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Zarter Mondschein
Wovon Marie erwachte, konnte sie nicht sagen. Nur ein Gefühl irgendwie, eine Ahnung. Sie drehte sich in ihrer warmen Flanellbettwäsche um, kuschelte sich tief in die neuen, frischbezogenen Kissen und dämmerte wieder in einen erholsamen Schlaf... um einige Sekunden später vom schrillen Geräusch der Türklingel hochzuschrecken.
Wer konnte das sein? Beunruhigt lag sie still, horchend. Sie wartete angespannt darauf, dass der Unbekannte ein weiteres Mal läuten würde, hoffend, sie habe sich getäuscht, panisch zusammenzuckend, als es erneut schrillte.
Ach Schatz, mach dir keine Sorgen um mich, ich komm schon zurecht. Schade, dass du nicht einmal ein paar Tage hier bleiben kannst...
Starr lag sie im Bett. Die Telefonanlage war noch nicht installiert, aber wo war ihr Handy? Der Gedanke, jetzt aufstehen zu müssen, in diesem fremden Haus nach dem Mobiltelefon zu suchen, war ihr unangenehm. Und wenn sie einfach durch den Türspion schauen würde? Rasch überlegte sie: die Tür war verschlossen, die Sicherheitskette vorgehängt. Eigentlich konnte ihr nichts passieren. Sie versuchte, sich Mut zu machen, nannte sich im Stillen einen verdammten Feigling. Durch den Briefschlitz quetscht sich keiner durch...
Komm schon Gerhard, was soll schon passieren! Ich bin eine erwachsene Frau, und du kannst ja nicht einfach wegen mir dein Meeting in England platzen lassen...Ich bin doch so stolz auf dich, du wolltest diesen Posten, hast so viele Jahre darauf warten müssen...
Vorsichtig, so leise wie möglich schlug sie die Bettdecke zurück, hörte nur ihr eigenes Herz in einem schnellen Rhythmus. Sie hatte Angst. Wer zur Hölle läutet mitten in der Nacht an einer fremden Haustüre? Diebe, die das Haus noch für leerstehend hielten? Ein Betrunkener? Obdachlose? Oder ein paar Halbstarke auf dem Rückweg von der Disko?
Die gnadenlose Stille der Nacht lag wie eine mordlustige Raubkatze auf der Lauer.
Zitternd, nicht nur von der spätherbstlichen Kälte, setzte sie einen Fuß auf den alten Perserteppich vor ihrem Bett, spürte die vertrauen Muster aus Rot- und Brauntönen auf ihrer Sohle. Gerhard hatte dieses Erbstück beim Umzug wegwerfen wollen, aber sie hatte lautstark protestiert und darauf bestanden, ihn in ihr neues Heim mitzunehmen.
Damit wenigstes etwas in dieser neuen Stadt mich an zuhause erinnert.
Versunken war sie einige Sekunden ihrer Erinnerung nachgegangen, ein leises Klopfen an der Türe ließ sie heftig zusammenschrecken. In panischer Angst warf sie sich erneut auf das Bett, zog die Decke bis zum Kinn hoch, wie von Schüttelfrost gebeutelt, die Augen aufgerissen. Die schmale Mondsichel warf ein paar silbrige Strahlen durch die halboffenen Jalousien. Sie getraute sich nicht, zum Lichtschalter neben der Tür zu gehen. Mit aufgerissenen Augen starrte sie in Richtung des Eingangs, fürchtete jede Sekunde, dass plötzlich jemand ... Warum hatte sie nur ihr Handy nicht hier? Gerhards Nummer konnte sie selbst im Schlaf, er würde schon wissen, was sie tun sollte... Das Mobiltelefon lag friedlich auf dem Esstisch einen Stock tiefer.
Überlegen, Marie, überlegen... sie versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken, keiner richtig fassbar, alle real.
Nein, komm, wir machen uns wenigstes noch ein paar schöne Stunden, ich richte das morgen schon... lass uns noch ein wenig spazieren gehen. Der Park ist so wunderschön mit seinen alten Trauerweiden und den zugewachsenen Wegen.
Stöhnend schloss sie die Augen, als ihr das Fenster in der Küche einfiel.
Der Rahmen war zersplittert, es hing nur noch schief in den Angeln. (Aber das merkt doch niemand, kommen Sie, das ist ja auch leicht auszutauschen...Scheiß Makler, verdammter!)
Nein, komm, wir machen uns wenigstes noch ein paar schöne Stunden, ich richte das morgen schon...
Oh nein! Bitte nicht! Bitte...
Sie fing an, stumm zu einem Gott zu flehen, den sie seit ihrer Kindheit vergessen hatte, den sie geleugnet und der...
Ein dumpfes Knirschen im unteren Stockwerk.
Ein eisiger Schauer lief ihr über den vom kalten Schweiß bedeckten Rücken. Vorsichtige Schritte auf der alten Mahagonitreppe. Unfähig, sich zu bewegen, wie hypnotisiert, stierte sie auf die gegenüberliegende Wand.
Das darf nicht sein, bitte nicht, bitte...
Ein Schatten im Türrahmen, von Dunkelheit umgeben. Gelähmt schaut sie zu, wie er im zarten Mondenschein das Zimmer betritt. Näher, immer näher...
Unfähig, einen Laut von sich zu geben, die Stimmbänder bleiben zugenäht. Der Schemen steht direkt vor ihrem Bett!
Langsam zieht er die schützende Decke zurück. Unhaltbare Stille.
Leise: „Marie, Schatz, bist Du noch wach?“