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Zeichen. Eine Autobiographie
Eine weise Frau sagte einmal, manche Gaben müsse man erst akzeptieren lernen. Es war das Wort „lernen“, das sie betonte, und sie sagte es mir, weil sie wusste, dass ich meine Gabe hasste.
Die weise Frau war meine Mutter.
Es ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen. Unmöglich zu sagen, wie alt ich war, vielleicht vier, fünf Jahre. Wir kamen Sonntags nach Hause, ich zeigte auf das Fenster des Nachbarhauses und quietschte ein fröhliches: „kaputt!“
Meine Eltern tadelten mich, weil es ja nicht kaputt war. Ich konnte sie nicht davon überzeugen, dass über dem Fenster ein Wort in der Luft schwebte, das nichts anderes als „kaputt“ bedeutete. Wie hätten sie es auch glauben können, ich konnte ja nicht mal lesen!
Und doch waren da in blasser Schrift Buchstaben gemalt, die nicht kyrillisch waren und auch keiner mir bekannten Sprache entstammten. Trotzdem wusste ich, dass diese Buchstaben einen Akt der Zerstörung beschrieben.
Zwei Tage später stieß der Nachbar seine Frau mit dem Kopf durch dieses Fenster, ich weiß nicht aus welchem Grund. Sie überlebte, was mich freute, weil sie mir immer mal wieder einen Apfel von ihrem Baum zuwarf. Und sie blieb bei ihrem Mann. Wahrscheinlich erwartete sie nichts anderes von ihrem Leben. Es waren harte Zeiten in Russland, damals.
Mein Vater erinnerte sich nicht an meine Prophezeiung. Er glaubte nie an dergleichen. Meine Mutter aber sah mich an, lange, durchdringend, wie prüfend, ohne ein Wort zu sagen. An diesen Blick erinnere ich mich noch gut, ich sollte ihn noch öfters sehen.
Mit vielleicht zehn Jahren gab sie mir den Rat, meine Prophezeiungen niemandem mehr zu erzählen, nur ihr. Ich befolgte diesen Rat. Fast jeder, der Zeuge meiner Gabe gewesen war, fragte mich, wie ich das gemacht hätte. Als wäre ich dafür verantwortlich, dass da ein Fenster zu Bruch ging, dort ein Brand ausbrach.
Ich war erst 16 geworden, als ich eines Morgens am Himmel die Buchstaben sah. Ich erschrak selber, denn so groß hatte ich sie nie zuvor gesehen. Auch konnte ich nicht einordnen, worüber sie schwebten. In jener Richtung lag Zimovishche, unser Nachbardorf, doch ich glaubte, die Buchstaben lagen weiter dahinter, über der Stadt Pripjat. Konnte das möglich sein – sah ich den Untergang einer ganzen Stadt vorher?
Ich wusste, dass mindestens zwei Tage Zeit waren. Ich rannte zu meiner Mutter und erzählte es ihr. Sie sah mich an, dann in die Richtung, in die ich zeigte. Ob wir nach Zimovishche gehen sollten, um es besser einordnen zu können, fragte ich. Sie fragte, wie groß die Buchstaben seien. Sehr groß, antwortete ich. Sie sagte, ich solle wichtige Sachen zusammenpacken. Vier Stunden später saßen wir im Zug nach Kiew. Meinen Vater zum Mitkommen zu überreden war aussichtslos. Er glaubte nicht an Hokuspokus, und eine passende Lüge fiel uns nicht ein. Wir sagten, wir würden eine Jugendfreundin dort besuchen. Sie sei Lehrerin, er solle sich keine Gedanken um die versäumte Schule machen. Als hätte sich mein Vater jemals Gedanken um meine Schulbildung gemacht.
Wir übernachteten tatsächlich bei einer Freundin, von der ich vermutete, dass sie eher Prostituierte war. Wir sahen uns Kiew an, ich war so aufgeregt, endlich eine große Stadt zu sehen. Meine Mutter fragte mich, ob ich die Buchstaben noch sehen könnte. Ich sagte nein. Ich hätte sie auch nicht wahrgenommen unter all den Dingen, die es zu sehen gab.
Tags darauf hörten wir vom Unglück, das als Tschernobyl in die Geschichte eingehen sollte. Ich spürte das erste Mal in meinem Leben mein Herz aussetzen. Meine Mutter weinte. Ich versuchte ihr klar zu machen, dass ich unmöglich am Unglück schuld sein könne. Natürlich hatte sie nicht im Traum diesen Verdacht gehabt; ich selbst war es, der die Verantwortung dafür auf seinen eigenen schmalen Schultern gepackt sah.
Im Zuge der Evakuierung der Bevölkerung Pripjats und der angrenzenden Dörfer kam mein Vater zu uns. Der Tod stand nicht als Wort über seinem Kopf, er stand ihm ins Gesicht geschrieben. Es sollte ein halbes Jahr dauern, aber er kam. Mit sechzehn wurde ich zum Erwachsenwerden gezwungen, ich stand mit meiner Mutter alleine da.
Wir hielten uns über Wasser, indem ich bereits in frühester Morgenstunde zu Fuß zu einem Bauernhof außerhalb der Stadt lief, Eier und Gemüse kaufte, soviel ich tragen konnte, und wieder zurücklief. Wir verkauften die Waren dann auf dem Markt. Es war nicht einträglich, aber wir überlebten.
Eines Tages erzählte ich meiner Mutter, dass ein Pfeiler der Markthalle einstürzen würde. Sie kannte eine Marktfrau, die unter dem Pfeiler ihren Stand hatte. Wir warnten sie, und sie glaubte mir sofort. Die Russen in der Großstadt sind empfänglich für derlei.
Als der Pfeiler einstürzte wurde ich auf einen Schlag berühmt. Die Marktfrau hatte es überall erzählt.
Ich wurde Wahrsager. Zuerst versicherte ich den Menschen, dass ich ihre Zukunft nicht sehen könne, nur manche Dinge, die kaputt gehen würden. Sie glaubten mir nicht. Sie bedrängten mich. Ich erfand Dinge, und es fiel mir immer leichter. Niemand wollte Wahrheiten hören; man verlangte nach allgemeinem, je beruhigender, umso besser. Jungen Paaren versicherte ich, dass eine Ehe unter guten Sternen stünde, und dass sie mit Kindern und Wohlstand gesegnet würden. Alten, verbrauchten Menschen prophezeite ich ein langes Leben. Ein Mann, der mir auf den ersten Blick unsympathisch war, schickte ich ernsten Gesichtes weg, mit den Worten, ich könne ihm nicht helfen. Es war ein riesen Spaß für mich, bis ich erfuhr, dass er sich am gleichen Tag erhängt hatte. So einfach war es, ein Leben zu zerstören.
Natürlich mehrte diese Geschichte nur meinen Ruhm. Ich bekam Geld und Geschenke, dass ich erst nicht wusste, was damit machen. Meine Mutter verwaltete es; fast könnte man sagen, sie wurde meine Managerin.
Wir lebten drei Jahre so, unsere Klienten wurden immer bekannter und berühmter. Wir hatten uns einen gewissen Wohlstand gesichert.
Zwei Wochen nach Ostern, wo die Luft und die Menschen schon die Erwartung des Frühlings trugen wie bunte Kleider, weckte mich meine Mutter wie üblich. Ich erschrak, als ich sie erblickte. Über ihrem Kopf waren Buchstaben, die „Tod“ bedeuteten. Ich sah es selten über den Köpfen von Menschen, und es hatte mich immer traurig gemacht.
Ich hätte ihr nichts gesagt, doch sie hatte meinen Blick gesehen. Sie griff als Reflex über ihren Kopf, als könne sie die Buchstaben von dort vertreiben, ausradieren. Dann rannte sie in ihr Zimmer, ich glaubte sie weinen zu hören.
Ich lief weg. Ich hätte es nicht ertragen können. Zu warten, bis passierte, was immer passieren würde. Zu glauben, ich sei schuld an ihrem Tod, allein weil ich ihn vorhergesehen hatte.
Ich wurde ein Wanderprediger. Mein Ruf eilte mir voraus, man erwartete mich, wo immer ich eine Pause einlegte. Ich sagte niemandem mehr seine Zukunft voraus, ich sprach statt dessen von der Zukunft ganzer Völker, der ganzen Sowjetunion, der ganzen Welt. Ich sah den Untergang der Sowjetunion voraus. Jeder Mensch mit Verstand hätte das tun können. Mir glaubten sie. Oft sperrte man mich ein wegen meiner Reden, die durch und durch dem Kommunismus widersprachen. Es war die beste Zeit für mich: hinter Gittern durfte ich meinen Mund halten, ich musste nicht Ausschau halten nach irgendwelchen Buchstaben über irgendwelchen Dingen oder Menschen. Doch ich hatte zu mächtige Anhänger, früher oder später kam ich immer frei.
Der Zusammenbruch des Ostblocks brachte mir nicht viel. Klienten, die ich längst vergessen hatte, machten großes Geld im Westen, sie nötigten mich, ihnen nachzureisen. Meine Wanderung blieb die selbe, meine Predigten ebenfalls. Ich muss mich nicht mehr vorstellen, die Welt kennt mich bereits.
Seit gestern weiß ich, dass meine Prophezeiungen ein Ende haben. Nie habe ich sie gewollt, nie habe ich gelernt sie zu akzeptieren. Nie waren sie eine Gabe für mich, immer nur ein Fluch. Seit gestern weiß ich, dass ich sie nicht mehr zu fürchten brauche.
Ich stieg gestern aus meinem Bett. Eine große Suite in einem großen Hotel in einer großen Stadt. Ich habe mir abgewöhnt, die Namen der Städte meiner Wanderschaft zu merken.
Mir verlangte nach frischer Luft, ich ging auf den Balkon. Und es war nicht die Morgensonne, die den Himmel mit blasser Farbe tränkte. Es waren Buchstaben, in der gleichen Schrift, die keine Sprache der Welt kennt, Buchstaben, die ich mein Leben lang gesehen und verstanden habe. So groß, wie ich sie nie gesehen habe. Sie sind über den ganzen Himmel geschrieben, sie überdecken mindestens dieses Land, wenn nicht den gesamten Kontinent oder die ganze Erde. Ich freue mich über die Botschaft, es ist das erste mal, dass mich meine Gabe wirklich glücklich macht.
Das war gestern. Es dauert mindestens zwei Tage.