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Young-Jun Kims Identität
Young-Jun Kims Identität
Ich besitze Young-Jun Kims Identität, obwohl ich nicht Young-Jun Kim bin.
Das heißt, eigentlich besitze ich ihre Identität nicht wirklich, sondern nur ihre Identität, was ihre E-mails betrifft, und auch hier teile ich sie mir nur.
Es war wirklich einfach Zugang zu ihrem E-mail Konto zu bekommen. Nach dem ersten Versuch war ich drin. Ich gab einfach den Namen ihres Sohnes als Kennwort ein.
Vor vier Monaten fing ich für Youngs Firma, Sung-Gong Consulting Ltd., zu arbeiten an. Young war gerade dabei Sung-Gong aufzubauen, und die Firma sollte ausländischen Unternehmen dabei helfen Niederlassungen in Seoul zu eröffnen. Eigentlich ein solides Geschäftskonzept, wie ich dachte. Ich arbeitete drei mal die Woche als Youngs Sekretärin, und das Gehalt lag im oberen Bereich für diese Art von Arbeit. Auch empfand ich es als sehr angenehm für eine andere Frau zu arbeiten, und das Arbeitsklima mit Young, die nur knapp zehn Jahre älter als ich ist, war sehr locker. Deshalb, und auch weil dieser Job für mich eine gute Chance darstellte, nach meinem Studium für eine große Unternehmensberatung arbeiten zu können, beschwerte ich mich wahrscheinlich auch nicht, als mein Gehalt ausblieb.
Im ersten Monat fragte mich Young, ob sie die Gehaltszahlung nicht auf den nächsten Monat verschieben könnte. Ich willigte ein, da ich nicht als inflexibel erscheinen wollte. Als ich dann nach zwei Monaten immer noch nicht bezahlt wurde, fragte ich sie dann doch. Young entschuldigte sich bei mir, und versicherte mir, dass sie sich so schnell wie möglich darum kümmern würde.
Letztendlich bezahlte sie mich aber nie.
Eigentlich gab es schon früh zeichen, dass man Young womöglich nicht ganz vertrauen könnte. Einmal fragte mich Young, was ich von spiritueller Reinigung halte. Die Frage überraschte mich ein wenig, und sagte ihr, dass ich dazu keine besondere Meinung hätte. Dann schlug sie vor, dass wir zusammen zu einem Guru gehen, und uns spirituell reinigen lassen. Somit wäre unser Karma gestärkt, und die Firma würde erfolgreich werden. Ich lehnte dankend ab.
Nach und nach bestätigte sich durch Einblick in die Firmenakten auch der Verdacht, dass Young Investitionen in die Firma unterschlug. Young steckte noch in einem Scheidungsprozess, und um das Sorgerecht für ihren Sohn zu bekommen fing sie an, ihn fast jeden Tag zu ihrem Guru zu bringen, um ihr Karma zu stärken. Wahrscheinlich floss dort auch das ganze Geld hin.
Young erschien mir immer weniger vertrauenswürdig, und eigentlich verrückt. Nach drei Monaten hörte ich einfach zu arbeiten auf, und forderte meine Bezahlung. Wieder entschuldigte sie sich bei mir, und versprach mir, dass sie das Geld bis Ende der Woche überweisen werde. Bis Ende der Woche hatte Sung-Gong Konkurs angemeldet, und das Büro war geschlossen. Young war nicht mehr erreichbar. Ihre Telefonnummern hatte sie wahrscheinlich geändert. Ich schickte ihr mehrere E-mails, doch sie meldete sich nie zurück.
Schließlich hatte ich dann die Idee mich in ihr E-mail Konto einzuloggen. Wie sich herausstellte war sie vor den Investoren, die sie betrogen hatte, auf der Flucht. Außerdem fand ich eine Bestätigungs-e-mail für die Bestellung eines Vibrators, in dem ihre neue Adresse angegeben war. Sie war zurück nach Korea gezogen. Mit hämischem Grinsen leitete ich die E-mail an die Adressen aller Investoren weiter, und löschte dann ihren gesamten Posteingang.
Ich überlegte auch ob ich Youngs Kennwort ändern sollte, und ich musste dann an Youngs Sohn denken. Aus einer der E-mails war hervorgegangen, dass sie jetzt das Sorgerecht für ihn hatte. Er tat mir wirklich leid. Ich weiß nicht genau warum, aber im Grunde tat mir Young auch leid. Ich fühlte mich wegen meiner Racheaktion richtig schlecht. Es brachte sowieso nichts; mein Geld würde ich nie bekommen. In gewisser Weise war ich auch selbst daran Schuld.
Alles erschien mir so sinnlos.