Zarte Gefühle
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet, und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlußlichter rasch kleiner wurden. In schneller Folge paffte er drei weitere Zigaretten. Der Wind kramte in den Papierkörben, und riß eine Brötchentüte heraus, die nur locker oben auflag. Es war das einzige Geräusch, was in dem menschenleeren Bahnhof zu hören war. Es war weit nach Mitternacht. In den nächsten Stunden würden keine Züge fahren. Der Mann saß immer noch so da, hatte sich kaum gerührt. Jetzt kam es ihm ins Bewußtsein, denn er merkte das heftige Kribbeln in seinem rechten Bein. Er fing ganz vorsichtig an sich zu räkelte. Erst setzte er sich abwechselnd auf die linke Gesäßhälfte, dann auf die rechte. Nun stand er vorsichtig auf, und schüttelte seine müden Knochen durch. Sein Rücken schmerzte ihm. Hatte er doch lange Zeit nur so da gesessen. Er vermochte nicht zu beziffern wie lange es gewesen war. Marcus machte sich auf den Weg, um die Bahnhofshalle zu verlassen. Sein Weg sollte nach Hause führen. Der Tag war lang und anstrengend gewesen. Als er aus der Halle heraus kam entlud sich ein heftiges Spät sommerliches Gewitter. Der Regen schlug Blasen auf dem Asphalt. Das Wasser drehte sich im Gulli, drehte sich im Kreis und verschwand. Wieder war er ganz in Gedanken. Seine Freundin, die zehn Jahre jünger war als er hatte ihm gestanden, von ihm schwanger zu sein. Die Nachricht hatte ihn aus heitrem Himmel getroffen. Sie hatten schon oft und lange über das Thema Kinder diskutiert. Er wollte keine. Nicht mit Heike, und auch mit keiner anderen Frau. Sie hatte ihn einfach überrumpelt, einfach die Pille abgesetzt, ohne sein Wissen. Die Biologische Uhr würde ticken, hatte Heike ihm immer wieder gesagt.
„Ich bin schwanger, in der vierundzwanzigsten Woche“, hatte sie berichtet, als sie in den Zug eingestiegen war. Sie hatte ihn angestrahlt, war leichtfüßig eingestiegen. Dann war sie in ihr Abteil gegangen, um dort noch einmal das Fenster zu öffnen. „Marcus“, hatte sie gesagt, „ich freue mich so auf das Baby, stell dir vor, es hätte genau deine braunen, warmen Augen und das Grübchen an der rechten Wange. Wäre das nicht wunderbar“?
Noch lange würden diese Worte in seinem Gehör bleiben. Als der Zug los fuhr hatte Heike noch gewunken. Doch er konnte nicht reagieren, seine Arme nicht hochbekommen. Nun würden sie sich vierzehn Tage lang nicht sehen. Sie wohnte in Hamburg, er in Köln. Sie hatten sich fürs erste zu einer Wochenendbeziehung entschieden. Heike war Medizinstudentin in Hamburg. Sie wollte das angefangene Semester dort noch zu Ende machen. Ob Heike an der Kölner Uni einen Platz kriegen würde wußten sie noch nicht. Wollte er es jetzt überhaupt noch?
Er hatte es weit gebracht. Mit vierzig leitender Angestellter bei einer Versicherung. Er besaß eine kleine Eigentumswohnung in der Kölner Innenstadt. Im Achtzehnten Stock hatte er durch das Panorama Fenster einen phantastischen Blick über die Stadt. Er fuhr einen schnittigen Sportwagen. Er war doch glücklich gewesen. Warum mußte Heike nun alles kaputt machen mit einem Kind. Sie müßten dann auf so vieles verzichten. War es das Wert? Er wußte es nicht. Marcus zog seinen Autoschlüssel aus seiner Hosentasche, und ging langsam zum Parkplatz. Die Nässe patschte unter seinen Füßen. Ein kühler Wind wehte um die Ecke. Marcus fror einen Moment. Als er das Auto aufschloß war noch die Hitze vom Nachmittag zu spüren. Er setzte sich hinter das Steuer, öffnete das Fenster, um die verbrauchte Luft heraus zu lassen. Marcus startete den Wagen und fuhr nach Hause. In wenigen Stunden mußte er schon wieder an seinem Arbeitsplatz sein. Einen wichtigen Termin hatte er gleich um neun Uhr, den durfte nicht verpassen.
„Stell dir vor, das Kind hätte Deine braunen, warmen Augen und das Grübchen an der rechten Wange“, erinnerte er sich. Ein kleines Lächeln war auf seinem Gesicht zu sehen. Er versuchte sich ein Leben mit einem Kind vorzustellen. Bei der Annahme wurde Marcus ganz warm ums Herz. Eine angenehme Wärme fühlte er in sich aufsteigen. In der Ferne ging die Sonne auf. Zarte Strahlen durchdrangen den aufsteigenden Nebel. Ein neuer Tag, und ein neues Leben begann.