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Zartbitter
Ich lag im Bett und versuchte zu träumen, aber es gelang nicht. Durch die Plattenwand hörte ich meinen Nachbarn hämmern. Das Pochen raubte mir den Schlaf, klang wie ein fremder Herzschlag und verfolgte mich in die Untiefen eines Traumes, in dem ein übergroßes Herz schlug und auf mich herabzufallen drohte.
Es war die Enge in meiner Brust, die mich aufschrecken ließ.
Ich musste etwas tun.
Fünf Minuten später war ich vor der Tür meines Nachbarn, klopfte gegen das Hämmern an und bemerkte erst dann, dass ich nicht alleine war. Die Röte schoss mir ins Gesicht, aber der Mann schien sie nicht zu bemerken. Gegen meinen Willen lächelte ich und er lächelte zurück.
»Kannst nicht schlafen?«
Ich nickte.
»Das geht jetzt schon seit Stunden so.«
Wieder nickte ich.
»Wenn er nicht bald aufhört, hole ich die Polizei.«
Nicken.
»Kannst du nicht sprechen?«
Ich nickte, dann schüttelte ich den Kopf, dann nickte ich.
»Doch«, sagte ich.
»Ich bin Nils. Du wohnst auch nebenan, oder? Auf der anderen Seite?«
Ich nickte.
Er nickte.
Wir schwiegen.
Hinter der Tür hämmerte das Herz.
In meiner Brust hämmerte meines.
»Ich bin Jana.«
Ein Lächeln, eine ausgestreckte Hand, meine Hand in seiner, Wärme und Zigarettenrauch. Ich glaube, es war seine Hand, der ich zuerst vertraute. Eine weiche Hand ohne Schwielen, sie erzählte von Büroarbeit und Sicherheit.
»Du wohnst noch nicht lange hier, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ich hab Baileys und Milch. Wenn du möchtest - damit kann man besser schlafen.«
Tief in jedem Menschen gibt es das Eine. Den Zauber, den jeder Mensch hütet wie ein Geheimnis. Das Etwas, das jede Handlung bestimmt. Wenn man es betrachtet, kann man es mit dem eigenen Geheimnis vergleichen, und sehen, ob sie zusammenpassen. Sag mir, was du trinkst, und ich sag dir, ob ich dir vertraue.
Und so lernte ich Nils kennen.
Ein paar Kilometer von meiner Wohnung gab es ein verlassenes Theater. Viele Abende verbrachte ich alleine auf der Bühne und inszenierte mich selbst. An einem Tag war ich Julia, dann Iphigenie, doch am liebsten spielte ich Kassandra.
Ich glaube, jeder Mensch hat eine Rolle, die ihn prägt. Eine Rolle, die passt.
Meine war die der Kassandra.
Das Problem mit Nils war, dass er das Theater nicht mochte. Er sah die Farbe, die nach all den Jahren abblätterte, sah das verfallene Foyer, die morschen Dielen und die eingeworfenen Fenster.
Ich dagegen sah das Grün der Wände, es war matt, und die Leisten hatte man mit goldener Farbe verziert, sah die Große Treppe zur Empore, sah die tausend Füße, unter denen sie sich schon gebogen hatte.
Nils sah nicht, dass ich das Theater liebte.
Nils sah so vieles nicht.
Als ich ihm das Theater zeigte, betrachtete er die Fassade und ich betrachtete ihn, suchte nach Gesten, nach Spuren. Die Falten in seiner Stirn formulierten eine Frage und ich beantwortete sie, bevor sie seinen Mund erreichte.
»Es fällt nicht zusammen. Es hat schon viel überstanden, es wird dich auch überleben.«
Ich lächelte, er lächelte, ich fühlte mich elend. Ich zweifelte. Es war falsch, an diesen Ort zu gehen. Nils war falsch hier. Er war fremd. Ich wünschte mir Panzer, Granaten, Tränengas, einen kleinen Dolch in der Hand – mitten ins Herz. Der Ort ist mein Tempel, ich bin Göttin, Priesterin und Bettlerin zugleich. Und manchmal bin ich Wächterin.
»Hier treibst du dich also rum, ja?«
Ich nickte.
»Zeigst du mir, wie es innen aussieht?«
Wir gingen durchs Foyer, ich drückte seine Finger, hielt mich fest. Fühlte mich wie ein Kind, mein Onkel besuchte mich und wollte mein Zimmer sehen. Da waren meine Puppen, meine Pferde, rosa Ponys. Dem Hund fehlte ein Bein, aber wenn er richtig saß, dann sah man es nicht und über meinem Bett hatte Mama Leuchtsterne an die Decke geklebt.
Auf dem Weg zur Bühne durchquerten wir einen Vorhang aus Licht, der durch Löcher in der Decke fiel.
Mein Prinz wird mich dort küssen, auf der Bühne, vor allen Leuten im Saal wird er zu mir stehen und ich werde in seinen Armen liegen wie die Prinzessin im Märchen, und wenn wir nicht gestorben sind, dann leben wir noch heute. Ein Kindheitstraum.
»Weißt du, was die hier gespielt haben?«
»Märchen«, antwortete ich und schüttelte den Kopf. »Ich meine: Viel Klassisches. Hab ein altes Programmheft gefunden.«
Er stand am Aufgang zur Bühne und reichte mir die Hand. Ich zögerte. Würde er als erster gehen oder würde er mir den Vortritt lassen?
Manche Dinge muss man in der richtigen Reihenfolge machen. Eine Freundin hat mir beigebracht, falls ich einen Kuchen backe, erst das Mehl mit dem Backpulver zu mischen, bevor ich es mit den Eiern verrühre. Mehl und Backpulver mischen sich besser ohne Ei. Sonst gibt es Klumpen, Knoten, Verunreinigungen, Flecken im Kuchenteig, die man nur mit viel Arbeit wieder herausbekommt. Oder nie.
Den letzten Schritt machten wir gemeinsam, der Knoten in meinem Herzen verschwand. Eine Sekunde und zwei Füße betraten die Bretter, die meine Welt bedeuteten. Ehrfurcht machte sich breit, Lampenfieber vor einem Publikum aus Stühlen und herabgefallenem Putz.
Er sah mich an, feierlich, hielt meine Hand.
»Komm schon.«
In der Mitte der Bühne wandte er sich mir zu, und ich sah einen kleinen Jungen vor mir, mit großen Zähnen und Sommersprossen.
Zwei weitere Hände berührten sich. Wir wussten nicht, welches Auge wir an unserem Gegenüber betrachten sollten und bald schon konnte ich seinen Atem spüren, fühlte, wie sich alles in mir sehnte.
Der Augenblick war richtig.
Wir beide wussten es.
Im Theater haben die Schauspieler Stichworte, die sie lernen müssen, damit sie wissen, wann sie dran sind. Früher, als es noch keine Kopierer gab und Papier und Tinte teuer waren, bekam jeder nur den Text seiner eigenen Figur und die Stichworte, auf die er achten musste. Erst beim Zusammenspiel kam man dahinter, worum es in dem Stück ging.
Es war, als hätten wir unsere Stichworte vergessen.
Die Stühle tuschelten schon, das Stück hing. Gab es keinen Souffleur, keinen schwitzenden Regisseur hinter der Bühne, der die nötigen Wörter hervorpresste?
Ich fühlte, wie uns der Moment entglitt. Und er ließ sich quälend lange Zeit damit. Schweiß trennte unsere Hände.
»Was kann man … hier noch sehen?« Er rang um diese Worte. Es waren die falschen. Ich ließ seine Hände los, fühlte mich verloren.
»Ist nicht so wichtig«, antwortete ich, sah zu Boden, sah die Dreiecke, die unsere Füße bildeten, ein kleines und ein großes und dachte, dass alles falsch war, elend, ich wünschte, er wäre nicht hier, wünschte, wir wären nie hergekommen. Ich hasste mich dafür, dass ich das getan hatte.
Die Dielen verschwammen vor meinen Augen.
»He, warte!«, rief er mir noch nach.
Ich warte schon mein Leben lang.
Das Mädchen weint. Da sind meine Puppen, meine Pferde, rosa Ponys. Der Hund hat nur ein Bein, aber wenn man ihn richtig hinsetzt, dann fällt es nicht auf. Der Onkel ist weg, aber er hat Schokolade dagelassen. Zartbitter.