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Xd-35
"Das Wasser schmeckt zum kotzen."
Felix richtete gedankenverloren den Blick auf seinen Partner. - "Ich habs aus der Leitung.", sagte er beiläufig.
Edgar schleuderte die noch fast volle Plastikflasche in den Mülleimer und wischte sich mit übertriebener Sorgfalt den Mund an seinem Hemdärmel ab.
"Kannst du mir das nicht vorher sagen?", keifte er fast.
Felix stand von dem ungemütlichen Plastikstuhl auf und schlenderte gelangweilt auf sein Gegenüber zu.
"Zieh dir doch einen Kaffee aus dem Automaten, wenns dir lieber ist.", hauchte er Edgar spöttisch ins Gesicht. - "Ich habe andere Probleme als deine Getränkeansprüche. Was, wenn der Typ nicht mit der Konfrontation zurecht kommt? Immerhin ist er schon länger als zehn Jahre hier drin."
Edgar warf einen verstohlenen Blick auf die Maschine. Er hätte sterben können für einen richtigen Espresso. Bei dem Gedanken an die braune Einheitsbrühe allerdings, die er tatsächlich zu erwarten hatte wenn er ein fünfzig Cent Stück in den Münzschlitz warf, kam es ihm doch vernünftiger vor weiterhin durstig zu bleiben. - "Wird schon klappen.", entgegnete er knapp.
Irgendwo hinten schlug eine Tür zu. Die beiden Männer drehten sich beinahe zeitgleich in die Richtung der Quelle des Geräusches um. Eine Putzfrau schlich müde mit ihrem Reinigungswagen den Korridor entlang.
"Falscher Alarm.", sagte Felix enttäuscht. "Wahrscheinlich warten wir noch bis morgen früh hier, bis diese zickige Empfangstussi ihren Bestätigungsschein abgeholt hat."
"Also mir gefällts hier. So richtig schön deprimierend; da bekommt man doch richtig Lust drauf selber verrückt zu werden." - Zynische Bemerkungen wie diese waren bei Edgar immer ein Anzeichen dafür, dass es nicht mehr lange dauerte bis er seine ohnehin schon knappe Geduld verlor und so richtig unausstehlich wurde. Am besten hielt man sich dann ganz weit entfernt von ihm auf.
So weit wollte Felix es keinesfalls kommen lassen. Er ging auf den Tresen zu und hämmerte mit aller Gewalt auf die kleine Messingglocke ein. - "Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!", untermauerte er den schrillen Ton in lautstark nörgelnder Weise in die Richtung der halb geöffneten Bürotür.
Dann war es wieder still.
"Was sagt man dazu? Diese Kuh antwortet noch nichteinmal." - Felix fuhr sich mit einer Hand durch sein langes dunkles Haar.
Er wirkte wie einer der Computeragenten aus dem Film 'Matrix'. Schwarzer Anzug, schwarze Krawatte, in Kontrast zueinander gebracht durch das weiße Hemd. Dazu ein kantiges, unsymphatisches Gesicht. Nur die Sonnenbrille fehlte noch, um die Imitation komplett zu machen.
Edgar bot ein ähnliches Bild dar, allerdings war er etwas dicker und breiter gebaut als sein Partner. Die beiden Regierungsbeamten sahen in dem schwachen Kunstlicht des altmodischen Deckenstrahlers beinahe genauso unwirklich wie verschwörerisch aus. Unauffällige Kleidung hatte die Agentur abgeschafft, da man sich inzwischen dem Umstand bewusst geworden war, dass diese ohnehin keinen Unterschied machte.
Die Leute sahen lediglich die Dinge, die sie sehen wollten.
"Sie können jetzt gleich runter gehen. Der Herr Direktor wird sofort hier sein." - Die tiefe Stimme der Empfangsdame riss die zwei wartenden Männer aus ihrer resignierten Geduldsamkeit, welche unmittelbar davor stand in einen tiefen, stimmungsumschlagenden Abgrund zu stürzen und ließ sie zudem noch kurz aufschrecken.
"Das ging aber schnell.", bemerkte Edgar gehässig, während er sich die kaum vorhandenen Falten von der Hose zu klopfen versuchte.
Felix war nur erleichtert darüber, dass der vermeintliche Wutausbruch seines Kollegens in letzter Sekunde doch noch abgewendet worden war und lächelte der älteren Frau aufrichtig entgegen. - "Danke.", sagte er beruhigt.
Es dauerte nur wenige weitere Augenblicke, bis sich die Fahrstuhltür im Eingangsbreich öffnete und ein untersetzter Mann mittleren Alters auf sie zutrat.
Der Direktor hatte einen gestutzten Oberlippenbart der an den Seiten in kleine, gezwirbelte Kreise überging und er stank selbst auf die Entfernung von fast fünf Metern zu ihnen bereits auf das abscheulichste nach billigem Rasierwasser, gepaart mit einem undefinierbaren Körpergeruch, der wohl von seiner fettig glänzenden Haut ausging. Er sah mit seinem runden Bauch aus wie eine klischeehafte Erscheinung eines altertümlichen Bierbrauers. Allerdings trug er anstatt einer Schürze einen dicken Wollpullover mit Halskragen, der zu allem Überfluss auch noch in einem dunklen Lila die Augen beleidigte.
Felix tauschte einen kurzen Blick mit seinem Partner aus, welcher darauf schließen ließ, dass die beiden vermutlich das gleiche von dieser Person dachten.
"Guten Abend die Herren. Direktor Stabemann.", stellte er sich knapp vor und reichte ihnen zur Begrüßung die Hand.
"Es tut mir sehr leid, dass Sie sich solange gedulden mussten, aber es kommt nicht oft vor, dass Menschen wie Patient XD-35 Besuch bekommen. Erst recht nicht von solch hoher Stelle. Da verstehen Sie sicher, dass ich zuvor sämtliche Unterlagen auf ihre Richtigkeit hin überprüfen musste." - Seine Stimme zitterte während er sprach und es war ihm deutlich anzumerken, dass ihm das Erscheinen der beiden Beamten überhaupt nicht passte; es ihm gar unbehaglich war.
"Schon gut.", bemerkte Edgar, "Wenn wir dann jetzt aber bitte nach unten gehen könnten." - Sein harscher Tonfall machte klar, dass er nicht die geringste Lust verspürte weitere Höflichkeitsfloskeln miteinander auszutauschen und diese Sache so schnell wie möglich erledigt haben wollte.
Stabemann kratzte sich nervös am Ohr. - "Also gut, der Lift fährt nicht bis in die untersten Stockwerke. Wir müssen die Treppe nehmen. Wenn Sie mir bitte folgen möchten.", sagte er dann und vollführte eine ausschweifende Handbewegung in die Richtung einer mächtigen Doppelstahltür, während er bereits losgegangen war und die beiden hinter sich anführte. Er zog ein Portemonnaie aus seiner Hosentasche und hielt es vor ein kleines Plastikfeld etwas abseits der zwei wuchtigen Türen. Vermutlich hatte er eine Chipkarte darin, denn fast gleichzeitig schwangen die beiden beinahe meterdicken Hälften majestätisch auseinander und eine monotone Frauenstimme erklang aus irgendeinem unsichtbaren Lautsprecher.
"Hallo Herr Direktor. Sie betreten den Bereich der Sicherheitsstufe A. Bitte beachten Sie die vorgeschriebenen Vorsichtsmaßnahmen und quittieren Sie Ihren zeitlichen Aufenthalt. Vielen Dank!"
Sie begaben sich in ein schmales Treppenhaus, dessen Stufen von einer weiteren Tür blockiert wurden. Erst als sich der Durchgang hinter ihnen wieder geschlossen hatte, gab ein unscheinbares Kunststoffkästchen an der Wand einen pfeifenden Signalton von sich und eine grüne Leuchtdiode blinkte auf, begleitet von dem Geräusch des Schlosses, das aus seiner Verriegelung schnappte.
"Wir haben nur ein paar Sekunden. Beeilen Sie sich.", befahl Stabemann während er die Tür öffnete. Die beiden Agenten folgten ihm.
Als sie die ersten paar Stufen hinter sich gebracht hatten, schlug die Tür gewaltvoll zurück ins Schloss.
"Wehe dem, der träge ist.", scherzte Felix in den Nacken des Direktors, der die Bemerkung kommentarlos im Raum stehen ließ und somit jede weitere zwanghafte Bemühung um Humor von vorneherein im Keim erstickte.
"Sie wissen hoffentlich, dass es für einen Mann meiner Position nicht ohne Risiko ist, Sie zu einer XD Person zu führen. Ich könnte mir eine Menge Ärger einhandeln, selbst wenn Ihre Formulare in Ordnung sind."
Natürlich wussten die Beiden das, aber es kümmerte sie im Grunde nicht weiter.
Das Treppenhaus erstreckte sich weitaus tiefer in den Untergrund, als sie gedacht hatten und etwas beunruhigt stellte Felix fest, das die vorhin noch kalten, von sterilen Neonröhren beschienenen Wände die aussahen wie in einem Hochsicherheitstrakt (um den es sich ja eigentlich auch handelte), mit wachsenden Abstand zum Erdgeschoss hin immer primitiver wurden. Der breite Gang durch den die Treppe führte schien sich immer mehr in die Enge zu ziehen ; die Wände wurden bei jedem Meter den sie zurücklegten schmaler und unebener; das weiße Licht der Neonstangen wich dem schwachen Schein von vereinzelt an der Decke montierten Glühbirnen und schließlich konnte man fast glauben sich in einem alten Kohlenschacht zu befinden.
Was ihn aber noch viel mehr beunruhigte war, dass auch die Stufen von dieser Metamorphose nicht verschont blieben. Die ursprüngliche Steintreppe hatte sich in eine abenteuerliche Kletterpartie über feuchtes und - vorallem - morsches Holz verwandelt, bei der jeder unvorsichtige Schritt in ein jähes Ende führen konnte. Zudem war es plötzlich kalt geworden; sehr kalt.
Edgar hingegen schien dies alles nicht sonderlich zu beeindrucken, oder aber er ließ es sich nicht anmerken. Wie ein ferngesteuerter Roboter schritt er hinter den zweien her; gerade schnell genug um nicht den Anschluss zu verlieren, und sagte kein Wort.
Ein wenig irritiert über die plötzliche Agonie seines Partners, der noch wenige Minuten zuvor kurz davor gestanden hatte mit den Nerven durchzugehen, drehte sich Felix - in der Hoffnung vielleicht doch noch irgendeine Regung in Edgars Gesicht entdecken zu können - ein weiteres Mal zu ihm um; und verpasste in dem flüchtigen Moment seiner Unachtsamkeit die nächste Stufe.
Er fiel abrupt nach vorne, schlug dabei wie ein verrückt gewordener Primat mit den Armen um sich und bekam schließlich - kurz bevor er endgültig mit wahrscheinlich tödlichen Folgen in die Tiefe stürzte - Stabemanns lilanen Rollkragen zu fassen.
Der Direktor hielt sich mit aller Kraft an dem brüchigen Geländer fest und stieß ein knappes "Ohh!" aus.
Doch es gelang ihm seine Hand energisch genug um das hölzerne Gestänge zu klammern und bewahrte so Felix und sich selbst in aller letzter Sekunde vor dem aus der Dunkelheit emporklaffenden Abgrund, dessen Ende sich nicht einmal erahnen ließ.
"Nun passen Sie doch auf wo Sie hintreten! Sie bringen uns noch beide um!", schrie Stabemann hysterisch und noch bevor Felix aufgebracht erwidern konnte, dass der Direktor sich gefälligst um die Instandhaltung seiner Klinik selbst zu kümmern habe, sah er es.
Seine Finger zerrten in erstarrter Panik noch immer an dem rauhen Kragen seines Pullovers, wodurch Stabemanns nackter Oberkörper zum Vorschein kam.
Besser gesagt das, was unter normalen Umständen ein Oberkörper hätte sein sollen.
Vor lauter Entsetzen ließ Felix von seinem Gegenüber ab, und diesesmal nutzte ihm auch die Primaten-Nummer nichts mehr.
Er fiel nicht ganz so tief wie er befürchtet hatte. Dennoch brach er sich an der letzten Stufe das Genick.
***
Der alte Mann betrachtete seine Fingerkuppen. Sie waren schmutzig.
Eine Fliege lief eilig über seine Hand. Er verscheuchte sie mit einem kurzen Schütteln.
Seine Augen wanderten jetzt über das blaue Hemd, das er trug. Es war ebenfalls schmutzig, aber hier war keine Fliege.
XD-35.
Er hatte sich schon oft gefragt, wofür dieses Kürzel stehen könnte.
Der Mann atmete tief ein und genoss die Stille, die in dem kleinen Raum herrschte. Nur das eifrige Insekt summte leise vor sich hin.
Heute Mittag war ihm das Gemüse mit Nudeln gereicht worden. Morgen würde es Kartoffelpüree oder Reis geben, dazu mageres Fleisch.
Durst!
Er hätte gerne etwas getrunken, aber das Glas war bereits leer. Seit mindestens einer halben Stunde. Schlechter Service war keine Seltenheit hier unten. Oder war er gar oben?
Die Bediensteten waren bloß an manchen Tagen freundlich zu ihm; Florian mochte er, aber Sebastian trat meist gehässig auf. Er spuckte oft in die Sauce und dann musste er die Beilagen trocken essen.
Speichel übertrug Keime und Krankheiten. Solche Risiken wollte er keinesfalls eingehen.
Dann lieber den Gaumen auf bessere Zeiten vertrösten.
Wieviel Zeit wohl schon vergangen war? Er dachte darüber nach wie eintönig ein solcher Raum werden konnte, wenn man sich niemals irgendwoanders aufhielt. Er ärgerte sich darüber, dass er seine Schlüssel verloren hatte und jetzt nicht mehr hier raus konnte.
Er war schon ziemlich einsam. Die Fliege hatte sich zu ihm gesellen wollen und plötzlich tat es ihm leid sie verscheucht zu haben.
Jemand klingelte. Zweimal. Wahrscheinlich Sebastian.
"Sie wissen doch, dass ich meinen Wohnungsschlüssel nicht mehr habe!", rief der alte Mann unmotiviert der Tür entgegen.
"Kommen Sie ans Fenster...komm doch einfach ans Fenster, Sebastian.", fügte er dann noch ganz leise, fast aphatisch hinzu.
Von einem schabenden Geräusch begleitet wurde von außen ein kleines Holztäfelchen zur Seite geschoben, welches nicht sehr viel höher als ein Briefkastenschlitz war und das normalerweise eigentlich nur geöffnet wurde wenn es etwas zu essen gab.
"Da ist Besuch für dich, StrangeMan!"- Die Person am anderen Ende war nicht Sebastian.
Stabemann.
Der Direktor kam persönlich hierher.
Der Alte stand von seinem Stuhl auf, gerade als die Fliege wieder zum Landeanflug ansetzen wollte.
"Euer Durchlaucht. Bitte verzeiht mir meine Unwissenheit. Was führt Euch zu mir und wen habt Ihr mir denn da mitgebracht? Eure Gattin vielleicht?" - Der Mann mit dem blauen Hemd, an dem in kleinen Drucklettern das Kürzel "XD-35" aufgenäht worden war, sprach vollkommen emotionslos. Er benötigte keine Gefühle mehr in seinem Leben.
Ein kurzes Schweigen ließ die bizzare Situation zu einer seltsamen Momentaufnahme verschmelzen. Ein altes schwarz-weiss Bild; für den außenstehenden Betrachter nicht mehr als eine kalte, regungslose Szenerie längst vergangener Zeiten, mit der irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung ist.
"Hier sind zwei Herren, die dich sprechen möchten.", erwiderte Stabemann dann.
Der Alte ließ sich wieder auf das harte Plastik der einzigen Sitzgelegenheit in dem muffigen Raum fallen und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.
Dann schloss er für einen Moment seine Augen. Es sah aus als wäre er eingeschlafen. Als er sie wieder öffnete hatte sich etwas undefinierbares über sein Gesicht gelegt. Seine ohnehin schon schwache Mimik, das kaum vorhandene Muskelspiel seines verbrauchten Antlitzes, schien auf unerklärliche Weise von einem unsichtbaren Schatten umhüllt zu sein. Einem Schatten den man bloß spüren, nicht aber sehen konnte.
"Oh doch sicher! Felix und Edgar, wenn ich mich nicht irre. Wie geht es Ihrem Nacken Felix? Wissen Sie, sich das Genick zu brechen ist keine Schande. Die besten Menschen verunglücken in Anbetracht der dämlichst erscheinendsten Banalitäten. Wussten Sie eigentlich, dass Hitler gar keinen Selbstmord begangen hat? Der Schuss hat sich einfach so gelöst. Aus heiterem Himmel sozusagen!"- Diesesmal lachte der Mann. Er vollführte das nichtssagendste und sterilste Lachen, dass Felix jemals gehört hatte und er war in seinem Beruf schon mit sehr vielen - oftmals grausamen - Dingen konfrontiert worden.
Man konnte ihn durchaus in vielerlei Hinsicht als abgehärtet bezeichnen. Jetzt aber begann er leicht zu zittern.
Er wandte seinen Blick zu Edgar, der sich inzwischen ein wenig gefangen hatte und auf dem Weg von der Treppe bis hierher sogar wieder ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte.
Er zuckte bloß mit den Schultern und starrte fragend zurück.
Stabemann hingegen hüpfte wie ein nervöses Kind von einem Bein auf dem anderen herum und rieb sich seine klatschnassen Hände aneinander. Er nuschelte wie im Fieberwahn irgendwelche Wörter in seinen Schnäuzer und für einen Augenblick glaubte Felix so etwas wie "StrangeMan kommt die Kinder holen..." herauszuhören. Verwundert hätte ihn jetzt allerdings überhaupt nichts mehr.
Ihr Gegner war diesesmal weitaus gefährlicher und uneinschätzbarer, als es alle ihre bisherigen Widersacher zusammen genommen gewesen waren und Edgar hatte die Bedrohung schlichtweg unterschätzt. Sein Geist war bereits in die Fänge des alten Mannes geraten und der junge Agent war sich alles andere als sicher, ob er heute Abend auf seinen Partner zählen konnte. Dabei brauchte er dessen Hilfe jetzt mehr denn je und er dachte für den Bruchteil einer Sekunde ernsthaft darüber nach, ob er die Mission nicht besser abbrechen sollte.
"Euer Durchlaucht! Geht es Euch nicht gut?" - Felix fuhr zusammen.
Die Stimme fand ihren Ursprung jetzt direkt hinter dem schmalen Einlass. Nur noch wenige Zentimeter trennten ihn und den Inhaftierten voneinander, den er bislang aus rein bürokratischer Sicht bloß als das "Subjekt XD-35" bezeichnet hatte. Mit einenmal wusste er, dass wer oder was sich auch immer hinter dieser Wand befand mehr darstellte als tausend gedruckte Wörter auf weißem Papier, das sich zu Aktenbergen angestapelt hat.
Das wahre Böse ließ sich nicht in Buchstabenfolgen erzählen und erst recht nicht auf Regierungsberichte beschränken.
Es war ganz einfach da; egal wie gut man dachte darauf vorbereitet zu sein und für wie durchorganisiert man sich auch immer halten mochte. Es überraschte einen, erwischte einen knallhart an der kalten Schulter; weil es sämtliche Rationalität innerhalb eines Augenzwinkerns außer Kraft setzen konnte, sofern ihm daran gelegen war.
Edgar trat einen Schritt von der Zelle zurück und wurde besorgniserregend blass.
In der Luft lag jetzt etwas, was schwer zu beschreiben war.
'Purer Wahnsinn', schoss es Felix durch den Kopf und er konnte die gewohnten albtraumhaften Bilder vor seinen Augen aufblitzen sehen. Allerdings tausendfach intensiver als sie es sonst waren.
Stabemann sprang indess wie ein Verrückter hin und her, während er sich in die Hände klatschte und diesesmal allzu verständliche Absonderlichkeiten in den Korridor sang.
Wenn Felix jetzt nicht handelte, dann würde er nie mehr handeln.
Unter größten Anstrengungen verdrängte er die Illusionen; bemühte sich krampfhaft darum vertraute Szenen in seine Konzentration zu zerren.
Ein Besuch bei McDonalds - Es roch nach totem Fleisch und draußen versank die Sonne in einem Meer aus Blut.
Seine Freundin, seit zwei Jahren teilten sie sich ein Bett - Das Schlafzimmer brannte und Viola vollführte einen merkwürdig kultischen Tanz, während sie über der Matratze schwebte.
Zwischendurch immer wieder das kalte Lachen des alten Mannes, der mit einer Wucht durch seinen Verstand zappte, als würde er sämtliche weltweiten Fernsehsender im Sekundentakt durchlaufen.
Felix konnte seine Beine kaum noch spüren, sie schmolzen unter ihm weg. Nicht in der Vorstellung, sondern leibhaftig und die beiden Münder auf der Brust des Direktors mischten sich in das groteske apokalyptische Loblied ein, welches aus seinem Mund drang.
"Öffnen Sie die Tür!", der Agent wurde in einen dunklen Strudel gezogen. Stabemanns Blick war längst der ihn umgebenden Welt entrückt.
"Er manipuliert sie! Öffnen Sie die Tür. Jetzt!" - Felix stieß sich mit aller Gewalt von dem drehenden Boden ab, der inzwischen aussah wie kochender Schokoladenpudding unter Bearbeitung eines auf die höchste Stufe gestellten Handrührgerätes.
Er landete unsanft, aber nicht hart und rollte sich ab.
Stabemann näherte sich indess dem Strudel, während er immer mehr der geistigen Umnachtung von "XD-35" zum Opfer fiel. Ein wahres Orchester dämonischer Fratzen und abstoßender Münder überlagerte inzwischen fast seine gesamte Bauchdecke und die verstörende Klassik uralter Kultgesänge verwandelte den kalten Korridor in eine von Lärm erfüllte Opernhalle der ohrenbetäubenden Grausamkeiten.
Eine unsichtbare Hand griff nach den Füßen des Agenten, während dieser sich verzweifelt an ein morsches Heizungsrohr klammerte. Die Wucht mit der die Hölle nach ihm zerrte übertraf alles was er in seiner bisherigen Laufbahn als Dämonenjäger kennengelernt hatte und der seelische Schleier des morbiden schien sich durch sämtliche Synapsen seines Hirnes zu schlängeln.
Edgar stand noch immer reglos da und betrachtete die aus den Fugen geratene Situation ohne die geringste erkennbare Gefühlsregung.
In einem letzten Akt der Hoffnungslosigkeit unternahm Felix den Versuch sich näher an das gebogene Metall heranzuziehen. Es lief alles schief und er wagte noch nichteinmal daran zu denken, diesen Abend irgendwie überleben zu können. Im Angesicht seiner blanken Panik allerdings durfte er keine Möglichkeit außer Acht lassen; wenn die Chancen auch noch so schlecht standen - alles war besser als auf Ewig in diesem Schlund zu verschwinden.
Eine Schraube löste sich und flog klirrend ab. Das Rohr wurde zunehmends schräger und verlor an Halt. Ein paar Zentimeter näherte er sich der Wand.
Das alles aufsaugende schwarze Loch im Boden breitete sich aus, Stabemann versank lachend und tanzend in der Ewigkeit; der Gesang setzte sich dennoch fort. Nicht akkustisch, sondern auf einer tiefen Ebene des menschlichen Ur-Bewusstseins.
Ein zweiter Bolzen schoss an Felix vorbei. Er konzentrierte alle seine Kräfte ausschließlich auf seine antrainierte Armmuskulatur und zog weiter.
Zentimeter für Zentimeter näherte er sich der Wand und dem damit verbundenen Seitengang des Flures, der in Richtung der Treppe führte.
"Komm zu mir. Komm in meine Welt! Es ist gar nicht so schlimm hier. Alles eine Frage der Ansicht. Wir diskutieren viel, natürlich unterscheiden sich unsere Meinungen recht häufig." - Der alte Mann sprach nicht mehr, er dachte; dachte für Felix.
Dieser ließ das Rohr los noch bevor es endgültig brach und gab sich der allumfassenden Ohmacht hin.
***
Sie hatten das Radio ausgeschaltet.
"Seltsamer Mensch, dieser Stabemann.", bemerkte Felix beiläufig, während er in seinen Cheeseburger biss.
"Ich würde gerne wissen, weshalb uns die Agentur ständig zu solchen Idioten schickt. Unser Motto ist schließlich ein anderes. Von wegen man sieht die Welt nicht so wie sie ist. Weisst du noch dieser Typ der davon überzeugt war, dass in seinem Keller böse Leute diskutieren würden?" - Bei dem letzten Teil des Satzes bildete der junge Agent mit seinen Fingern zwei Anführungszeichen in der Luft.
Edgar richtete seinen Blick starr auf die verregnete Fahrbahn. Es war kurz nach halb zehn und die Straßen waren relativ leer. Dennoch legte er seine volle Konzentration auf den kaum vorhandenen Verkehr.
Nachdem Felix seiner Burger runtergeschlungen und noch ein paar Schluck Cola Light hinterher gespült hatte, wandte er sich wieder seinem Partner zu.
"Echte Dämonen; die sollten wir weiterhin jagen! Dieser ganze Quatsch mit dem Weltuntergang ist doch Propagandamasche, damit uns der Staat nicht den Geldhahn zudreht. Schlimm genug, dass die überhaupt darüber nachdenken."
Es entstand eine kurze Pause.
"Leitungswasser schmeckt zum kotzen.", murmelte Edgar dann. - "Die Welt ist anders als wir sie sehen, Felix. Du wirst den Durchblick auch noch bekommen, aber die Agentur steigt da nicht so richtig durch."
Der andere Agent ließ die McDonalds Tüte auf der Rückbank verschwinden und warf einen ungläubigen Blick in Richtung des Fahrersitzes.
"Und das von dir? Du überraschst mich! Die Sache mit dem Wasser bildest du dir doch bloß ein. Noch leben wir nicht in der Hölle und der Teufel wird einen Scheiss tun und weiter wachsen, je mehr Tote in die Hölle kommen.", sinnierte Felix unmotiviert und schaltete das Radio ein. Er verspürte nicht die geringste Lust mit Edgar weiterhin zu diskutieren.
Während die Eagles vor dem "Hotel California" warnten, stellte sich der Regierungsbeamte seine Sitzlehne etwas bequemer ein und genoss die Rückfahrt von der Klinik.
"Vierundzwanzigtausendfünfunddreißig.", sagte Edgar plötzlich. - "Wir müssen uns auf XD-36 konzentrieren."
Felix richtete sich auf und schnippte den Zahnstocher weg, mit dem er sich die Reste seines späten Abendessens aus den Zahnlücken entfernt hatte.
"Das heisst wohl mal wieder ´ne Menge Akten durcharbeiten!", ärgerte er sich.
Edgar hörte ihm nicht zu. Er verscheuchte eine Fliege und dachte darüber nach, wie banal manche Todesursachen doch sein konnten.
Felix überlegte indess wie schön das Rot der untegehenden Sonne vorhin gewesen war, als sie am Drive-In Schalter gewartet hatten und er fragte sich, was seine Freundin gerade machte.