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Zehntausend Zeitungen

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29.01.2004
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Zehntausend Zeitungen

Die meiste Zeit bewegt sich Karl nicht, liegt in seinem Bett oder sitzt am Fenster. Er ist immer aufmerksam, seine zähen Sehnen bleiben jede Sekunde gespannt. Seit einem halben Jahr hat niemand mehr bei ihm geklingelt, darüber sind seine Ohren fein geworden. Er hört so gut, dass er die Klingel der Nachbarn für seine eigene hält.

Ungefähr einmal pro Tag schellt es bei den Nachbarn. Dann schreckt er auf, hastet in Kreisen durch seine Wohnung, dort, wo der Boden frei ist. Er zählt seine Herzschläge und wartet, ob es noch ein zweites Mal klingelt, kommt in seinen fettigen Kleidern dabei ins Schwitzen. Nach zweihundert Pulsschlägen ist er sicher, dass es nicht noch mal klingeln wird. Er öffnet nie die Tür.

Zehn Minuten danach ist er wieder der alte, denkt nicht mehr darüber nach, ob es der Gerichtsvollzieher war oder seine Eltern. Er geht den schmalen Pfad auf dem Boden zu seiner Schlafecke, legt sich in die Feuchtigkeit, die schnell wieder warm wird und liest die eine Zeitungsseite, die er schon mehrere Male gelesen hat. Sein Herz wird groß, wenn er daran denkt, wie viel Freude er an dieser einen Zeitungsseite hat, und wie viele Zeitungen noch in seiner Wohnung liegen und die er noch lesen kann: tausende Zeitungen, Dosen, Kastanien, Keksverpackungen, Toilettenpapier, Brötchen, Dokumente, Stifte, Teppichreste, Bücher, Fotos, Waschmittel, Kleidung, unbeschriebene Postkarten, CDs, Kassetten, Kabel, Staubsaugervorsätze, ausgebrannte Glühbirnen, und in den Lücken dazwischen kleine modrige Dinge. Hier liegen genügend Reichtümer für ein erfülltes Leben.

Er löffelt seinen Joghurt aus, stellt den Becher vorsichtig auf die schräge Seite von einem Stapel aus Zeitungen und anderem und geht zur Küche. Der Kühlschrank ist offen. Darin mehrere offene Milchtüten; er weiß nicht mehr, welche davon schon wie lange offen ist, und so öffnet er eine neue Tüte H-Milch neben dem Kühlschrank und trinkt diese aus, dann nimmt er eine weitere Packung Kekse und legt sich wieder ins Bett. Das Bett ist so voll von Dingen, die er zur Unterhaltung braucht, dass er sich nicht ausstrecken kann. Er öffnet die Kekspackung und freut sich über den glänzenden Karton: beige Kekse auf sattblauem Hintergrund, die alten Kekspackungen in den hinteren Teilen des Wohnzimmers haben nicht so schöne Farben. Das Telefon schreckt ihn hoch.

Sein Puls schnellt nach oben, er geht wieder im Kreis, nähert sich dann, voll von Adrenalin, dem Telefon, schaut auf die digitale Anzeige, und sieht, Gott sei Dank, dass es Martin ist.

„Behrends.“
„Hey, grüß Dich Karl, hier ist Martin!“
„Moin Martin, Du alter Büroschwänzer, schon zurück aus dem Land der Frauen?“
„Ja, schöne Grüße von Inge. Sage mal, die Jungs gehen heute in diesen schwedischen Kultfilm im Alabama-Kino. Bist Du dabei?“
„Klar komme ich. Ich hole Dich zwanzig vor acht ab, wie immer“.

 

Hallo Gernot,

deine Geschichte hat mir gut gefallen. Du hast einen flüssigen Schreibstil und der Plot, wobei es ja wohl um die Darstellung des Verhaltens eines Messi geht, ist dir meines Erachtens hervorragend gelungen, wenn, ja, wenn der letzte Absatz mit dem Telefonat nicht wäre.
Für mich ist da kein Zusammenhang zwischen der Isolation deines Protagonisten in seiner eigenen Welt der vielen Dinge gefangen zu sein und dem Telefonat vorhanden. Weshalb mich der letzte Absatz nicht nur irritiert, sondern gehörig stutzig gemacht hat.
Vielleicht hab ich aber auch was total nicht kapiert oder übersehen. Mal sehen, was du erwiderst.

Bis dahin
lieben Gruß
lakita

 

Hallo lakita!

Danke für das Lob!

Worüber Du gestutzt bist (hast?), war genau das, was ich zum Ausdruck bringen wollte: Ein Messie ist unfähig, den Haushalt zu führen, und unter all dem Chaos ist es unverständlich, dass er in der Welt da draussen ein völlig normales Leben führt, und das keiner ahnt, wie es bei ihm zuhause aussieht.

Immer wennn bekannt wird, dass jemand ein Massenmörder, Kinderschänder, Messie, Analphabet oder Kannibale ist, heisst es nachher "Das hätte ich NIE für möglich gehalten". Klar gibt es Messies, denen man es auf den ersten Blick ansieht, aber dann gibt's andere, bei denen viele keine Ahnung haben... glaube ich zumindest...

Gernot

 

Ok, da magst du recht haben, aber ich finde, wie du den Protagonisten darstellst - fettige Kleidung etc - kommt mir die Kritik von lakita berechtigt vor.

Ändert aber nichts an der Beschreibung, die ist gelungen.
Aber mir ist die Geschichte zu kurz. Die Realität zu beschreiben ist die eine Seite, aber was ist mit der inneren Welt: dem ZWANG, sammeln zu müssen, darunter auch zu leiden, sich schlecht und dabei aber auch gut zu fühlen, diese Zerrissenheit, diese streitenden Gefühle zu erzählen, den Konflikt zu offenbaren, die Parallelen zwischen der Wohn - und Seelenwelt sowie die Diskrepanz zwischen häuslichem und öffentlichem Leben hätte beschrieben werden können - kurzum: du schöpfst das Potential des Themas mMn zu wenig aus, lässt dich nicht auf eine tiefere Betrachtung ein, bleibst an der Oberfläche, beleuchtest diese recht anschaulich, aber nicht so, dass die Abgründe deutlich gemacht werden.
Schade.

Gruß Jan

 

Hallo Gernot!

Das Thema Messies interessiert mich immer sehr, zumal mir auch schon ein paar über den Weg gelaufen sind. Den Typ Deiner Geschichte hab ich dabei noch nicht kennengelernt, bei ihm scheint es doch großteils „Schlampigkeit“ (noch nicht einmal Überforderung) zu sein, die ihn zu dem Sauhaufen treibt (siehe zum Beispiel die Sache mit dem Joghurtbecher), als die Angst, im Leben einmal zu wenig zu haben (»Hier liegen genügend Reichtümer für ein erfülltes Leben«), denn was sollte er denn auch mit leeren Kekspackungen anfangen?
Hier ist in meinen Augen ein Widerspruch in Deiner Geschichte. Klar gibt es verschiedene Arten von Messies, mit den unterschiedlichsten Ursachen für den Sammelwahn bzw. das Vermüllungssyndrom (lt. der unten verlinkten Seite), aber Dein Protagonist scheint eine Mischung aus unterschiedlichen Formen von Messies zu sein, und das halte ich für eher unwahrscheinlich.

Hier hab ich eine sehr informative Seite zum Thema Messies gefunden. :)

Aber jetzt wieder zu Deiner Geschichte: Am Anfang finde ich es verwirrend, daß es erst die Klingel des Nachbarn ist, die läutet (das hab ich doch richtig verstanden, oder?), er dann aber darüber nachdenkt, ob es der Gerichtsvollzieher oder seine Eltern gewesen sein könnten. – Solltest Du ihn auch noch als verwirrt darstellen wollen (wozu auch die offene Kühlschranktüre gehört), fände ich das ein bisschen zu viel des Guten. Wie Du auf der verlinkten Seite nachlesen kannst, sind Messies meist sogar sehr penibel. ;)

legt sich in die Feuchtigkeit, die schnell wieder warm wird
Welche Feuchtigkeit? :shy: Ein Raum, in dem Zeitungen lagern, ist doch normalerweise eher sehr trocken…?

Stilistisch finde ich die Geschichte gelungen, und so, wie Du den Protagonisten vermutlich darstellen wolltest, kommt er auch sehr bildlich bei mir an – ich mache mir eben nur Gedanken, ob das alles so richtig, also möglich, ist.
Das mit dem schmalen Pfad durch die Wohnung finde ich zum Beispiel ganz gelungen – ich kannte selbst in meiner Jugend einmal so einen, der Wege durch seine Wohnung hatte, hier ins Bad, da zum Bett, dort zum Tisch mit vier Sesseln (er lud sich sogar noch Leute ein). Einen zweiten kannte ich auch, bei dem es sich allerdings in Grenzen hielt, es waren noch zählbare Stöße. Beide hatten gemeinsam, daß sie politisch aktiv waren und offenbar Angst hatten, irgendetwas irgendwann nicht mehr nachlesen, vielleicht sogar beweisen zu können.
Jeder Messie hat seine – meist in der Kindheit liegenden – Ursachen, und die fehlen mir bei Deiner Geschichte, um sie in meinen Augen zu einem wertvollen Text zu machen. Du zeigst in erster Linie, wie es oberflächlich bei ihm aussieht, gehst aber nicht in die Tiefe. Ich würde Dir raten, Dir eine Ursache zu suchen und Deinen Protagonisten danach aufzubauen, dann ergibt das ein realistischeres Bild.
Ich bin zum Beispiel beim Nachdenken über das Thema draufgekommen, daß ich auch einen leichten Hang in die Richtung habe, wenn auch lang nicht in solchen Auswirkungen: Als Kind hab ich zwei Bastelbücher bekommen – aber kein Material, mit dem ich die Sachen hätte nachbasteln können. Heute hab ich ein großes Regal voller Bastelmaterial, damit mein Sohn immer findet was er gerade braucht. Er könnte seine ganze Klasse zum Basteln einladen…:D Du siehst: Ursache und Wirkung.
Es hat meiner Meinung nach keinen Sinn, bloß die Wirkung zu betrachten, da das niemandem zu mehr Verständnis oder so verhilft. Literarisch wertvoll finde ich solche Geschichten, wenn sie in der Lage sind, entweder Nicht-Messies ein Verstehen der Situation solcher Menschen zu ermöglichen, oder wenn sie auf Messies therapeutische Funktion haben können. – Würde Dir also zu einer umfassenden Überarbeitung raten. :)

Was ich wieder recht interessant finde, ist Dein Schluß: Denn ins Kino zu gehen ist ja nicht gerade eine kommunikative Unterhaltung, also keine, bei der man vielleicht in tiefsinnige Gespräche, womöglich gar über sich selbst, verwickelt werden könnte. Anscheinend also eine Alibihandlung, um vor sich selbst und/oder der Außenwelt als normal dazustehen, regelmäßig ausgeführt. Ich finde, das ist die realistischste Szene in Deiner Geschichte. :)

Ich hoffe, Du bist jetzt nicht böse, weil ich Dir keine so positive Kritik geschrieben habe, aber ich will Dich eigentlich wirklich nur anregen, die Geschichte noch sehr sehr auszuarbeiten. Sie kann dabei ruhig auch um ein Mehrfaches länger werden, das macht gar nichts. ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Häferl!

Danke für Deine Kritik! Was ich mit meiner Geschichte darstellen wollte, ist nicht das Thema des Messietums, sondern einen Tag in der Wohnung eines Messies. Auf so wenig Platz glaube ich kaum, dass man unverkrampft noch eine Ursachenanalyse unterbringen könnte, es sei denn eine banale im Sinne von "Seine Eltern haben ihn immer zur Ordnung gezwungen".

Als ich über das Thema nachgedacht habe, wurde mir klar, dass jeder Mensch, egal wie schlimm seine Neurose oder Phobie ist, die meiste Zeit in Normalität verbringt, was imer das auch für ihn sein mag. Auf jeden Fall bin ich der Meinung, dass sich bei einem Messie das Leben irgendwie eingependelt hat, und von Störungen abgesehen (Türklingel) wird auch ein Phobiker/Neurotiker den Tag weitgehend ohne Adrenalin verbringen, und den Joghurtbecher einfach so abstellen, sich vornehmend ihn irgendwann wegzuräumen. Daher habe ich bewußt keine dramatische Entscheidungsszene ("wegwerfen oder nicht wegwerfen? kaufen oder nicht kaufen") eingebaut. Wir alle haben ja eine Todes-, Verlassenwerden- oder Entlassenwerden-Phobie, und trotzdem sind unsere meisten Tage "normal", bei einem langjährigen Messie stelle ich es mir nicht anders vor.

Mehr wollte dieser Text gar nicht, lediglich klarmachen, dass es hinter so manchen Wohnungstüren und hinter so mancher Schädeldecke schlimmer aussieht, als man glaubt, auch gerade bei den Menschen, die sich sonst normal benehmen.

Ich habe mir die Website durchgelesen, und fühle mich allerdings (nicht böse sein!) in meiner Ansicht bestätigt, genau so stelle ich mir Messies vor.

Ich glaube, die Geschichte ist einfach zu kurz für das Thema, eine Beleuchtung des Alltages (im Sinne von "Lieber Leser, was glaubst Du, wie es in deutschen Privatwohnunen so aussieht!") schien mir das einzig mögliche auf so kurzem Raum zu sein.

Zum Überarbeiten werde ich so schnell leider nicht kommen, weil ich gerade an einer wesentlich längeren Geschichte arbeite, die meine ganze Liebe und Aufmerksamkeit beansprucht - und der Beruf ist ja auch noch da...

Egal, Danke für die Kritik!

 

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