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Zehn Sekunden vorher
Die alte Frau saß mit geschlossenen Augen auf der Veranda. Eingesunken in den Plüschbezug ihrer quietschenden Hollywoodschaukel. Eigentlich wollte ich nur kurz ein Päckchen vorbeibringen, als sie anfing, mir diese Geschichte zu erzählen:
„An meinem siebten Geburtstag fand ich heraus, dass ich die Zeit zurückdrehen konnte. Und zwar um exakt zehn Sekunden.
Das war der Tag, an dem Cäsar, mein Wellensittich vom Deckenventilator erschlagen wurde. Ein lautes Flattern, dann ein Wusch und Knack, und er fiel einfach zu Boden. Seine ersten zehn Sekunden außerhalb der Gitterstäbe waren auch schon seine letzten. Traurig, nicht wahr?
Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, was mir durch den Kopf ging, als ich ihn da so tot auf dem Teppich liegen sah. Irgendetwas wie „Vor zehn Sekunden war er noch lebendig“, muss es wohl gewesen sein, denn plötzlich saß er wieder auf der kleinen Schaukel in seinem Käfig und knabberte an seinem Gefieder.
Von da an drehte ich die Zeit mindestens einmal pro Tag zehn Sekunden zurück. Außer mir selbst schien es überhaupt niemandem aufzufallen, dass ein Kuchen plötzlich wieder heil auf dem Tisch stand, die Fensterscheibe wieder ganz war oder die Ampel wieder grün. Sehen Sie, jetzt gerade hatte ich zum Beispiel einen furchtbaren Hustenanfall und Sie haben es gar nicht gemerkt.
Während der Schulzeit war das besonders praktisch. „Diese Schülerin ist schon so viel weiter als die anderen!“, schwärmten die Lehrer. Tatsächlich war ich den andern nur zehn Sekunden voraus. Immer wenn ich etwas nicht wusste, wartete ich die Antwort ab, machte sie für alle andern wieder ungesagt und meldete mich – selbstverständlich mit der richtigen Lösung. Bei Klassenarbeiten hatte ich eine ähnliche Taktik. Ich nahm einfach all die Unterlagen aus dem Unterricht mit und schlug darin nach, sobald ich mit den Aufgaben nicht weiter kam. Dass mich die Lehrer dabei erwischten war nicht schlimm – ich konnte es ja rückgängig machen.
Das Schwierigste am Leben ist seine Einmaligkeit, mein Kind. Dass man jede Sekunde nur einmal erlebt. Fehler nicht wieder rückgängig machen kann.
Ich will nicht behaupten, dass ich in meinem Leben keine Fehler begangen habe, aber ich hatte für alles mehrere Versuche. Was nicht auf Anhieb klappte, versuchte ich eben wieder. Und wieder. Und wieder. Um meinen Mann vor den Altar zu schleifen habe ich, lassen Sie mich nachdenken, fünfzehn Versuche gebraucht. Fünfzehn mal die falschen Worte.
Seinen Tod verhindern konnte ich trotzdem nicht. Genauso wenig wie ich meinen eigenen überwinden kann. Alles, was ich kann, ist aufschieben und nochmal probieren. Und nochmal. Und nochmal. Aber es gibt Krankheiten, die lassen sich nicht besiegen. Auch wenn man es noch so oft versucht.
73 mal 10 Sekunden lang sitze ich nun schon hier und zögere hinaus. Wer die Zeit zurückdrehen kann, hat ein leichtes Leben und einen schweren Tod.
Ihnen wünsche ich das Gegenteil. Ist nicht böse gemeint, ich meine nur: Ein schweres Leben haben Sie ja jetzt schon. Da wünsche ich Ihnen wenigstens einen leichten Tod. Danke übrigens fürs Zuhören.“
Dann starb die alte Dame. Ich fand heraus, dass sie tatsächlich einen Wellensittich namens Cäsar besessen hatte. Dass ihr Mann vor zwei Jahren an Krebs gestorben war. Und dass viele sie für hochbegabt hielten.
Doch bis heute weiß ich nicht, ob ich ihr glauben soll.