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Zehn Sekunden vorher

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17.11.2014
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Zehn Sekunden vorher

Die alte Frau saß mit geschlossenen Augen auf der Veranda. Eingesunken in den Plüschbezug ihrer quietschenden Hollywoodschaukel. Eigentlich wollte ich nur kurz ein Päckchen vorbeibringen, als sie anfing, mir diese Geschichte zu erzählen:

„An meinem siebten Geburtstag fand ich heraus, dass ich die Zeit zurückdrehen konnte. Und zwar um exakt zehn Sekunden.
Das war der Tag, an dem Cäsar, mein Wellensittich vom Deckenventilator erschlagen wurde. Ein lautes Flattern, dann ein Wusch und Knack, und er fiel einfach zu Boden. Seine ersten zehn Sekunden außerhalb der Gitterstäbe waren auch schon seine letzten. Traurig, nicht wahr?
Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, was mir durch den Kopf ging, als ich ihn da so tot auf dem Teppich liegen sah. Irgendetwas wie „Vor zehn Sekunden war er noch lebendig“, muss es wohl gewesen sein, denn plötzlich saß er wieder auf der kleinen Schaukel in seinem Käfig und knabberte an seinem Gefieder.
Von da an drehte ich die Zeit mindestens einmal pro Tag zehn Sekunden zurück. Außer mir selbst schien es überhaupt niemandem aufzufallen, dass ein Kuchen plötzlich wieder heil auf dem Tisch stand, die Fensterscheibe wieder ganz war oder die Ampel wieder grün. Sehen Sie, jetzt gerade hatte ich zum Beispiel einen furchtbaren Hustenanfall und Sie haben es gar nicht gemerkt.

Während der Schulzeit war das besonders praktisch. „Diese Schülerin ist schon so viel weiter als die anderen!“, schwärmten die Lehrer. Tatsächlich war ich den andern nur zehn Sekunden voraus. Immer wenn ich etwas nicht wusste, wartete ich die Antwort ab, machte sie für alle andern wieder ungesagt und meldete mich – selbstverständlich mit der richtigen Lösung. Bei Klassenarbeiten hatte ich eine ähnliche Taktik. Ich nahm einfach all die Unterlagen aus dem Unterricht mit und schlug darin nach, sobald ich mit den Aufgaben nicht weiter kam. Dass mich die Lehrer dabei erwischten war nicht schlimm – ich konnte es ja rückgängig machen.
Das Schwierigste am Leben ist seine Einmaligkeit, mein Kind. Dass man jede Sekunde nur einmal erlebt. Fehler nicht wieder rückgängig machen kann.
Ich will nicht behaupten, dass ich in meinem Leben keine Fehler begangen habe, aber ich hatte für alles mehrere Versuche. Was nicht auf Anhieb klappte, versuchte ich eben wieder. Und wieder. Und wieder. Um meinen Mann vor den Altar zu schleifen habe ich, lassen Sie mich nachdenken, fünfzehn Versuche gebraucht. Fünfzehn mal die falschen Worte.

Seinen Tod verhindern konnte ich trotzdem nicht. Genauso wenig wie ich meinen eigenen überwinden kann. Alles, was ich kann, ist aufschieben und nochmal probieren. Und nochmal. Und nochmal. Aber es gibt Krankheiten, die lassen sich nicht besiegen. Auch wenn man es noch so oft versucht.

73 mal 10 Sekunden lang sitze ich nun schon hier und zögere hinaus. Wer die Zeit zurückdrehen kann, hat ein leichtes Leben und einen schweren Tod.
Ihnen wünsche ich das Gegenteil. Ist nicht böse gemeint, ich meine nur: Ein schweres Leben haben Sie ja jetzt schon. Da wünsche ich Ihnen wenigstens einen leichten Tod. Danke übrigens fürs Zuhören.“

Dann starb die alte Dame. Ich fand heraus, dass sie tatsächlich einen Wellensittich namens Cäsar besessen hatte. Dass ihr Mann vor zwei Jahren an Krebs gestorben war. Und dass viele sie für hochbegabt hielten.

Doch bis heute weiß ich nicht, ob ich ihr glauben soll.

 

Hallo Perfektionistin,

erstmal herzlich willkommen hier. Das ist ein nettes Gedankenspiel, das Du hier präsentierst. Das mit der sekundenweisen Verschiebung des eigenen Todes ist wirklich spannend, aber ich finde, die Umsetzung ist noch ein bisschen knapp. Du machst Dir das mit dieser Form erzählerisch ein bisschen zu leicht. Das gewinnt nicht richtig an Leben, weil alles nur Rückblende und Zusammenfassung ist. Da könnte man mehr rausholen. Die Rahmenerzählung erscheint mir auch noch etwas, na ja, nicht wie etwas, an dem Du lange und liebevoll gefeilt und gestaltet hättest, sondern wie ein Provisorium, das seinen Zweck so grade erfüllt.
Ich mein, das hat natürlich sowas Parabelhaftes und Parabeln sind sehr schlicht und nüchtern, nicht sehr szenisch. Aber um diesen Parabelton richtig zu treffen, müsste man dann wieder noch schlichter werden - gute, klangvolle Schlichtheit ist m.E. Königsdisziplin. Der andere Weg wäre halt, ne richtige Geschichte draus zu machen, die mehr auf Unmittelbarkeit geht, szenischer ist, die Figuren stärker konturiert. Im Moment sitzt der Text da noch zwischen den Stühlen.

Ich versteh auch nicht, wie ein Text gleichzeitig "Alltag" und "Seltsam" sein kann.


Wer die Zeit zurückdrehen kann, hat ein leichtes Leben und einen schweren Tod.
Ihnen wünsche ich das Gegenteil. Danke.
auch irgendwie fies! :D

lg,
fiz

 
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Vielen Dank für die schnelle Kritik!!
Ja, genau das Problem sehe ich da auch. Hier kurz der Hintergrund der Sache:
Morgen nehme ich an einem Poetry Slam teil, und mir fehlt der dritte Text. Deshalb bin ich etwas unter Zeitdruck und Zeitdruck ist wirklich Gift für gute Texte. Außerdem darf er nicht länger als fünf Minuten sein, was mir ziemlich zu schaffen macht.
Hast du vielleicht einen Ratschlag, wie ich mehr Leben in die Geschichte bringe, ohne, dass sie länger wird?

Übrigens sind gerade alltägliche Begegnungen häufig ziemlich seltsam. :D

 
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Hast du vielleicht einen Ratschlag, wie ich mehr Leben in die Geschichte bringe, ohne, dass sie länger wird?
Puh, so spontan, nee. Müsste ich jetzt auch erstmal drüber meditieren. Deshalb ist es ja meist besser, wenn man Texten mehr Zeit zum Entwickeln gibt.
Allererste Maßnahme wäre allerdings meiner Meinung nach, den Erzählrahmen komplett rauszuschmeißen und nicht so berichtend im Rückblick zu erzählen. Die Szene mit dem Vogel ist doch ganz nett, wenn man da direkt reingeht und etwas atmosphärischer beschreibt, auch mit mehr Fokus auf die Irritation oder Komik, die da entsteht. Das wäre schon der erste Schritt. Aber bis morgen wird das knapp.

Übrigens sind gerade alltägliche Begegnungen häufig ziemlich seltsam.
Ja gut, aber hier ist "seltsam" eher das nicht-Alltägliche, Übernatürliche. Und in der Geschichte auch. Ich weiß nicht, ob es so alltäglich ist, die Zeit zurückzudrehen.

lg,
fiz

Nachtrag:
Überarbeiten kannst Du direkt im ersten Post, sonst wird der Thread tierisch aufgebläht und keiner weiß mehr, wo er wirklich zu lesen anfangen soll. Ich mach das mal raus und kopiers in den ersten Post. In Zukunft dann bitte über den Bearbeiten- Button gehen.

 
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Danke für den Hinweis, das wusste ich nicht. Werde ich in Zukunft aber beherzigen.

Hier eine Alternative, deshalb benutze ich dieses eine Mal mal nicht den Bearbeitungsthread.

Die letzten zehn Sekunden

An meinem siebten Geburtstag fand ich heraus, dass ich die Zeit zurückdrehen konnte. Und zwar um exakt zehn Sekunden.
Das war der Tag, an dem Cäsar, mein nagelneuer Wellensittich vom Deckenventilator erschlagen wurde. Ein lautes Flattern, dann ein Wusch, ein Knack - und er fiel einfach zu Boden. Seine ersten zehn Sekunden außerhalb der Gitterstäbe waren auch schon seine letzten. Traurig, nicht wahr?
Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, was mir durch den Kopf ging, als ich ihn da so tot auf dem Teppich liegen sah. Irgendetwas wie „Vor zehn Sekunden war er noch lebendig“, muss es wohl gewesen sein, denn plötzlich saß er wieder auf der kleinen Schaukel im Käfig und knabberte an seinem Gefieder.
Von da an drehte ich die Zeit mindestens einmal pro Tag zehn Sekunden zurück. Außer mir selbst schien es überhaupt niemandem aufzufallen, dass ein Kuchen plötzlich wieder heil auf dem Tisch stand, die Fensterscheibe wieder ganz war oder die Ampel wieder grün. Sehen Sie, jetzt gerade hatte ich zum Beispiel einen furchtbaren Hustenanfall und Sie haben es gar nicht gemerkt.

Während der Schulzeit war das besonders praktisch. „Diese Schülerin ist schon so viel weiter als die anderen!“, schwärmten die Lehrer. Tatsächlich war ich den andern nur zehn Sekunden voraus. Immer wenn ich etwas nicht wusste, wartete ich die Antwort ab, machte sie für alle andern wieder ungesagt und meldete mich – selbstverständlich mit der richtigen Lösung. Bei Klassenarbeiten hatte ich eine ähnliche Taktik. Ich nahm einfach all die Unterlagen aus dem Unterricht mit und schlug darin nach, sobald ich mit den Aufgaben nicht weiter kam. Dass mich die Lehrer dabei erwischten war nicht schlimm – ich konnte es ja rückgängig machen.
Das Schwierigste am Leben ist seine Einmaligkeit. Dass man jede Sekunde nur ein einziges Mal erlebt. Fehler nicht wieder rückgängig machen kann.
Ich will nicht behaupten, dass ich in meinem Leben keine Fehler begangen habe, aber ich hatte für alles mehrere Anläufe. Was nicht auf Anhieb klappte, versuchte ich eben wieder. Und wieder. Und wieder. Um meinen Job beim Bundeskartellamt zu bekommen habe ich, lassen Sie mich nachdenken, fünfzehn Versuche gebraucht. Fünfzehn mal die falschen Worte.

Aber es gibt Ziele, die lassen sich nicht erreichen. Und wenn man es noch so oft versucht. Manches kann man nicht beheben. Es gibt Fehler deren Folgen erst Jahre später auffallen, zum Beispiel eine Fehldiagnose. Krankheiten, die nicht vor zehn Sekunden entstanden sind, sondern ein Leben lang wuchern und wachsen. Krebs zum Beispiel.

Tja, und nun lebe ich meine letzten zehn Sekunden. Wieder und wieder und wieder. Wer die Zeit zurückdrehen kann, hat ein leichtes Leben und einen schweren Tod.
Wer die Zeit zurückdrehen kann, hat ein leichtes Leben und einen schweren Tod.
Wer die Zeit zurückdrehen kann, hat ein leichtes Leben und einen schweren Tod.
Wer die Zeit zurückdrehen kann…


Geht das in die richtige Richtung? Wobei richtig und falsch ja wieder so absolut klingt, aber gefällt es so besser?

Tut mir Leid, dass ich was Form und Stichwort angeht im Moment noch so viele Fehler mache, bin halt noch nicht so vertraut mit den ganzen Normen.

 
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Hallo Perfektionistin,

ich find das schon viel besser, weil Du jetzt quasi den Zuhörer in die Situation mit hineinnimmst und suggerierst, er sei selbst in der Zeitschleife enthalten. Das ist ein interessanter Dreh. Wobei die Wiederholung am Ende eigentlich unlogisch ist. Ich finde auch man könnte und sollte - gerade für Poetry-Slam - die Absurdität und Komik der Situation noch verstärken. Das Potential ist in der Anlage enthalten, aber wie gesagt, so über's Knie gebrochen, ist sowas schwierig zu machen. Dafür ist das Forum hier auch ein bisschen schlecht geeignet, für solche eiligen Überarbeitungen in Echtzeit, wo man dem Autor quasi beim Schreiben über die Schulter guckt. Deshalb werden auch größere Überarbeitungen eigentlich an der Originalgeschichte vorgenommen, nicht x Vorschläge untereinandergestellt.

Tut mir Leid, dass ich was Form und Stichwort angeht im Moment noch so viele Fehler mache, bin halt noch nicht so vertraut mit den ganzen Normen.
Das ist nicht so tragisch. Wenn Du nicht so in Hektik bist, guck Dich einfach mal genauer um. Da wirst Du sehen, dass es eher um langfristiges Feilen an Texten geht, die vor dem Posten schon so ausgereift wie möglich sein sollten. So Schnellschüsse sind von der Struktur des Forums her schwierig und bringen der Schreibentwicklung auf Dauer nicht so viel.

lg,
fiz

 
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Das Schwierigste am Leben ist seine Einmaligkeit. Dass man jede Sekunde nur ein einziges Mal erlebt. Fehler nicht wieder rückgängig machen kann.

Widerspricht sich der Text hier nicht?

Sie hat fünfzehn Versuche alleine beim Heiratsantrag (oder ihr Mann, wer weiß?) gebraucht, das ist ja weder sonderlich konsequent und auch nicht einmalig.

Besser fände ich es, wenn klar werden würde, dass die Protagonistin eben durch diese Gabe diesen Sachverhalt erst gelernt hat. Diese Erkenntnis, dass es Fehler gibt, die irreversibel sind, das ist so eine Binsenweisheit, finde ich. Da müsste wirklich etwas Persönliches hin, ein Detail, und da den Fokus drauflegen, sonst klingt es arg altklug auch. "Ja, und der Krebs, und dann dies, und dann das", das ist ein Allgemeinplatz, das weiß jeder schon. Wo aber liegt das Besondere?

Naja, sonst - ist halt so eine Thema, was alle paar Jahre wieder kommt, Zeit, Zeitreisen und die Auswirkungen ... hab letztens ein englischen Film gesehen, wo es um ein ähnliches Thema ging, dann waren in der Realität nur zwei Sekunden vergangen, daran hat mich der Text erinnert.

Für ein Debüt ganz okay, wobei es für mich auch keine Kurzgeschichte in dem Sinne darstellt.

Gruss, Jimmy

PS: Der gesamte Text hat ein Logikproblem.

Außer mir selbst schien es überhaupt niemandem aufzufallen, dass ein Kuchen plötzlich wieder heil auf dem Tisch stand, die Fensterscheibe wieder ganz war oder die Ampel wieder grün. Sehen Sie, jetzt gerade hatte ich zum Beispiel einen furchtbaren Hustenanfall und Sie haben es gar nicht gemerkt.

Zeit läuft hier nicht analog. Sie dreht die Zeit zurück, und alleine durch diesen Akt verändert sich die Zukunft. Das wird aber nie passieren. Wenn sie einen Hustenanfall hat, dann wird sie den auch in zehn Sekunden haben, so oder so - sie kann nur die Auswirkungen dieses Anfalls verändern. Wenn der Kuchen herunterfällt, muss sie aktiv werden, sie muss ihn aufheben. Wenn ein Stein in eine Scheibe fliegt, muss sie den Werfer hindern, sonst ist es wie eine springende Schallplatte.

 

Danke. Ihr habt Recht, alle beide.

Ich nehme einen ausgereifteren, älteren Text. Das kommt halt dabei raus, wenn man meint in zwei Stunden, was herzaubern zu können. Manchmal klappts und manchmal nicht und heute offenbar nicht. Ich danke euch wirklich für die ehrlichen Meinungen. Besser ich erfahrs heute durch euch, als morgen durch wer weiß wen.

Viele Grüße

 

Also, ich würde beim Slam vor allem darauf achten, dass der Text gut komponiert ist. Prägnant und mit einem guten Rhythmus, einem guten Klang. Der Text hier eignet sich meineserachtens nicht so gut dafür. Vielleicht findest du auf deiner Platte sowieso einen besseren Text und räumst alles ab?

 

Den Grundgedanken finde ich richtig gut, aber bei einem Slam kann ich mir den Text nicht wirklich vorstellen. Wie hier schon angemerkt wurde, solltest du die Geschichte noch ausbauen. Man sollte mehr über die Protagonistin erfahren, zum Beispiel durch weitere Anekdoten, wie in der Schule oder beim Heiratsantrag. So wird der Spannungsbogen vielleicht etwas erweitert und das Ende erzielt einen größeren Effekt beim Leser.

 

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