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Zahltag

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31.01.2002
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Und so kam ich zu spät, wieder einmal. Fast hatte ich den Eindruck, mein Leben spielte nur in der Vergangenheit oder der Zukunft, nie jedoch in der Gegenwart. Denn überall, wo ich war, war ich falsch.
Der Mann am Schalter nahm es nicht persönlich.
„Es tut mir leid“, stammelte ich, während ich hektisch in meiner Tasche nach den Unterlagen kramte. Ein Sammelsurium aus Papier, Tabakkrümeln, Lippgloss, drei oder vier Stifte, davon ein schwarzer Kugelschreiber, der lange, adrige Linien auf meine Handfläche zeichnete.

Die Jalousie ratterte herunter. Kurz bevor sie schloss, hielt sie an, und ich könnte wetten, ich sah den Schaltermann, wie er sich durch den kleinen Spalt zwängte, ein winziges Biedermännchen mit steingrauen Polyesterhosen und einem wild gemusterten Grobstrickpullover, der ob seiner Hässlichkeit in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, vielleicht um das 500-Fache vergrößert die Bezeichnung Kunst verdient hätte.
„Morgen ab sieben!“ krächzte Small Jim.
„Ja ja“, murmelte ich und schlug ihn mit der Handfläche platt, nein, das tat ich nicht.

Warum, fragte ich mich immer und immer wieder, warum fielen mir die einfachsten Dinge, die allen anderen Menschen anscheinend keine Mühe zu bereiten schienen, so schwer? Wieso brauchte ich all meine Kraft, um Steuern zu zahlen, Wäsche zu waschen, etwas zu kochen, die Inhalte waren austauschbar. Das Einzige, was ich wirklich gut konnte, war rumsitzen und in die Gegend starren.
„Das ist doch kein Beruf!“ hatten mir alle gesagt, alle, wie sie da standen, der Chor der sozialisierten Nervensägen, die den Kanon der Allgemeingültigkeit sangen.
„Jaja“, hatte ich gemurmelt. „Singt ihr nur.“ Und ich bemühte mich wirklich, aufzustehen und meinem Leben einen gemeinhin akzeptablen Sinn zu verleihen, doch ehe ich mich versah, saß ich wieder und starrte in die Gegend.

Und die Gegend gab allerhand her. Hektische kleine Menschen, wenn ich auf einer Dachterrasse saß, die die Größe der bekannten Ameisen annahmen, man hätte sie auch mit Erbrochenem vergleichen können, aber das wäre billige Effekthascherei gewesen. Große, fette, wuchtige Menschen, wenn ich in einem Straßencafé saß, schreiende Kinder, lachende Kinder, belehrende Mütter, Hupen, Geräusche, überall Geräusche, Hydraulikbremsen, Motoren, die uns, die Herrscher der Welt, vom berühmten A, was für Anfang, nach B, was für Bielefeld, Belanglos oder Beinahe stand, transportierten.

Sobald ich sitzen konnte, ging es mir besser. Das war schon immer so gewesen. Als Kind saß ich im Sandkasten, auf dem Rasen, auf Schaukeln, in Planschbecken, es gibt zahlreiche Dokumentationen dessen. Als Teenager saß ich auf Treppen, Motorrädern, Umzugskisten, Caféhausstühlen, Plüschsesseln, Steinmauern, Boxen, Matratzen, auch das haben mehrere Menschen in Form von abzugsfähigen Negativen festgehalten. Mein Lieblingsbild ist allerdings der Strandsitz, da war ich etwas älter, etwa 25. Da sitze ich auf einem Stück Ex-Vulkan am Strand von Langweilig, aber war nett. Ich sehe so entspannt aus, und wenn ich das Foto richtig deute, starre ich hinaus aufs Meer und das scheint sehr zufrieden zu machen.

Machen, machen, immer nur machen. Käme die Welt zum Stillstand, täte ich einfach nichts mehr? Ich denke nicht. Irgendjemand würde mich als gelähmt deklarieren und mich in einem Rollstuhl durch die Gegend schieben. Das wäre mir auch recht. Mir ist es nämlich egal, ob ich mich bewege oder nicht, solange ich nur sitzen und sehen kann.

„Morgen um sieben!“ krächzte das Männchen erneut und ja, ich weiß, ich muss nicken, damit du weißt, dass ich zugehört habe. Ich nickte. So lief das immer bei mir. Jemand musste nur insistieren und irgendwann nickte ich, und dann waren sie alle beruhigt, nur ich musste wieder etwas machen, was ich nicht wollte.

Die Schalterhalle leerte sich langsam, und ich überlegte, ob ich hier nicht einfach auf der Holzbank sitzen bleiben sollte, bis morgen früh um sieben, das würde mir eine Menge Rennerei ersparen. Ich könnte mich ganz flach hinlegen, niemand würde mich sehen, wie ich mich in meinen schlammfarbenen Klamotten in das dunkle Holz presste, am besten mit dem Gesicht nach unten, so würden meine dunkelbraunen Haare genau in den Braunton der Bank übergehen, das perfekte Mimikry. Ich könnte schlafen, einfach auf dem Gesicht liegen und schlafen, niemand würde mich bemerken, vielleicht die Putzkolonne, weil sie die Bank nicht abwischen konnten, aber die würden sich denken: "Wieder so eine arme Sau, lassen wir sie schlafen, hat ja sonst nichts."

Das Holz fühlte sich kalt und klebrig auf meiner Wange an, und ich fragte mich, ob das wirklich eine gute Idee sei. Aber das kannte ich schon, auch im Liegen war ich nicht schlecht. Bald hätte es sich erwärmt, so auf Hauttemperatur, dann würde ich anfangen zu schwitzen, dann würde das Holz feucht werden und meine Wange begänne zu betteln „Nimm mich hoch, ich brauche Luft!“, aber das würde ich ignorieren, weil ich hier liegen bleiben musste, regungslos, bis morgen um sieben, um endlich dieses beschissene Geld einzuzahlen.

Etwas berührte mich und ich rechnete so fest mit der Hand eines Wachmanns, dass ich die feuchte Zunge, die rau im schnellen Rhythmus über meine Hand glitt, überhaupt nicht zuordnen konnte. Jemand leckte meine Hand, das war ja pervers, und er atmete schwer, stank aus dem Mund, schlechte Zähne, Zahnstein, magenkrank? Jeder andere hätte sofort kapiert, dass es ein Hund war, aber ich wagte nicht die Augen zu öffnen, weil ich sicher war, dass mich der Anblick des fetten, sabbernden Wachmanns, der meine Hand ableckte, auf der Stelle umgebracht hätte.
„Rufus!“ rief ein Bass und ich horchte auf. Was für ein schöner Bass, hatte etwas kratzendes, ein leichtes Timbre. Also nahm ich sogar den sabbernden Wachmann in Kauf, der jetzt zu einem Hecheln übergegangen war, hoffentlich masturbierte er nicht, nein, nicht hier in der Halle. Ich stützte mich auf. Da stand der Rufus-Sager, direkt vor mir. Und ich war verliebt.

„Rufus“, rief der unrasierte Halbhaariglange, rief das olivgrüne T-Shirt, das hervorragend zu meinen Schlammklamotten passte. „Hey, unsere Klamotten passen echt gut zusammen!“ wollte ich sagen, aber ich verkniff es mir, denn aus unglücklichen Erfahrungen wusste ich, dass solche Äußerungen leicht als der Wahnsinn verstanden wurden, der tatsächlich in meinem Kopf herrschte.
„Wir wollen ja niemand in die Flucht schlagen“, lächelte ich stattdessen, mehr zu mir als zu irgendjemand anderem, was im übrigen genauso wenig Sinn machte, es sei denn, ich sprach von mir im Pluralis Majestatis, etwas vermessen, ich weiß, soll aber vorkommen. Das alles kurz bevor mich die Hundezunge mitten ins Gesicht traf. Warm weich pilzig glitt sie über meine Nase, dann über meine Wange, und wäre der üble Maulgeruch nicht gewesen, hätte ich mich vielleicht auch in den Hund verliebt. Wie süß, ich war in einem Disney-Film.

Der Bass lachte, nicht so bassig, wie ich erwartet hatte, aber auch nicht superpeinlich.
„Hähä“, lachte ich und wischte mir mit dem Ärmel die nasse Hundespucke aus dem Gesicht.
„Rufus war in seinem vorherigen Leben Schlagersänger“, sagte Nimmmichmit. Und das erklärte einiges.
„Ich liebe dich!“ dachte ich zu ihm und er nickte.
„Ich muss eingeschlafen sein“, log ich, blickte ihm nicht in die Augen, sollte mich nicht von Anfang an für die Lügnerin halten, die ich war. Er sah nach links, nach rechts, dann auf seinen Hund, nach links, nach oben, dann direkt in meine Augen. Wow!
„Hör mal“, erklärte das, was ich in meiner romantischen Stimmung, die mich augenblicklich überkam, kurzerhand als Liebe meines Lebens bezeichnete. „Willst du...“
Er holte tief Luft und das fand ich hinreißend, da streckte sich die Brust nach vorn, und nein, ich bin keine Sexistin, die Männer nur als Objekt betrachtet, auch wenn mir das mal jemand vorgeworfen hat, aber der hatte in diesem Tag nichts zu suchen. Ich mag das nur, wie sich so eine Männerbrust nach vorn bläht, ein ganzer Abhang, unter dem ich mich verstecken kann, wenn es mal regnet.
„Klar!“ sagte ich und sprang seit langem voller Elan auf, eigentlich das erste Mal, soweit ich mich erinnern konnte. Es spielte keine Rolle, was er vorschlug, ich würde alles mitmachen, vom Capuccino bis hin zur Hochzeit in Las Vegas.
„Hochzeit in Las Vegas?“ fragte ich so leise, dass er es nicht verstehen konnte.
Er lächelte und nannte sich David, was ich sehr lustig fand, warum weiß ich nicht und deshalb auch nicht laut lachte.
„Na dann...“, sagte David.
„Na dann...“, sagte ich und ich hatte meinen Namen vergessen. Was aber nichts machte. Er sagte, er könne warten, bis er mir wieder einfiele.
Gemeinsam schritten wir in den Sonnenuntergang, direkt durch die große Flügeltür des Finanzamtes. Das war wirklich sehr romantisch. Und das erste Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass ich genau richtig war.

So wie es ist, ist es gut, dachte ich. Das war ein schönes Gefühl. Ich würde alles geben.

(oder doch in die Rubrik Romantik???)

 

Hallo Endorphina!

Wie schön, dass sie am Schluss doch noch richtig war, gerade weil sie zu spät kam. Deine Protagonistin ist ja ziemlich eigen, und vielleicht auch gerade deswegen so liebenswert. Geschrieben mit ein bisschen Situationskomik und Ironie, mir hat der Text ganz gut gefallen. Und ich denken, dass der Text durchaus hier in Alltag stehebleiben darf :)

Meine Lieblingsstellen:

Jemand leckte meine Hand, das war ja pervers, und er atmete schwer, stank aus dem Mund, schlechte Zähne, Zahnstein, magenkrank?
Warm weich pilzig glitt sie über meine Nase, dann über meine Wange, und wäre der üble Maulgeruch nicht gewesen, hätte ich mich vielleicht auch in den Hund verliebt. Wie süß, ich war in einem Disney-Film.
:)

schöne Grüße, Anne

 

Hi Endorphina,

schöne Geschichte, außer ein paar Rächtschreipfähler kaum was zu kritisieren daran...

Ein kleiner, wahrscheinlich unbeabsichtigter Perspektivwechsel vielleicht:
"Jeder andere hätte sofort kapiert, dass es ein Hund war,..."
Die Geschichte ist aus der Sicht der Ich-Protagonistin erzählt, und die hat gerade die Augen zu. Deswegen weiß sie nicht, dass es ein Hund ist. So wie du es schreibst, ist es ein Vorgriff. Besser fände ich, wenn es erst ein paar Sätze später klar werden würde.

Die Ich-Erzählerin erinnert mich an einen völlig nutzlosen, ständig blau anlaufenden Riesen, den Martin Walser in einer seiner Lügengeschichten verkaufen wollte. (Die Geschichte heißt "Mein Riesen-Problem" und ist in dem Band "Lügengeschichten" bei Suhrkamp als Taschenbuch erschienen. Vielleicht mal lesen?)

Grüße,
dein leixoletti

 

Hallo Endorphina,
ein sehr schöner, philosophischer Text, der mich in hohem Maße berührt hat und auch ein sehr aktueller. Was du bei deiner Protagonistin so herrlich als vorhandenen Zustand beschreibst, versuche ich mühsam durch Meditation zu erlangen: in der Gegenwart zu leben, im Hier und Jetzt und sich nicht durch die Gedanken verrückt machen lassen, was gewesen ist oder sein könnte. Natürlich muss man sich dazu gegen die allgemeine Haltung stellen, die auf Aktion und Lärm und nicht auf Ruhe und Stille eingestellt ist.
An großen „Kleinigkeiten“ ist mir nichts aufgefallen, was mich jetzt direkt aus der Bahn des Lesens gerissen hätte und an „Beckmesserei“ liegt mir nichts.
Herzliche Grüße!
Eberhard

 

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