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Xenias Entscheidung
„Xenia!! Schläfst du schon?“ Xenia öffnet ihre Augen. Sie taucht auf und sieht sich um. Im Wald ist es schon seit langem dunkel geworden. Die Vögel schlafen in ihren Nestern. Der Regen hat sich etwas gelegt. „Hast du mich gerufen?“ fragt sie nun Kryrias, den silbernen Hirsch. Er steht am Flussufer und sieht Xenia erwartungsvoll an. Xenia, die Wächterin des Flusses verlässt den Fluss und betritt mit ihren nackten Füssen den ihr vertrauten Waldboden. Ihr weisses Kleid schimmert in dem sonderbar hellen Mondlicht. Sie schaut gen Himmel. Kryrias steht nun neben ihr. „Es ist soweit.“ hört sie seine Stimme sagen. „Ich weiss.“ sagt sie.
Zusammen gehen sie dem verlorenen Pfad entlang auf die grosse Lichtung des Waldes zu, wo der fremde Reiter bereits wartet. Xenia ist froh um Kyrias’ Anwesenheit. Sein silbernes Fell leuchtet in der Dunkelheit angenehm hell und weist beiden den Weg.
Schon manche menschliche Seele hat sich auf diesem Pfad in der unendlichen Traurigkeit verloren, die aufgrund eines Fluchs über dem Wald lastet. Sterbliche, so die Sage, sollten niemals den verlorenen Pfad aufsuchen, denn zu schwer sei die Last auf dem Herzen, die dich befällt und deine Seele langsam und unter schmerzhaften Qualen auffrisst.
„Ich wusste, dass du kommen würdest, Xenia.“ Der Reiter steigt von seinem Ross herunter und zieht seine schwarzen Handschuhe aus. Xenia ist ein wenig aufgeregt, denn sie weiss nicht genau, was ihr jetzt blüht.
Luna, die Tochter des Mondes hatte dem Wald vor genau 20 Jahren ein Geschenk gemacht: Xenia, Tochter und Wächterin des Flusses. Von Wasser nährt sie sich, im Wasser lebt sie tags, wach ist sie des Nachts. Wenn sie wach ist, singt sie mit dem Fluss einsame Lieder. Manchmal, wenn es regnet, verlässt sie den Fluss und geht durch den Wald. Den Tieren, die nachts nicht schlafen können, erzählt sie Geschichten. Sie singt in der Sprache der Vögel, der Füchse, der Murmeltiere und in allen anderen Sprachen der Waldtiere. Alle Lebewesen des Waldes lieben sie, wissen um die Wichtigkeit dieses Geschöpfes. Sie wissen auch um die Gefahr, die dieses Geschöpf umgibt. Zwar für die Tiere besteht keine Gefahr, dafür um so mehr für die menschlichen sterblichen Geschöpfe. Manchmal ist es vorgekommen, dass sich mutige Männer des Nachts bis in das Gebiet des Flusses trauten. Dann, als sie Xenia vor ihren Augen hatten, wurden sie ihres Verstandes beraubt. Denn Xenia ist schöner, als man sich zu träumen wagt. Sie ist das schönste Wesen auf dieser Erde. Die Männer spielten verrückt, kämpften um ihr Bewusstsein, ihren Verstand, ihre Seele. Nur wenige behielten alle Sinne beieinander und umgarnten Xenia wie Sklaven. Worum sie nicht wussten, war Xenias grosse Einsamkeit. Sie machten Liebe mit ihr, wofür sie aber schlussendlich doch ihre Seele bezahlten, denn Xenia sog ihnen somit die Seele aus dem Körper. Niemand kehrte aus dem Wald zurück. Die Körperhüllen der verlorenen Seelen liegen auf dem Grund des Flusses.
Nun, nach 20 Jahren, war die Zeit gekommen, wo Xenia sich entscheiden musste, ob sie unsterblich weiterleben wollte, dafür bliebe ihre Einsamkeit erhalten oder aber sterblich irgendwo geboren werden wollte. Nur wäre sie dann, wie alle anderen Engelskinder mongolid. Xenia wusste, dass mongoliden Kindern in der Welt da draussen vielleicht nicht genügend Beachtung und Liebe geschenkt wird. Sie hat sich für das Leben entschieden.
„Du kannst gehen Kryrias.“ Der Reiter zeigt auf Xenias besten Freund, der sich nun wortlos mit glitzernden Tränen und einem traurigen Blick von der Wächterin des Flusses für immer verabschiedet. Nachdem Kryrias die Lichtung verlassen hat, geht der Reiter auf Xenia zu und formt ihre Hände zu einer Schale. „Du sollst das Licht des Mondes mitnehmen. Es wird, solange du lebst in dir scheinen, so dass du den Lebensmut nicht verlieren wirst.“ Nun wird es dunkel am Himmel. Der Mond hat sein silbernes Licht verloren. Xenia hält nun eine silberne Flüssigkeit in den Händen. Das Mondlicht. „Du darfst aber erst von hier weg, wenn du deinem Zuhause, dem Fluss, einen Namen gegeben hast.“ Sie sieht den Reiter nachdenklich an, malt sich aus was mit ihr alles passieren wird. Hoffentlich wird sie nicht so einsam sein, wie bisher. Hoffentlich wird ihr Leben nicht so schwer sein, wie die Einsamkeit bisher. Sie atmet tief ein, schaut in die Flüssigkeit in ihren Händen, sieht die Sterne am Himmel, die sich darin spiegeln. Sie wird es schaffen, sie weiss es. Sie sieht den Reiter an und sagt: „Zeit.“ Nachdem sie dem Fluss seinen Namen gegeben hat, hebt sie die Hände hoch und lässt die Flüssigkeit auf sich ergiessen. Langsam löst sie sich in Luft auf und verschwindet.
Jedes mongolide Kind soll, Gerüchten zufolge, bereits einige Zeit vor seiner Geburt gelebt haben. Jedes in seiner eigenen Sphäre. Schau einem solchen Kind in die Augen und du wirst sehen, wie aus diesem Kind ein Licht herausscheint, und wie dieses Kind das Leben geniesst, mehr als wir, wir die uns selbst normal nennen.