. Ein staubiger Geruch von Büchern, Wachs und Holz zog aus dem dunklen Spalt zwischen Tür und Türrahmen. Ein Geruch, den er seit vielen Jahren nicht mehr gerochen hatte. Für ihn war es wie ein Bouquet an Erinnerungen, Träumen und glücklicheren Zeiten. Gerüche wecken oft schneller und zuverlässiger Erinnerungen, als Bilder es je könnten.
So empfand es auch Herr Lehmann, der vor langer Zeit unter ganz anderem Namen sehr bekannt geworden war. Viele Sommer waren seitdem vergangen, keiner würde ihn heute wieder erkennen. Nicht einmal die, die ihn damals gefeiert haben und das waren nicht wenige.
Langsam öffnete er die Tür. Sie quietschte leise und er fürchtete für einen Moment, die Nachbarn aufzuwecken. Die schliefen, da war er sich sicher. In diesem Stadtteil wurde tagsüber hart gearbeitet, da blieb nachts kein Auge und kein Ohr wach. Das Licht der Flurbeleuchtung warf jetzt einen hellen Kegel auf die Holzdielen des Fussbodens vor ihm. Rechts konnte er einen Sessel sehen, dahinter einige schwer beladene Bücherregale. Links, verschluckt vom Schatten, waren weitere Bücherregale, das wusste er von früher.
Vor ihm im Raum, direkt beim Fenster, stand er: sein Sekretär, ein altes, schweres Möbelstück aus Mahagoni. Vorsichtig ging er darauf zu, Schritt für Schritt über einen alten Perserteppich, der ganz grau vom Staub geworden war. Das Licht der Kerze, die er in der Hand hielt, spiegelte sich flackernd im dunklen, lackierten Holz des alten Möbels. Er hielt unbewusst den Atem an, als er mit einer Hand über den verstaubten Rolladen strich. Ob er sich noch öffnen liess?
Er stellte den Kerzenständer auf einen kleinen Tisch vor dem Fenster links des Sekretärs und nahm bedächtig die beiden Holzknöpfe vom Rolladen in seine Hände. Langsam schob er den Holzrolladen im Halbbogen nach oben, bis die Schreibfläche zu sehen war. Es war alles noch wie früher. Kein Staubkrümel hatte die elegante grüne, lederne Schreibfläche getrübt.
Was ihn jedoch am meisten freute: Auf dieser Schreibfläche lag immer noch ein in schwarzem Leder eingebundenes Notizbuch und ein edler Füllfederhalter. Ganz so, wie er es damals hinterlassen hatte. Vor ewig vielen Jahren. So lange, dass er die Jahre gar nicht mehr zählen mochte. Und doch war es so, als wäre er nie fort gewesen. Streng genommen war er das auch nicht gewesen, zumindest räumlich. Dennoch schien ihm dieser Ort und alles was damit verbunden war, ewig weit entfernt gewesen zu sein.
Der Lederstuhl knarzte, als er sich setzte. Vor ihm lag das Notizbuch, und zum ersten Mal seit vielen Jahren verspürte er wieder diesen Sog, der davon ausging. Wie damals. Als müsste er sich sofort auf das Notizbuch stürzen und wie früher eintauchen. Eintauchen in fremde Welten und Geschichten. Fantasien, die in seinem Kopf entstanden, ihn fesselten und sich ohne sein Zutun wie von selbst entwickelten. Als würde er wie ein Archäologe eine verloren gegangene Stadt freilegen und darin unzählige Geschichten entdecken. So fühlte es sich jetzt wieder an und es war ein ungewohntes gleichzeitig altbekanntes, gutes Gefühl.
Viel zu lange war es her, dass er zum letzten Mal abgetaucht war, viel zu lange stand der Sekretär mit geschlossenem Rolladen in seinem Arbeitszimmer, dessen grüne schwere Holztür viel zu lange verschlossen gewesen war. Früher war er täglich an den Sekretär zurückgekehrt, aber es wurde immer weniger, bis er irgendwann den Sog gar nicht mehr verspürte und sein Geist wie ausgedorrt erschienen war, wie eine leere Geisterstadt.
Seitdem waren viele Jahre vergangen, Herr Lehmann führte ein langweiliges, bürgerliches Leben in einer sehr durchschnittlichen Nachbarschaft. Keiner seiner Nachbarn wusste, welche Träume und Fantasien Herr Lehmann, der damals unter anderem Namen veröffentlichte, jeden Abend zu Papier brachte. Welche Kreaturen sein quirliger Geist erschuf, welche Welten er in seinen Trance ähnlichen Schreib-Sessions bereiste. Vielen seiner Nachbarn waren dort mit ihm gewesen, später, wenn sie seine Bücher lasen. Keiner von ihnen ahnte jedoch, dass sie mit Herrn Lehmann dort gewesen waren. Für seine Nachbarn war Herr Lehmann ein staubgrauer Mann, der an der Stadtteilschule Deutsch und Geschichte unterrichtete.
Heute war ein anderer Tag. Das spürte er schon morgens, nach dem Aufstehen. Es pochte wieder in seinem Kopf, vibrierte. Wie früher, wenn Geschichten auf ihn warteten, wenn seine Protagonisten zur Handlung schreiten wollten. Ein fiebriges Gefühl. Die Gedankenblitze, Bilder und Dialogfetzen einer neuen Geschichte kreisten rastlos in seinem Gehirn, sodass er Angst hatte sie gleich wieder zu verlieren. So, wie man einen Traum verliert, den man nach dem Wachwerden zwar noch vor Augen hat, aber schon einen Moment später nicht mehr greifen kann, weil er sich wie eine lichter werdende Nebelwand in Luft auflöst.
So geschah es, dass Herr Lehmann an diesem Morgen zu seinem Schlüsselbrett bei der Wohnungstür schritt und den Schlüssel hervorholte, mit dem er vor vielen Jahren sein Arbeitszimmer mit traurigen Augen und hängenden Schultern abgeschlossen hatte.
Er schlug das Notizbuch auf. Die ersten zwei Seiten enthielten wirre, unzusammenhängende Notizen, Zeugnisse dafür, dass damals seine Schaffenskraft erlahmte. Die zwei Seiten würde er jetzt nicht mehr brauchen und nie wiedersehen wollen. Schnell riss er sie raus und warf sie in den Papierkorb, in dem noch viele weitere Seiten von damals lagen.
Jetzt beginnt ein neuer Abschnitt, sagte er sich.
Ich träume wieder.
Es ist wieder Zeit.