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Zehn nach 10 (Remix feat. Underground)
Zehn nach 10
Herr Peters rückte seine Krawatte zurecht.
„Noch 15 Sekunden!“, klang es aus dem Knopf in seinem Ohr.
Herr Peters schaute in die Kamera und prüfte ein letztes Mal den Sitz seiner Kleidung. Als das Lämpchen rot aufleuchtete, fing er an, zu sprechen:
„Guten Abend und herzlich Willkommen bei ‚Zehn nach 10’. Unser Gesprächskreis beschäftigt sich heute mit dem Thema Prominenz und bekannt sein. Himmel oder Hölle? Dazu haben wir einige Gäste hier, die mit uns darüber debattieren werden. Unter anderem Dietmar Gohlkahn, einen bekannten Schauspieler, der sich schon seit mehr als 20 Jahren in Film und Fernsehen bewährt hat. Guten Abend, Herr Gohlkahn.“
Herr Gohlkahn, der es sich bis gerade eben auf dem Sofa gut gehen ließ, setzte sich ordentlich hin, als die Kamera ihn einfing.
„Hallo“, erwiderte er die Begrüßung.
„Herr Gohlkahn. Gerade ist Ihr neuer Film abgedreht. „Taubendreck“ heißt er und ... nun, was erwartet den Zuschauer bei einem Film mit einem derartig ungewöhnlichen Namen – wir werden gleich auch einen kleinen Ausschnitt zu sehen bekommen -?“
„Nun, es geht anderthalb Stunden nur um Taubenscheiße.“
Das Publikum lachte verhalten, gerade solange wie die Anzeige aufleuchtete.
„Nein, natürlich gibt es einen tieferen Sinn in diesem Namen. Es geht im Prinzip um Berlin. Die deutsche Hauptstadt und ihre Dunkelviertel. Menschen, wie man sie im Fernsehen selten erlebt. Behinderte, Alte, Obdachlose. Menschen, die alles verloren haben. Bilder, die erschrecken und aufrütteln sollen. Alles ohne Hand und Fuß ...“
„Gut, der Film läuft am zwölften, nee, am dreizehnten August bei Arte und wir wollen uns nun mal einen kleinen Ausschnitt ansehen. Bitte sehr.“
(Eine Kamera fährt durch viele vielbefahrene Straßen, durch Tunnels und unter Brücken hindurch. Irgendwann steigt sie auf und fährt senkrecht eine Hochhauswand hinauf, um schließlich in das Fenster einer Wohnung im 17. Stock zu blicken.)
Frau: Ich halt es nicht mehr aus. Verdammt, wie soll das weiterlaufen?
Herr Gohlkahn: Wenn es dir nicht gelingt, einen sauberen Zupfkuchen für meine Schwiegermutter zu backen, blas ich dich auf wie einen Frosch, du Schlampe!
(Die Kamera fährt durch die Küche in den Flur und dann ins Schlafzimmer der Kinder, die miteinander schlafen.)
Kind1: Oh, Schwesterchen. Du bist so gut zu mir. Warum ist so etwas nur verboten?
Kind2: Ich weiß es nicht. Komm, stoß’ fester zu! (Herr Gohlkahn kommt herein)
Herr Gohlkahn: Seid still. Eure Mutter backt Zupfkuchen! Benutzt ihr wenigstens Kondome, Kinder? Wer weiß, was da für Missgeburten herauskommen!
(Kamera fährt durch das Fenster wieder hinaus und hinunter auf die Straße)
Mann: BITTE KAUFEN SIE ROSEN! BESONDERS GÜNSTIG. ROSEN, ODER EIN STÜCK REGENWALD. ICH VERKAUFE ALLES. ROSEN, REGENWALD UND BLUTJUNGE RUSSINNEN! KEINE ÄLTER ALS 8 JAHRE. GREIFEN SIE ZU!
(Kamera fährt hinab in eine U-Bahn-Station, wo Herr Gohlkahn – diesmal als Junkie - in einer Ecke hängt)
Herr Gohlkahn(flehend): Bitte, nur eine Mark. BITTE! Ich brauche das Geld!
Frau: Einen Scheißdreck brauchst du! Penner und Junkies wie dich braucht diese Welt nicht. Verrecken sollst du wie damals die Juden! Du wärst vergast oder verbrannt gewesen, bevor du „Heil Hitler“ hättest sagen können. Das waren die goldenen Jahre.
Das Publikum brauchte etwas Zeit, um die gezeigten Szenen zu verdauen, dann kam vereinzelt Applaus, der aber rasch wieder verebbte.
Herr Peters wartete, bis auch das letzte Klatschen aufgehört hatte, dann richtete er sich wieder an seinen Gast.
„Ja, das war der Ausschnitt aus „Taubendreck“. Dietmar Gohlkahn, warum jetzt dieser Film?“
„Gut, das ist zwar nicht Thema der Sendung, aber ich ...“
„Ich frage auch nur so am Rande“, rechtfertigte sich der Moderator.
„Es ist ja gut, Herr Peters. Ich habe dieses Drehbuch gelesen und habe gedacht: Was für eine Scheiße! Und dann habe ich es noch mal gelesen und wieder das Selbe gedacht. Und deshalb habe ich auch mitgespielt, weil es in sich perfekt ist. Es ist perfekte Scheiße.“
„Herr Gohlkahn, ist das vielleicht auch etwas, womit sie sich an der ständig nörgelnden Presse rächen wollen?“, hakte Herr Peters nach.
„Nun, vielleicht. Die Presse hat viel Müll erzählt in all den Jahren. Ich hatte angeblich auch Affären mit Männern, alles diese Geschichten -“
„Und, hatten Sie?“, unterbrach Herr Peters.
„Natürlich! Ich bin Schauspieler. Jeder Schauspieler hat Sex mit dem eigenen Geschlecht. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich war da keine Ausnahme. Aber zurück zu Ihrer eigentlichen Frage. Ich habe mit diesem Film erreicht, was ich erreichen wollte. Ich wollte einmal mit der Presse einer Meinung sein. Ich habe hier eine Kritik aus der FAZ mitgebracht. Wenn ich mal einen kleinen Teil vorlesen dürfte ...“
Herr Peters machte eine zustimmende, auffordernde Kopfbewegung.
„Schön. Die FAZ schreibt hier zum Beispiel: ‚Eine ähnliche Katastrophe hat es seit Tschernobyl nicht mehr gegeben. Dieser Film ist nicht nur schlecht, er ist zum Erbrechen. Dietmar Gohlkahn stellt sich in diesem Film als das schauspielernde Modern Talking heraus. Ein peinlicheres Ende hätte seine Karriere wohl kaum haben können. Sofern es keine Fortsetzung gibt ...’ Sehen Sie, genau das ist meine Meinung. Ich habe nichts an dieser Kritik auszusetzen. Und das ist selten ... sehr selten.“
„Sie sehen also Ihre Prominenz als Kampf gegen das Unverständnis der allgemeinen Presse?“, vergewisserte Herr Peters sich.
„Ich habe keine Lust mehr, mit Ihnen zu sprechen.“
„Wie bitte?“ Herr Peters war perplex.
„...“
Herr Peters zögerte noch kurz, bevor er dann weiterfuhr:
„Nun gut, dann kommen wir zu unserem zweiten Gast. Eine Sängerin, die -“
„Sehen Sie, wie oberflächlich das alles hier ist? Sie gehen einfach darüber hinweg.“
Etwas aus dem Konzept gebracht fragte Herr Peters: „Bitte?“ Aber Herr Gohlkahn schwieg eisern.
„Gut, wo war ich? Eine Sängerin, die gerade auf dem Zenit ihrer Karriere, aber gleichzeitig auch im Kreuzfeuer der Klatschpresse steht. Guten Abend, Bronta Selitschwa, besser bekannt als Cism!“
Cism betrat den Raum und bewegte sich in aufreizendem Gang auf das Sofa zu.
„Guten Abend“, begrüßte sie Herrn Peters, nachdem sie sich gesetzt hatte.
„Cism, oder soll ich Sie Bronta nennen?“
„Mein Manager sagt, Sie sollen mich wegen der Promotion Cism nennen.“
„Gut, Cism, was bedeutet dein Name eigentlich?“
„Mein Manager sagt, dass er rückwärts gelesen MUSIC ergibt. Das stimmt, glaube ich.“
„Wenn ich mich nicht täusche ergibt er MSIC, da fehlt das U.“
„Ach?“, fragte Cism und kicherte verlegen. „Nun, vielleicht ...“
„Nun, Cism, Sie stehen ja im Moment in den Medien in keinem guten Licht da. Es wird behauptet, dass Sie weder Intelligenz noch Stimme besäßen und nur wegen Ihres Aussehens zum Popstar geworden seien. Was sagen Sie dazu?“
„Mein Manager sagt, ich soll antworten: Diese Menschen sind nur neidisch und gönnen mir den Erfolg nicht. Sie haben keinen Respekt vor der Persönlichkeit anderer.“
„Nun, vielleicht können Sie uns durch eine kleine Live-Darbietung Ihrer neuen Single wenigstens von Ihrer gesanglichen Begabung überzeugen.“
„Nein, mein Manager sagt, ich soll lieber nicht live singen ...“
„Ach. Und warum, wenn ich fragen darf?“
„Ich soll antworten, dass diese Menschen nur neidisch sind und mir den Erfolg nicht gönnen. Sie haben keinen Respekt vor der Persönlichkeit anderer.“
„Nun, das sagten Sie bereits ...“
„Ich kann auch nicht live singen!“, mischte sich Herr Gohlkahn ein.
Verwirrt über den erneuten Einsatz des Schauspielers erwiderte Herr Peters:
„Sie sind auch nicht Sänger, sondern Schauspieler, nicht wahr?“
„Mit Ihnen rede ich nicht mehr ...“, entgegnete Herr Gohlkahn schnippisch.
„Nun, Cism, Sie denken also, dass die Presse neidisch ist auf Ihren Erfolg.“
Cism bestätigte das.
„Warum glauben Sie das?“, bohrte Herr Peters.
„Vielleicht, weil ich nun schon so lange erfolgreich bin. Als vor einem halben Jahr meine erste Single „Boom boom, my heart goes boom“ erschien, waren alle noch unglaublich nett und so. Alle haben sich für mich gefreut. Aber nach der zweiten Single „When does my heart go boom again?“ fing die Presse langsam an mit dem Thema „Retorten-Star“ und so, auch wenn ich nicht weiß, was das bedeutet, na ja, und dann, nach der dritten Single „Boom“ wurde es langsam schlimm. Die Singles waren zwar immer Nummer-eins-Hits, aber in den Medien wurde ich zur Titanic, sagt man das so?“
„Nein ...“
„Na ja, und jetzt, wo ich die vierte Single „B dabbel-o M“ am Start hatte, wurde ich mit den wildesten Beleidigungen beleidigt, dass ich nicht interligent wäre und so.“
„Intelligent, aber egal. Es wird auch gesagt, dass Sie die singende Verona Feldbusch seien. Was sagen Sie dazu?“
„Mein Manager sagt, das wäre Blödsinn. Es ist nur, weil die Leute von der Presse neidisch sind und mir den Erfolg nicht gönnen. Die haben keinen Respekt vor der Persönlichkeit anderer.“
„Ihr Album steht ja auch seit Monaten in den Top-Ten, glauben Sie, dass die Kids und Jugendlichen es gerade wegen dieses Images kaufen, oder wegen Ihrem Aussehen?“
„Ich sehe gut aus, sagt mein Manager.“
„Schon, aber ist das ein Grund für die Album-Verkäufe? Es wurde ja in den Kritiken als ‚Groteskes Beispiel für den Untergang einer Kultur’ bezeichnet.“
„Mein Manager sagt, wenn ich zu viel spreche, kauft keiner mehr meine CDs ...“
„Warum sprichst du denn immer im Namen deines Managers, sprich doch mal für dich selbst!“, vergaß Herr Peters sich kurz.
Cisms Gesicht nahm einen leicht geschockten Ausdruck an. Sie wurde ganz still, bis sie leise anfing, zu weinen. „Ich halte es nicht mehr aus.“
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Herr Peters besorgt.
„Dieser fürchterliche Druck. Ich habe keine Freiheiten mehr. Immer nur sagen und tun, was der Manager sagt. Knappe Tops, Hotpants, und immer nur Playback. Und wenn ich keine Lust mehr habe, sagt man mir, dann werde ich getötet, wie all die anderen Popstars, die aussteigen wollten. Sei es Aaliyah, die zwei von Passion Fruit, Melanie Thornton oder jetzt Lisa „Left Eye“ Lopes. Es ist doch alles eine riesige Verschwörung“, brachte Cism unter Schluchzen hervor.
„Ist das ihr Ernst?“, fragte Herr Peters überrascht. „Stars, die aussteigen wollen, werden aus Angst vor Verrat des Business’ einfach getötet?“
„Natürlich. Das war schon bei Elvis so. Glauben Sie, der hat sich selbst mit Alkohol und Drogen vollgepumpt? Das waren seine Manager, er hatte keine Chance. Oder Falco, angeblich ein „Autounfall“. Nun ja, ohne Bremskabel hält sich’s halt schwer an ... Oder denken Sie an Rex Gildo, er wollte nur frische Luft schnappen, als sein Manager ihn aus dem Fenster geschubst hat. Oder 2Pac, das war auch der Manager. Und so etwas passiert nicht nur Aussteigern! Das bringt immer mal wieder frischen Wind in die Kassen. Es wird eine Greatest-Hits-Platte rausgebracht; überall Poster, Rückblicke und Specials. Das alles spült Geld für den Support neuer Künstler in die Kassen. Ich bin nur durch die Kohle, die wegen Melanie Thornton reinkam, bekannt geworden. Sie sehen, ein ewiger Kreis.“
Herr Gohlkahn brach sein Schweigen ein weiteres Mal.
„Das ist übrigens bei Schauspielern auch so. Denken Sie nur an Heinz Ehrhardt, Roy Black, oder jüngst Harald Juhnke. Der hatte schon längst mit dem Trinken aufgehört. Man hat ihn intravenös bis in den Wahnsinn vollgestopft. Es waren Höllenqualen, da muss man schließlich den Verstand verlieren!“
Herr Peters war fassungslos. „Das ist ja unglaublich. Hat man dafür Beweise?“
„Nein“, schluchzte Cism, „diese Leute sind zu geschickt! Es ist unmöglich.“
„Na dann ... Jetzt wird Cism noch schnell ihren brandneu zusammen-geklatschten Hit „Never stop my heart go Boom!“ singen ... ich meine, performen.“
Cism seufzte schwer. „Nun, es muss ja sein.“
Sie stand auf und ging auf die für solche Zwecke hergerichtete Bühne. Als sie oben stand, kamen einige halbnackte muskulöse Männer hinzu und tanzten dann zu ihrer Performance.
„BOOM BOOM BOBOBOBOOM
I like your hair,
I like your eyes
I like your style and
I like your spice
You and me will stay forever together
Please promise me that until then you will:
Never stop my heart go Boom,
Never never!
Never stop my heart go Boom,
Never never!
Pretty pretty baby, I like you to dance
But boy never ever
Stop this love romance!
BOOM BOOM BOBOBOBOOM
I like your arms
I like your legs
I like your kiss and
Your pretty *uups*
You and me will stay forever together (yeah yeah boom)
Please promise me that until then you will:
Never stop my heart go Boom,
Never never!
Never stop my heart go Boom,
Never never!
Pretty pretty baby, I like you to dance
But boy never ever (uh)
Stop this love romance! (boom boom)
It’s time to let you know what I just feel
‘cause baby yes I think you know the deal
I loved you boy since I wasn’t born
Lets mate tonight up to the break of dawn
(arrriiba!)
Never stop my heart go Boom,
Never never!
Never stop my heart go Boom,
Never never!
Pretty pretty baby, I like you to dance
But boy never ever (STOP!!)
Stop this love romance! (boom boom)
BOOOOOOOOM!!!!“
Die letzten Töne verklangen, das Publikum klatschte und Cism kam wieder in die Gesprächsrunde.
„Danke sehr, Cism. Toller Song.“
„Hat mein Manager geschrieben und komponiert. Ich soll ihn hier ganz lieb grüßen.“
„Schön, wir – meine Damen und Herren – kommen nun zu unserem nächsten Gast. Er ist uns allen bekannt als Komiker und Kabarettist. In letzter Zeit nicht ganz so beliebt wegen seiner sozialkritischen und manchmal moralisch nicht ganz einwandfreien Texte. Hier ist Olaf Kottenfrönz alias Distel!“
Das Publikum applaudierte, Distel betrat den Raum und ging auf die Bühne, auf der vorher Cism mit ihren Tanzbären performt hatte.
„Ja, hallo. Ja, danke. Klatschen Sie nicht so heftig, Sie machen nur die Leprakranken eifersüchtig ... So, also Sie haben es ja sicher gehört. Man ist mit einem Flugzeug direkt ins World Trade Center geflogen. Viele Tote und so weiter und sofort. Und sofort kommen die Medien und es geht los mit ‚Darüber macht man keine Witze, hohooo’. Ich kenne kein Thema, worüber ich keine Witze machen würde. Nichts! Ich find diesen Bin Laden gut. Wissen Sie auch, warum? Nun, er hat doch durch seinen Anschlag mindestens ein paar Tausend Arbeitsplätze geschaffen, die neu besetzt werden müssen. DANKE, Bin Laden. Weiter so. Schön wäre doch, wenn der noch mal so eine schöne große Boing in den Grand Prix d’Eurovision schicken würde, oder? Dann wären wir auch die blinde Corinna May endlich los (äfft sie nach: ) Wie? Was? Anschlag? Wo denn? KRAWUMM. Ach ja, das wär’s doch ... Und wo wir gerade von Blinden sprechen. Ich überfahre die ja so was von gerne. Nicht wahr? Am besten an der Bushaltestelle. Das ist so ... hach, bis zur letzten Sekunde am Grinsen; nichtsahnend und dann PENG! ... wieder ein Blindenhund mehr bei „Tiere suchen ein Zuhause“. Tja, so ist das ... meine Damen und Herren. Oder was anderes: Kinderschänder –“
„Äh, danke, Distel!“, unterbrach Herr Peters den Komiker. „Wir müssen hier leider abbrechen, wegen der Sendezeit. Tut mir Leid.“
Während das Publikum verhalten klatschte, setzte sich Distel an den Tisch.
„Distel, wie bist du zu diesem Namen gekommen? Vielleicht, weil sich die Leute an dir stechen sollen?“, begann Herr Peters das Gespräch mit seinem dritten Gast.
„Nein, ganz und gar nicht. Es ist so: Damals, als ich sieben oder acht Jahre alt war, da hat meine Mutti noch ein Baby bekommen. Das war so niedlich. Und ich bin dann immer, wenn ich alleine auf das Baby aufpassen sollte, mit ihm in den Wald gefahren, hab ein paar Disteln ausgerupft und sie dem Säugling über Gesicht gezogen. Der hat geschrien ... herrlich!“
„PFUI!“, kam es aus dem Publikum, einige pfiffen.
„Schnauze, sonst spiel ich hier Erfurt!“
„Distel, Sie stoßen ja in der Öffentlichkeit in letzter Zeit auf wenig Akzeptanz – man merkt es auch hier. Woran liegt das?“
„Die Leute wollen die Realität nicht sehen. Wenn ich von solchen Themen spreche, dann habe ich eine Absicht. Diese Welt, in der wir nun mal gezwungenermaßen leben, ist so wie mein Programm.“
„Aber sollte ein Comedyprogramm nicht eigentlich von der normalen Welt ablenken?“
„Nein, es soll auch Menschen aufrütteln. Täglich werden öffentlich in irgendwelchen Parks Schwarze verprügelt und manchmal auch getötet und man sieht darüber hinweg, aber wenn ich hier laut in die Kamera sage: ‚Neger sind der Abschaum der Welt. Wir brauchen einen zweiten Hitler’, dann ist morgen die Empörung in der Presse groß.“
„Das heißt, hinter Ihren Aussagen, die Sie auf der Bühne tätigen, steckt in Wirklichkeit die Absicht, Menschen auf Missstände aufmerksam zu machen?“
„Indem man Skandale inszeniert, schafft man das auch. Passen Sie auf, ich werde mir jetzt den kleinen Finger abschneiden.“
Distel legte seine Hand auf den Tisch, zückte ein Messer und trennte sich den Finger ab. Das Publikum schreckte zusammen und hielt den Atem an. Herr Peters war außer sich.
„Wir brauchen einen Arzt!“, rief er.
„Schon gut, es war nur ein Trick“, beruhigte Distel ihn und zeigte seine unverwundete Hand. „Aber sehen Sie? Nur so kann man heute noch schocken. Mit brutalsten Mitteln.“
„Mein Manager sagt, ich soll nicht dazwischen quatschen ...“, plapperte Cism dazwischen.
Herr Peters hatte sich wieder gefasst und sagte:
„Distel, danke, dass Sie uns hier zur Verfügung gestanden haben und ich glaube, wir sollten alle mal über das nachdenken, was Sie uns erzählt haben. Danke.“
„Es kotzt mich trotzdem an, hier zu sein, Wichser! Und das gehört nicht zu meinem Programm“, zischte Distel.
„Danke sehr. Herr Gohlkahn, Sie als Schauspieler, was halten Sie von aggressiver Comedy?“
„Ich rede kein Wort mit ihnen. Nicht ein einziges. Man muss als Schauspieler exzentrisch sein!“
„Gut, Cism, was hältst du – soweit du etwas von dem Gesagten verstehst – von dieser Art von Comedy?“
„Ich soll sagen, dass diese Menschen nur neidisch sind und mir den Erfolg nicht gönnen. Die haben keinen Respekt vor der Persönlichkeit anderer.“
„Das ist wohl Ihre Lieblingsantwort, nicht wahr?“, fragte Herr Peters.
„Los, Leute, kauft mein Album. Es ist SPITZE! Arrriba!“
Herr Peters wandte sich wieder an die Kamera.
„Als vierten Gast in unserer Runde begrüße ich nun die Medienpsychologin Anette Willmann, Guten Abend.“
„Guten Abend“, antwortete Frau Willmann, nachdem sie sich gesetzt hatte.
„Sie als Medienpsychologin beschäftigen sich also mit der Psyche bekannter Persönlichkeiten?“
„FALSCH! GANZ FALSCH! Uiuiui, TOTAL DANEBEN. Ich frage mich in meinem Beruf, was muss man tun, um als Star ganz oben zu stehen!“, widersprach Frau Willmann energisch.
Herr Peters fragte interessiert: „Und, was ist das?“
„Nun, man muss die höchste Leiter haben. Hahahaha. Nein, im Ernst: Dieser Job „Öffentlichkeit“ ist hart. Man verändert sich mit der Zeit zum floskelfaselnden Psychopathen.“
„Cism, kannst du das bestätigen?“, wandte sich Herr Peters an die Sängerin.
„Mein Manager sagt, ich bin immer noch genau so, wie am Anfang meiner Karriere.“
Distel sagte unvermittlet: „Die alte Fotze würde jetzt bestimmt gerne auf meinem steifen Glied sitzen! WOW, Schockeffekt!“
Frau Willmann nickte Herrn Peters zu:
„Da sehen Sie es. Mit der Zeit versuchen sich die Stars aneinander hochzuschaukeln. Jeder will der beste sein und um jeden Preis auffallen.“
„Ich sehe gut aus, sagt mein Manager.“
„Zeig' mir deine Titten!“
„Herr Gohlkahn, so etwas von Ihnen?“, fragte Herr Peters entrüstet.
„Mit Ihnen rede ich nicht. Ich bin exzentrisch ...“
„Das kannst du haben!“, sagte Cism und zog sich ihr Top aus.
„Moment mal!“, rief Herr Peters verzweifelt.
„Da haben wir es. So ist es immer. Bald wird es ein totales Chaos“, sagte Frau Willmann zufrieden.
„Ich ficke Kinder und Tiere!“
„DAS GEHT ZU WEIT DISTEL, RAUS AUS DEM STUDIO!“
„Sehen Sie, Herr Peters, jetzt wollen Sie selbst auch auffallen, weil Sie so laut geworden sind. Klarer Fall -“
„Aber ich will doch nur Ordnung schaffen ...“
„Zwecklos, wir sind gefangen im Kreis der sensationsgeilen Medienlandschaft.“
„Mein Manager sagt, noch eine Single und dann ist Schluss. Ich hab mir einen schönen Edelholzsarg ausgesucht!“
„Schauen Sie auf mich!“, rief Herr Gohlkahn und stach sich mit einem spitzen Bleistift tief ins Ohr.
„WAS ZUR HÖLLE TUN SIE DA?!“
„Bleiben Sie ruhig, Herr Peters, so etwas bringt Quote!“
„Was macht ein Jude, der auf dem Dach neben einem Schornstein steht? Er wartet auf seine Familie! HA, ein Brüller!“
„Ich hasse mein verdammtes Leben als Star! Ich will jemand anders sein! ICH STEIGE ZU DEN ENGELN AUF!“ Cism zückte eine Pistole und erschoss sich, das Blut spritzte nach allen Seiten. Herr Gohlkahn sackte auf dem Sofa zusammen, aus seinem Ohr floss ebenfalls Blut.
„Regie, was soll ich tun?“
„Dranbleiben, so viele Zuschauer hatten wir noch nie!“
„Sehen Sie, das ist das Erfolgsrezept im neuen Jahrtausend! Ich wette, ich kriege noch eine Million Zuschauer mehr“, sagte Frau Willmann überzeugt. Dann zückte sie eine Waffe und zielte auf Distel.
„So wollte ich immer sterben. SATAN, ICH KOMME ZU DIR!“
„AUFHÖREN!“
„Nein, das ist, was man heute will, Mann! Ha, eine Zote über meinen Namen und noch schnell ein anzüglicher Kommentar: Ich habe einen Vibrator in meiner Vagina! UND ENDE!“ Sie erschoss Distel und danach sich selbst.
Das Publikum begann zu lachen und applaudierte, schließlich gab es sogar Standing Ovations.
Herr Peters sprach wieder in die Kamera:
„Nun, meine Damen und Herren, dieses heute behandelte Thema war sicherlich etwas heikel. Aber schließlich ist Fernsehen da, um Grenzen zu überschreiten und eine solche ist heute überschritten worden. Unsere Sendezeit ist nun leider um, ich darf Ihnen die von unserem Sender gesponserte Greatest-Hits-CD „The last Boom“ von Cism noch ans Herz legen, die nächste Woche erscheint und ansonsten möchte ich mich nun von Ihnen verabschieden. Das war Zehn nach 10 für diesen Monat. Bis zum nächsten Mal, Ihr Hans Peters. Oder, um mit Nina Ruges ironischen Worten zu sprechen: Alles wird gut ...“