Zehntausend Zeitungen
Die meiste Zeit bewegt sich Karl nicht, liegt in seinem Bett oder sitzt am Fenster. Er ist immer aufmerksam, seine zähen Sehnen bleiben jede Sekunde gespannt. Seit einem halben Jahr hat niemand mehr bei ihm geklingelt, darüber sind seine Ohren fein geworden. Er hört so gut, dass er die Klingel der Nachbarn für seine eigene hält.
Ungefähr einmal pro Tag schellt es bei den Nachbarn. Dann schreckt er auf, hastet in Kreisen durch seine Wohnung, dort, wo der Boden frei ist. Er zählt seine Herzschläge und wartet, ob es noch ein zweites Mal klingelt, kommt in seinen fettigen Kleidern dabei ins Schwitzen. Nach zweihundert Pulsschlägen ist er sicher, dass es nicht noch mal klingeln wird. Er öffnet nie die Tür.
Zehn Minuten danach ist er wieder der alte, denkt nicht mehr darüber nach, ob es der Gerichtsvollzieher war oder seine Eltern. Er geht den schmalen Pfad auf dem Boden zu seiner Schlafecke, legt sich in die Feuchtigkeit, die schnell wieder warm wird und liest die eine Zeitungsseite, die er schon mehrere Male gelesen hat. Sein Herz wird groß, wenn er daran denkt, wie viel Freude er an dieser einen Zeitungsseite hat, und wie viele Zeitungen noch in seiner Wohnung liegen und die er noch lesen kann: tausende Zeitungen, Dosen, Kastanien, Keksverpackungen, Toilettenpapier, Brötchen, Dokumente, Stifte, Teppichreste, Bücher, Fotos, Waschmittel, Kleidung, unbeschriebene Postkarten, CDs, Kassetten, Kabel, Staubsaugervorsätze, ausgebrannte Glühbirnen, und in den Lücken dazwischen kleine modrige Dinge. Hier liegen genügend Reichtümer für ein erfülltes Leben.
Er löffelt seinen Joghurt aus, stellt den Becher vorsichtig auf die schräge Seite von einem Stapel aus Zeitungen und anderem und geht zur Küche. Der Kühlschrank ist offen. Darin mehrere offene Milchtüten; er weiß nicht mehr, welche davon schon wie lange offen ist, und so öffnet er eine neue Tüte H-Milch neben dem Kühlschrank und trinkt diese aus, dann nimmt er eine weitere Packung Kekse und legt sich wieder ins Bett. Das Bett ist so voll von Dingen, die er zur Unterhaltung braucht, dass er sich nicht ausstrecken kann. Er öffnet die Kekspackung und freut sich über den glänzenden Karton: beige Kekse auf sattblauem Hintergrund, die alten Kekspackungen in den hinteren Teilen des Wohnzimmers haben nicht so schöne Farben. Das Telefon schreckt ihn hoch.
Sein Puls schnellt nach oben, er geht wieder im Kreis, nähert sich dann, voll von Adrenalin, dem Telefon, schaut auf die digitale Anzeige, und sieht, Gott sei Dank, dass es Martin ist.
„Behrends.“
„Hey, grüß Dich Karl, hier ist Martin!“
„Moin Martin, Du alter Büroschwänzer, schon zurück aus dem Land der Frauen?“
„Ja, schöne Grüße von Inge. Sage mal, die Jungs gehen heute in diesen schwedischen Kultfilm im Alabama-Kino. Bist Du dabei?“
„Klar komme ich. Ich hole Dich zwanzig vor acht ab, wie immer“.