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X-Alien tickert das Unglaubliche...Unfassbare!
"Der X-Alien & Cosmic Phenomenon Telegraph tickert die News des Unglaublichen...Schrecklichen!"
So lautet für gewöhnlich der erste Satz im Vorwort unserer Illustrierten, die in den vergangenen zwei Jahren eine beachtliche Leserschaft gefunden hat. Diesen Monat steht auf der ersten Seite allerdings etwas anderes: "Mister X, Mitbegründer und Chefredakteur, wird zur Mitte des Jahres aus privaten Gründen unser Team verlassen!" - Natürlich mit einem Ausrufezeichen dahinter. Was folgt, ist ellenlanges Gesalbe darüber, wie engagiert "Mister X" alias Sebastian Hansen sich stets für unser Boulevard-Blatt aufgeopfert hat und wie sehr ihn - selbstverständlich - alle vermissen werden. Tatsächlich hat der Kerl bloß eine Gnadenfrist bekommen, weil er schwerer Trinker und Spieler ist, der dem weiteren Erfolg des Magazines im Wege steht. Sein Nachfolger steht zwar noch nicht endgültig fest; wenn man die Damen und Herren, die in der engeren Auswahl stehen aber persönlich kennt, sollte man sich keine Wiedergeburt Christi erhoffen.
Im März achtundneunzig habe ich als kleiner Redakteur beim Telegraph angefangen, im Anschluss an ein dreijähriges Volontariat bei der "Frankfurter Rundschau". Schon damals hatte man mir durch die Blume hindurch zu verstehen gegeben, dass ich als kompetenter Schreiberling ungefähr genausoviel taugen würde, wie ein Kannibale als Fachberater für veganische Lebensweise.
Es war, als ginge die Welt unter (zumindest meine eigene kleine), als ich zum ersten Mal vor dem schäbigen Bungalow gestanden und mir das leuchtende ´X´ entgegengeblendet hatte, welches in einer Nacht und Nebel Aktion vermutlich von irgendeinem anderen Firmengebäude abmontiert worden war.
Die Leute, die hier arbeiten sind Freaks und Verrückte. Oder beides. Bei einem Job wie diesem muss man solche Eigenschaften allerdings auch sein eigen nennen, denn, so unglaublich es auch klingen mag, die Leser eines Schundblattes erweisen sich als anspruchsvoller und schwerer zu halten, als es sich die meisten Menschen vorstellen können und die Größe, die wir mittlerweile erreicht haben, ist durchaus beachtlich. Mehr als dreißigtausend Abonennten und fast ebensoviele Stammkäufer wollen bei der Stange gehalten werden; sowas schafft man nicht mit Durchschnittskost.
Daher sind wir nach langem Hin und Her im Februar letzten Jahres auch in ein größeres Bürogebäude umgesiedelt und haben die Druckerei gewechselt, was uns seitdem auch endlich gestochen scharfen Farbdruck ermöglicht.
Insgesamt besteht unser Team jetzt aus mehr als achtzig Leuten, von denen allerdings nur die Hälfte ein monatliches Gehalt überwiesen bekommt. Der Rest setzt sich aus Verschwörungstheoretikern und gelangweilten Langzeitarbeitslosen zusammen, die aus Leidenschaft für uns recherchieren, oder sich aber einfach nur gerne mehr oder weniger gute Stories aus den Fingern saugen. Im Grunde ist das unwichtig; was spektakulär klingt und keine Copyright Verletzungen oder Klagen nach sich zieht, wird gedruckt.
Frei nach dem internen Motto: Was im Erdkern selbst zu finden ist, kann im Niveau noch immer nicht tief genug begraben sein.
Unsere Titel-Story steht diesen Monat ganz im Zeichen des World Trade Centers. Es gibt ein paar wirklich gute, unverfälschte Photos, auf denen sich schwarze Streifen ausmachen lassen, die kurz vor den Flugzeugeinschlägen um die Türme herumgeirrt sind. Zuerst wollten wir sie als Tarnkappen Bomber verkaufen, aber UFOs kommen einfach besser an; wobei wir uns allerdings selbst nach einer durchzechten Meeting Nacht in unserer Stammkneipe auf keine Galaxie einigen konnten und kurzerhand Menschen aus der Zukunft kommen ließen, die das Unglück zum reinen Zeitvertreib aus ihren flotten Untertassen heraus beobachtet haben.
"Werden wir im 22. Jahrhundert alle Spanner der alten Katastrophen sein?", lautete sogleich die treffende Überschrift, welche übrigens meiner Feder entsprungen ist.
Mein Name ist Stefan Zürich. Mein Kürzel im Telegraph beschränkt sich auf die zwei Buchstaben SZ und mein Pseudonym in selbigem ist Cerberus.
Alles kam genauso plötzlich wie gewöhnlich. Mister X (Gott, wie ich diese Phantasielosigkeit hasse) hatte mich auf meinem Apparat angerufen und einen Termin um kurz nach zwölf festgemacht. Sein Büro, eine Räucherstube wie immer, stank an diesem Tag ganz besonders entsetzlich nach billigem Rasierwasser und sein Atem mischte sich in Form einer unangenehmen Alkoholfahne unangebracht in die restlichen Abscheulichkeiten der Tabak- und Parfümindustrie mit ein. Kurzum: er war sturzbetrunken und unternahm alles, die gereizten Nasenschleimhäute auf eine falsche Fährte zu locken.
"Herr Zürich! Pünktlich wie immer. Auf Sie ist Verlass, das weiss ich.", begrüßte er mich euphorisch, während er darum bemüht war, sein Gleichgewicht zu halten.
Ein dicker, klein gewachsener Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart, der an sich schon für eine Story über das Außergewöhnliche gut war und dem ich - unter größten Anstrengungen - wie immer den nötigen Respekt entgegenbrachte. - "Herr Hansen. Wie geht es Ihnen?" - Es ist mir schon immer gegen den Strich gegangen, diese fleisch gewordene Unfähigkeit personifizierter Boshaftigkeit siezen zu müssen.
"Naja, Sie wissen ja, dass sie mich hier alle raushaben wollen, weil ich angeblich nicht mehr gut genug bin. Aber solange ich noch für die Titelgeschichten verantwortlich bin...", er rülpste, "solange geht hier die Post ab, hm? Ich habe da was aus dem Internet, besser als der Mottenmann und der Stromschlucker zusammen!" - Der Stromschlucker. Ein Gigant mit Schwimmflossen, der des nachts über die Felder von Nordrhein-Westfahlen trampelt und Hochleitungen umstößt. Tagsüber lebt er in einer verborgenen Höhle im Rhein.
Wie konnte es dieser Mensch bloß wagen, diese Wirrgestalt zusammen in einem Atemzug mit dem Mottenmann zu nennen?
"Eine ganz heikle Geschichte, die ich keinem unserer Freiberufler überantworten kann. Sie sind mein Mann in solchen Sachen. Wie lange haben Sie ihr Büro nicht mehr verlassen?"
"Schon zu lange nicht mehr", erwiderte ich völlig ernst gemeint. In letzter Zeit hatte ich das Gebäude tatsächlich so gut wie nie verlassen und so sehr ich meinen Chef auch hassen mochte - und es noch immer tue -, ich war ihm in diesem Augenblick dankbar dafür, dass er mir eine Chance auf ein wenig Abwechslung vom tristen Redaktionsalltag in Ausschau stellte.
"In der Nähe von Düsseldorf; auf der gegenüberliegenden Rheinseite in Neuss, gibt es seit gewisser Zeit beunruhigende Meldungen über vermisste Personen, von denen einzelne Körperteile aufgefunden worden sind, sonst aber nichts. Einige Anwohner eines kleinen Dorfes, Norf, berichteten der lokalen Presse angeblich von einem Ungeheuer, das im Dunkeln durch die Straßen zieht und Leute meuchelt. Natürlich haben die ansässigen Zeitungen das so nicht gedruckt, aber interessant ist es allemal. Einer unserer Leser wohnt in der Gegend und er hat mir einige äußerst heikle Informationen zukommen lassen. Vermutlich geht dort ein perverser Irrer um, der sich gerne an kleinen Jungfrauen vergreift. Sie wissen schon."
Ja, ich wusste worauf er hinaus wollte und wie zur Bestätigung sagte er es mir auch gleich.
"Machen Sie ein Monster aus ihm. Vampir oder Werwolf. Sowas in der Art, aber es muss authentisch klingen. Die Sache mit dem Trade Center war unterhaltsam, aber zu weit entfernt. Was wir brauchen, ist etwas vor unserer Haustür. Ein greifbares Böses sozusagen und aus Gerüchten und Andeutungen lässt sich schnell ein Knüller basteln. Solche Dinge haben Sie drauf, genau wie bei der Sache mit dem zweiköpfigen Eichhörnchen damals. Ich kann mich auf Sie verlassen?", befahl er dann mehr als er fragte.
"Sicher", gab ich ein wenig enttäuscht zurück. Natürlich freute ich mich auf die Außenarbeit...aber Neuss? Einen Steinwurf von der Landeshauptstadt Düsseldorf entfernt fühlte man sich dort dennoch unwillkürlich ins Mittelalter zurückversetzt. Bis vor ein paar Jahren hatte meine Tante in der Nähe der altertümlichen Innenstadt gelebt, war dann aber wieder zurück nach Frankfurt gezogen, wo unsere Familie ursprünglich herstammt. Ein paar Mal war ich dort gewesen und hatte nicht mehr als großflächige Felder und dichte Wälder vorgefunden, von kleinen Dörfer durchsetzt, deren Bewohner sich mit dem einundzwanzigsten Jahrhundert noch nicht ernsthaft auseinandergesetzt hatten.
Aber warum nicht?
Das angemietete Hotel war eine einzige Absteige, trotz einer an für sich schönen Lage. Die Informationsmappe, die Hansen mir mitgegeben hatte, war für seine Verhältnisse ausgesprochen detailliert. Meine Kontaktperson war ein gewisser Heinrichs, der unweit von hier in einem Einfamilienhaus lebte und den Telegraph seit drei Jahren abonniert hatte. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass es zu spät war ihn heute Abend noch anzurufen und ein weiterer Blick in die Hotelbar offenbarte mir, dass es keinesfalls zu spät fürs Wachbleiben sein konnte. Wenigstens in dieser Hinsicht waren sie hier gut ausgestattet.
Nachdem ich einige der kleinen Fläschchen Feigling und Küstennebel geleert hatte, breitete sich eine angenehme Wärme in mir aus. Ich ließ mich auf die harte Matratze fallen und studierte die Mappe eingehender. Es hatte in den vergangenen zwei Monaten drei ungeklärte Todesfälle mit Verdacht auf Mord in Neuss gegeben. Für eine Stadt wie diese eine beachtliche Zahl. Vor allem insofern, da diese alle auf einen Radius von fünf Kilometern beschränkt waren.
Ich ließ den Inhalt zweier weiterer Fläschchen in mich hineinlaufen und nahm mir dann die Kopie eines älteren Stadt-Anzeigers zur Hand. Offiziell handelte es sich um verschleppte, junge Mädchen, von denen in zwei Fällen abgetrennte Finger und in einem Fall ein linker Fuß aufgefunden worden waren. Es war unschwer zu erkennen, dass auch die "normalen" Zeitungen mit dem Phantastischen liebäugelten, denn die Erklärungen für das Verschwinden der Frauen waren mehr als fadenscheinig. Hauptsächlich bestand die Annahme darin, dass eine rumänische "Pornobande" am Werk gewesen sein musste. Auf die gefundenen Gliedmaßen wurde konsequenterweise nicht weiter eingegangen. Weshalb auch? Jedes Kind weiss doch, dass illegale Pornoregisseure Darsteller mit abgesägten Fingern und Füßen bevorzugen.
Wenn ich für diese Story auch einen Vampir oder was auch immer zu erfinden hatte; einen wahren Kern schien sie tatsächlich zu haben und umso faszinierter las ich weiter. In Norf war etwas ähnliches schoneinmal vorgekommen. Der Informant hatte ganze Arbeit geleistet und ein altes Jahrbuch der Ganztags-Realschule, Abschlussklasse 1974, mitgeliefert. Auf der letzten Seite wurde den Eltern von fünf in besagtem Jahr verschwundenen Mädchen ein herzlicher Trost ausgesprochen. Ob man von ihnen ebenfalls Körperteile entdeckt hatte, blieb unbeantwortet.
Es muss kurz nach Mitternacht gewesen sein, als ich über den Unterlagen einschlief.
Seltsame Träume von einem gigantischen dicken Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart, der Strommasten umriss, plagten mich. Was für ein Scheiss Job!
Am nächsten Morgen konnte ich diesen Heinrichs nicht erreichen. Sein Handy war ausgeschaltet und auf dem Festnetz meldete sich lediglich der Anrufbeantworter.
Ich entschloss mich, ein wenig durch den Ort zu schlendern. Mein Hotel befand sich unweit der Dorfkirche, die im Gegensatz zu den restlichen Gebäuden hier ziemlich deplaziert wirkte. Zwar war sie von ihrer Form her alt; das unbeschädigte Mauerwerk, die in den Boden hineingelassenen Scheinwerfer, die Nachts ihre Kirchturmspitze beleuchteten und die kerzengeraden Treppenstufen am Eingang, verliehen ihr aber das Antlitz eines Gemäuers, das nicht älter als dreißig oder vierzig Jahre sein mochte; oder aber äußerst gründlich restauriert worden war.
Die Hauptstraße gab sich einspurig, umsäumt von einigen Kneipen und weiss gehaltenen Wohnhäusern, über deren Front breite Holzbalken verliefen. Zirka einhundert Meter entfernt lag der alte Friedhof. Es gab tatsächlich auch einen neuen, der vor wenigen Jahren mitten in einem Feld angelegt worden war. Ich war in meinem Taxi am vorigen Abend an ihm vorbeigefahren und hatte den Fahrer ziemlich gründlich ausgefragt. Mein Glück, das er hier aufgewachsen war.
Jenseits des Portals erstreckte sich eine lange Allee, die zu einem kleinen Platz führte, auf dem sich der Geräteschuppen und die Kapelle befanden. Erst als ich hier stand, wurde mir bewusst, dass ich überhaupt nicht vorgehabt hatte, den Friedhof zu betreten.
"Hallo", ließ mich eine weibliche Stimme zusammenschrecken.
Ich fuhr herum und sah in die schönsten grünen Augen seit Tagen.
"Hallo! Na, auch auf den Friedhof verirrt?" - Ich könnte mich jetzt noch für diese Frage ohrfeigen.
"Nein", lächelte sie mir entgegen. - "Ich besuche das Grab meines Vaters. Sie habe ich hier noch nie gesehen und Ihrer Kleidung nach zu urteilen kommen Sie auch nicht aus der Gegend, hab´ ich Recht?"
Ich schaute kurz an mir herab. Blaue Jeans und grüner Pullover. Selbst in dieser Gegend mussten diese Sachen bereits erfunden worden sein.
"Nein, ich bin nur für ein paar Tage zu Besuch hier. Wie heißen Sie?"
"Jennifer."
"Jennifer, ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich hier eigentlich suche, ganz ehrlich gesagt. Haben Sie was dagegen, wenn ich Sie begleite?"
"Nein. Ich würde mich freuen."
Das Grab ihres Vaters lag ziemlich außerhalb, aber meine Blicke galten auf dem Weg dorthin sowieso fast ausschließlich ihren strahlenden Augen. Wie lebendig sie waren.
"Was treibt Sie denn hierher?", wollte sie wissen.
"Lassen wir doch das gesieze, ich heiße Stefan und du?" - Unbewusst drängte sich mir ein Bild von Hansen auf; ich schüttelte es ab. - "Immer noch Jennifer", lachte sie laut. - "Wie bereits gesagt."
Ich fühlte mich wie ein Schimpanse. Zumindest so, wie ich mir die Gefühlswelt eines Schimpansen vorstelle, wenn er bei etwas peinlichem erwischt wird.
´´Schimpanse in den Lokus gerutscht, Dinosaurier-Schlange zog ihn in den Abfluss und biss die rechte Pobacke ab!´´ Ausrufezeichen.
"Ja...genau, Jennifer. Entschuldige, ich bin wohl noch nicht richtig wach. Ja also, die Arbeit. Die Arbeit treibt mich hierher."
"Das ist schön. Du bist hier wegen den toten Frauen, die als vermisst gelten, stimmts?"
Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Norf schüttelte es mich.
"Woher weisst du das?"
"Pssst...sei ganz entspannt. Siehst du ihn...unter der Erde? Mein Vater ist nicht tot. Niemand ist hier tot."
Es schüttelte mich; wie ich dieses Gefühl einer Gänsehaut doch liebe, auch wenn es mir zu diesem Zeitpunkt schwer fiel, mir selbst einzugestehen, das diese unglaubliche Schönheit scheinbar völlig durchgeknallt war.
"Paps?", fragte sie in Richtung des Grabes und für einen Moment fürchtete ich fast, das sie eine Antwort erhalten könnte.
Aber es blieb still. Dann weinte sie plötzlich. - "Warum hast du mich und Mama alleingelassen? Wir haben dich doch so sehr gebraucht."
Es war später Nachmittag, als ich in mein Hotel zurückkehrte. Nach dem Vorfall am Morgen hatte ich in einer der ortsansässigen Kneipen weit mehr als einen Doppelkorn über die Theke wandern lassen und ich fühlte mich elendig. Zu allem Überfluss klingelte just in diesem Augenblick auch noch das Telefon.
"Hansen hier. Sie haben sich den Tag über nicht gemeldet. Haben Sie diesen Heinrichs schon erreicht?", lallte er.
"Nein, noch nicht. Ich bin unterwegs gewesen", lallte ich zurück.
"Mir ist egal, was Sie getrieben haben. Hören Sie zu!" - War er etwa nervös? - "Wir hatten hier vorhin äußerst unangenehmen Besuch. Vergessen Sie die Story und kommen Sie augenblicklich zurück. Auf gar keinen Fall werden Sie in irgendeine Richtung weiter recherchieren, haben wir uns verstanden?"
Noch ehe ich antworten konnte, wurde die Verbindung getrennt.
Mir war das zu diesem Zeitpunkt ganz recht und ich dachte auch nicht weiter über das Gespräch nach. Der Müdigkeit freien Lauf lassend, schlief ich auf dem Teppich ein.
Ein bizzarer Stahlkoloss mit Schwimmflossen auf dem Rücken schritt in meinen Träumen auf mich zu. Er hatte das Gesicht von Hansen und als die gigantischen, haushohen Füße unmittelbar vor mir zum Stehen kamen, begann er zu sprechen: "Weshalb starren Sie eigentlich immer auf meinen Oberlippenschnäuzer? Ich kann das nicht leiden. Alle haben sich gegen mich verschworen!" - Um dem gesagten Nachdruck zu verleihen, riss er einen Hochleitungsmast aus der Erde und schleuderte ihn in meine Richtung.
Habe ich bereits erwähnt, wie sehr ich diesen Job hasse?
Der schlimmste Kater meines Lebens ließ mich erwachen. Meine Gelenke schmerzten und die Welt drehte sich gleich mehrfach um das Universum. Dennoch gelang es mir irgendwie den Brechreiz im Zaum zu halten und mit Hilfe einer kalten Dusche die Dinge so weit es eben möglich war, auf normalen Status zu bringen. Meine Koffer standen noch ungeöffnet vor dem kargen Kleiderschrank und es dauerte eine Weile, bis ich mir ein ausgeh´ taugliches Outfit zusammen gesucht hatte.
Die Rezeption war unbesetzt und überhaupt schien es in diesem Hotel nicht allzuviel menschliches Leben zu geben. Zumindest waren mir bislang keine anderen Gäste begegnet.
Draußen regnete es in Strömen und ich irrte eine zeitlang ziellos durch die Gegend. Hansen hatte mich gestern Abend noch angerufen, aber was hatte er gewollt? So sehr ich mich auch zu erinnern versuchte, der Schnaps war in seiner Wirkung gnadenlos gewesen.
Dann stand ich plötzlich wieder auf dem Friedhof, direkt neben der Kapelle.
"Hallo", ließ mich eine weibliche Stimme zusammenschrecken.
Ich fuhr herum und sah in die schönsten grünen Augen seit Tagen.
"Hallo! Na, auch auf den Friedhof verirrt?" - Ich könnte mich jetzt noch für diese Frage ohrfeigen.
"Nein", lächelte sie mir entgegen. - "Ich besuche das Grab meines Vaters. Sie habe ich hier noch nie gesehen und Ihrer Kleidung nach zu urteilen kommen Sie auch nicht aus der Gegend, hab´ ich Recht?"
Ich schaute kurz an mir herab. Blaue Jeans und grüner Pullover. Selbst in dieser Gegend mussten diese Sachen bereits erfunden worden sein.
"Nein, ich bin nur für ein paar Tage zu Besuch hier. Wie heißen Sie?"
"Jennifer."
"Jennifer, ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich hier eigentlich suche, ganz ehrlich gesagt. Haben Sie was dagegen, wenn ich Sie begleite?"
"Nein. Ich würde mich freuen."
Das Grab ihres Vaters lag ziemlich außerhalb, aber meine Blicke galten auf dem Weg dorthin sowieso fast ausschließlich ihren strahlenden Augen. Wie lebendig sie waren.
"Was treibt Sie denn hierher?", wollte sie wissen.
"Lassen wir doch das gesieze, ich heiße Stefan und du?" - Unbewusst drängte sich mir ein Bild von Hansen auf; ich schüttelte es ab. - "Immer noch Jennifer", lachte sie laut. - "Wie bereits gesagt."
Der schlimmste Kater meines Lebens quälte mich, als ich allmählich erwachte. Was hatte ich gestern bloß gemacht? Ich stand auf und sofort wurde mir übel; zumindest gelang es mir noch, rechtzeitig die Toilette zu erreichen.
Ungeduscht und mit einem schlimmen Geschmack im Mund, durchwühlte ich meine Koffer nach ein paar brauchbaren Sachen.
Wie ein Penner ging ich die Treppe zur Rezeption hinunter. Niemand war da.
Draußen regnete es in Strömen. Mein Schädel dröhnte und in meinem Magen begann es erneut, flau zu werden.
Ziellos irrte ich durch die Gegend und dachte nach. Ohne es überhaupt bemerkt zu haben, fand ich mich plötzlich in der Friedhofskapelle wider. Fasziniert starrte ich auf den geöffneten Sarg, der am Ende des großen Saales direkt vor dem Altar stand.
"Hallo", ließ mich eine weibliche Stimme zusammenschrecken. - "Sie sehen nicht gut aus."
Ich blickte in die schönsten grünen Augen des Universums. Es ging mir schlecht.
"Hallo. Wer sind Sie?", fragte ich mit brüchiger Stimme.
Der schlimmste Kater meines Lebens ließ mich erwachen. Ich lag in einer stinkenden Pfütze von Erbrochenem. Ohne mich anzuziehen, schritt ich runter in die Rezeption.
Sie war verlassen.
Draußen regnete es in Strömen, aber es war ohnehin kein Mensch da, der meine traurige Gestalt zur Kenntnis genommen hätte. Was war bloß aus mir geworden?
Bevor ich mich versehen konnte, stand ich in der Kapelle. Melancholische Orgelmusik drang an meine Ohren. Der Sarg. Was war mit dem verdammten Sarg?
"Hallo"
Der schlimmste Kater meines Lebens. Ich kotzte das gesamte Zimmer voll. Dann ging ich runter. Viele Menschen standen in der Rezeption; sie starrten mich an, aber sagten kein Wort. Dann der Friedhof und die Kapelle. Ich nehme mein Handy in die Hand, während ich hier sitze und meine Gedanken nicht mehr ordnen kann. Was schreibe ich hier. Ein Sarg steht neben mir. - "Hallo", höre ich jemanden rufen.
Ich wähle.
"Mein Name ist Heinrichs." - Ist er das wirklich?
"Ich habe sie getötet. Ich habe sie alle getötet."
Wen suche ich?
Der Sarg. Der Fuß. Die Finger. Damals. Ja.
X-Alien gibt es nicht. Nur mich und meine kranke Phantasie...und den Stromschlucker natürlich.