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Wunsch Nr. 27
Zuckende, grelle Lichter. Hitze. Menschen so dicht aneinander gedrängt, dass man kaum Luft bekommt. Immer wieder leuchten ihre Gesichter auf. Haare, die mit der Bewegung des Kopfes mitfliegen. Hunderte Herzen, die im Rhythmus der Musik schlagen. Körper, die sich synchron auf einer Stelle bewegen.
Stunden sind vergangen seit dieses Bild Realität war. Nun ist nichts mehr übrig als eine große Fläche. Überall liegt Müll verstreut. Becher, leere Flaschen. Das warme Sonnenlicht verleiht dem ganzen eine gewisse Ruhe, etwas harmonisches. Der perfekte Gegensatz zu den wilden Partytieren der letzten Nacht. Vereinzelt sitzen Vögel auf der plattgetretenen Wiese. Picken auf den Boden, suchen nach fallengelassenen Krümeln. Es ist still. Nur das hin und wieder ertönende Krächzen streitender Vögel ist zu hören, unterlegt vom kaum wahrnehmbaren Rauschen der entfernten Autobahn.
Wie es anfing, das weiß sie noch genau. Es war auf einem Parkplatz ein gutes Stück die Straße runter. Einen oder zwei Tage entfernt. Sie erinnert sich nicht mehr genau an die Dauer, aber sonst an jede Einzelheit ihrer Reise.
So auch an den Benzingeruch, der von der Tankstelle zum Parkplatz rüber wehte. Oder den grünen Kaugummi, der vor ihr auf dem Boden klebte und in den sie fast getreten wäre. Wie sie ihn gesehen und dann einen großen Schritt über ihn gemacht hatte auf ihrem Weg zur Raststätte gleich gegenüber der Tankstelle.
Sie erinnert sich an den Geruch, der sie zurück in die Schulmensa versetzte, als sie die Raststätte betrat. Sofort hat sie sich auf die Suche nach Proviant gemacht. Und vor dem Snackregal ist sie dann mit jemandem zusammengestoßen. Gerade wollte sie nach dem letzten Päckchen Zuckerwatte greifen als ihr jemand zuvor kam.
"Hey, das ist meine! Ich brauche die", meinte sie empört und sah den Typen vor ihr wütend an. Ohne ihre Absätze wäre er wohl einen Kopf größer gewesen, so war es nur ein halber. Er war jung, etwa in ihrem Alter. Nicht älter als Anfang zwanzig. Seine Augen so dunkel, dass die Pupillen schon fast mit der Iris verschmolzen. Ganz im Gegensatz zu ihren, die klar waren wie der Himmel draußen.
"Nein, das ist meine. Ich hatte sie zuerst", erwidert er nur kühl.
Sie setzte schon zu einem Vortrag an - mit ihrem Sturkopf hatte sie schon einige dazu gebracht einzuknicken - , aber da sprach er auch schon weiter: "Ist das dein schwarzer Impala da draußen?"
"Ja, wieso? Ich tausche bestimmt nicht meinen Wagen gegen die Zuckerwatte."
Er lachte. Selbst jetzt hat sie den Klang seines Lachens noch im Kopf. Tief und trotzdem fröhlich klar.
"Ich will nicht tauschen. Aber du könntest mich mitnehmen."
"Nein."
"Wieso nicht?"
"Ich kenne dich überhaupt nicht. Wer sagt mir, dass du mich nicht umbringst, um mich anschließend auszurauben?"
"Ach komm, ich sehe doch nicht aus wie ein Krimineller!"
"Keine Ahnung, ich habe noch nie einen gesehen."
"Und spontan bist du wohl auch nicht gerade, oder?"
Nein, sie war nie spontan gewesen. Ihr Leben hatte stets einen mehr oder weniger geregelten Ablauf. Dann war etwas passiert, dass dies geändert hatte. Etwas von dem sie wohl keiner Menschenseele je erzählen würde. Sie floh vor ihrem alten Leben mit nichts als dem, was sich in ihrem Auto befand.
Nein, sie wollte nicht spontan sein. Aber ihr Sturkopf, der würde sie nie verlassen. Erst recht nicht wegen einem Fremden. An diesem Punkt konnte sie ihn jedoch nicht gebrauchen.
Sie erinnert sich wie er aussah, mit seiner Frisur als wäre er gerade aufgestanden und dem Funkeln in den Augen, das zeigte, dass er sich sicher war gewonnen zu haben. Und damit sollte er recht behalten, denn ihr blieb ohnehin keine Wahl. Sie brauchte die Zuckerwatte.
"Wo willst du denn hin?", fragte sie ihn und unterdrückte den Drang ihm sein provozierendes Grinsen aus dem Gesicht schlagen zu wollen.
"200 Kilometer Richtung Osten."
"Okay, ich nehme dich mit. Aber dafür bezahlst du mir auch die Zuckerwatte." Er verdrehte die Augen, nickte dann aber.
Sie musste weg. Ein bisschen raus, was anderes sehen. Er kam ihr als - wenn auch nur kurzzeitiger - Reisegefährte ganz gelegen.
Sie erinnert sich wie sie zur Kasse gingen, bezahlten und anschließend alles auf dem Rücksitz ihres Autos verstauten. An ihren Kofferraum ließ sie ihn nicht.
"Wieso, hast du da drin ne Leiche oder was?"
Sie atmete tief ein und aus. Als sie hörte wie er die Beifahrertür schloss, sah sie nach oben und murmelte "Da siehst du was passiert, wenn ich auf dich höre", bevor sie ebenfalls einstieg und losfuhr.
Den ersten Teil ihrer Reise verbrachten sie schweigend. Irgendwann fing er dann an ihr Fragen zu stellen. Wie sie hieß, wo sie herkam und wohin sie wollte. Die Frage nach ihrem Namen und ihrer Herkunft ignorierte sie. Umso weniger er erfuhr, desto besser dachte sie sich. Zwar würden sie sich nie wiedersehen, aber sie wollte, dass sein Bild von ihr echt blieb. Unverfälscht von Dingen, auf die sie keinen Einfluss hatte. Als Ziel sagte sie ihm "wo auch immer mein Baby mich hinbringt" und strich dabei kurz über das Lenkrad.
Sie stellte ihm die selben Fragen, auch er ignorierte die ersten beiden, beantwortete die letzte mit "wirst du dann schon sehen". Danach verfielen sie wieder in Schweigen. Ab und zu wechselten sie ein paar Worte. Nach circa 200 km nahm sie die Ausfahrt und ließ sich von ihm in die Stadt leiten.
Er weiß noch wie sie ihn an einer Straßenecke raus ließ und davonfuhr. Wie er ihr hinterher sah und dachte er würde sie nie wieder zu Gesicht bekommen. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht einschätzen, ob dies eher eine Befürchtung oder eine Hoffnung war.
Jetzt war er fast an seinem Ziel. Nur noch einige wenige Schritte und dann wäre es so weit.
Er erinnert sich wie ihn seine Füße durch die bekannten und doch fremden Straßen führten. Es langsam dunkel wurde bis er schließlich an seinem Ziel ankam. Das, was er damals noch für sein Ziel hielt. Ein in der Dämmerung hellgraues, aber im Tageslicht weißes Haus. Mit ehemals bunt blumigen Vorgarten, der jetzt ein verdorrter Fleck Erde war.
Davon ließ er sich nicht beirren. Jahre war es her, seit er das letzte Mal an dieser Stelle stand. Lautlos ist er über den Zaun geklettert. Das Tor hatte schon immer gequietscht. Er wollte nicht unnötig Aufmerksamkeit erregen. Wollte nur sichergehen, ob er mit seiner Vermutung recht hatte. Ob er wirklich die ganze Zeit belogen wurde.
Und als er durch das Fenster an der linken Seite des Hauses sah, bestätigte sich sein Verdacht. Dort saßen sie zusammen. Seine Eltern lachten dort bei einem Gläschen Wein und er stand hier draußen. All die Jahre in Pflegefamilien, weil sie kein Geld hatten sich um ihn zu kümmern. Dabei war er nur eine Last gewesen, die sie loswerden wollten, das erkannte er nun.
Da konnte er nicht rein. Nie wieder.
Mit dem Finger fährt er über den kaum noch sichtbaren Kratzer an seiner rechten Handinnenfläche. Den hat er bekommen als er auf der Rückseite des Hauses das Grundstück wieder über den Zaun verlassen hat. Wohin er jetzt sollte wusste er nicht, aber er wünschte sich er wäre nie aus dem Impala gestiegen.
Ob sie noch in der Stadt war? Vielleicht würde sie ihn auch nicht nochmal mitnehmen. Nachvollziehbar wäre es, so wie er sich teilweise ihr gegenüber verhalten hatte. Ein Wunder, dass er so weit gekommen war. Doch er hatte keine andere Wahl als sie zu suchen. Tief in seinem Inneren spürte er, dass er mit niemand anderem weiterreisen konnte.
Es sind zwei Tage gewesen, sie weiß es wieder. Sie saß in einem Diner und frühstückte an der Theke als er sich neben ihr niederließ.
"Verfolgst du mich?", hat sie gefragt und ihr Rührei mit Speck und Toast aufgegessen.
"Nein", hat er geantwortet, "nicht direkt. Ich hab deinen Wagen im Vorbeigehen gesehen und mich gefragt, ob du mich nochmal mitnimmst."
"Ich dachte du hättest gefunden wonach du suchst. Deshalb sind wir doch hier."
"Naja, wie es aussieht haben sich die Dinge anders entwickelt als erwartet."
"Was für Dinge?"
"Nichts was jetzt noch von Bedeutung ist. Also, nimmst du mich mit?"
Nur knapp gelang es ihr ein Seufzen zu unterdrücken. Zwar hatte sie gehofft, dass er wiederkommen würde, doch für ihn wünschte sie sich, dass er sein Glück schon gefunden hatte.
"Wohin geht es denn dieses Mal?"
"Wohin auch immer dein Baby mich bringt." Sie hat leicht gelächelt als er ihre Worte benutzte. Hat von ihrem Teller aufgesehen und sich ihm zugewandt.
Sie erinnert sich wie er aussah. Die Augen eingefallen und von dunklen Ringen umrahmt. Die Schultern hängend und die Haare platt an den Kopf gedrückt. Die ganze Nacht musste er draußen verbracht haben. Alleine die Straßen entlang wandernd auf der Suche nach ihr.
Sie nickte. Selbst wenn sie ihn nicht hätte mitnehmen wollen, blieb ihr keine Wahl. Sie konnte ihn nicht hier zurücklassen. In einer Stadt wo er, wie es schien, niemanden hatte außer ihr.
"Okay, aber dafür bezahlst du mein Frühstück und die nächste Tankfüllung. Deal?"
Sie hielt ihm die Hand hin, wartete auf seine Reaktion. Er schlug ein.
"Deal."
Sie bestellte sich noch einen Kaffee to go. Mit Haselnusssirup. Er wollte nichts.
Als sie die Stadt hinter sich ließen und weiter Richtung Ostküste fuhren war er bereits eingeschlafen. Sie wird sich wieder bewusst wie erleichtert sie war, dass er nicht schnarchte. Hätte er es getan, wäre sie innerhalb der ersten fünf Minuten an den Rand gefahren und hätte ihn rausgeschmissen. Dieses Geräusch war ihr schon immer zuwider.
Dieser Tag verlief nicht groß anders als der vorherige. Zwischenzeitliche Stopps zum Tanken, Vorräte nachkaufen und Toilette benutzen. Hier und da ein Wort wechselnd, aber ohne konkrete Fragen zu stellen. Nichts was dem Anderen einen Tipp geben würde wer sie waren.
Mit einem Lächeln auf den Lippen denkt sie an die Diskussion bei ihrer letzten Pause. Er wollte fahren, aber sie ließ niemanden außer sich selbst hinters Steuer. Beinahe hätte sie ihn einfach dort stehen lassen. Aber sie tat es nicht. Weil er dazu gehörte, zu ihrem Plan.
Er erinnert sich an die zuckenden grellen Lichter, die entfernt auf seiner Seite auftauchten. Daran wie sie den Impala in der nächsten Stadt abstellten, einen Teil des Proviants nahmen und in Richtung der Lichter liefen. Angelockt wie Motten.
Als sie ankamen war dort eine Masse. Eine Masse von Menschen, Einzelteile verschmolzen zu einem Ganzen. Sie mischten sich unter die Anderen, waren keine Außenseiter. Endlich, zum ersten Mal in ihrem Leben, waren sie nicht mehr allein.
Deutlich weiß er noch wie er aufwachte. Wie der Vogel ihm ins Ohr krächzte. Wie er allein auf dieser Wiese lag und aufstand, um zurück in die Stadt zu laufen. In der Hoffnung sie dort zu finden.
Der schwarze Lack des Impala glänzte im Schein der gerade aufgegangenen Sonne. Sie war nicht da und er jetzt kurz vorm Verzweifeln. Ohne sie und somit ohne den Schlüssel saß er hier fest. Alles was er noch hatte lag auf der Rückbank. Er steckte die Hände in die Hosentasche und fühlte etwas, das vorher nicht da gewesen war. Er holte die Gegenstände heraus. Ein gefalteter Zettel und ein Schlüssel.
Sie schnallt sich an und lehnt sich in ihren Sitz zurück. Es war mehr als Glück gewesen, das dafür gesorgt hatte, dass sie nun hier sitzt. Vielleicht war es das Schicksal, das ihr dieses Ticket besorgte.
Er fühlt die Ungläubigkeit und Freude zurückkommen, die er beim Lesen des Zettels verspürte.
"Guten Morgen mein Lieber,
wenn du aufwachst werde ich schon längst fort sein. Ich werde in einem Flieger ins Ausland sitzen und beruhigt sein, weil ich weiß, dass mein Baby bei dir gut aufgehoben ist. Mein Bruder hat mir immer gesagt, dass ich mich auf Fremde einlassen soll, dass man ihnen vertrauen kann. Jeder Freund war mal ein Fremder. Du kannst dir nicht vorstellen wie oft ich mir diesen Spruch anhören konnte. Doch jetzt ist er fort und alles was mir blieb waren sein Impala und eine Liste mit Dingen, die er erreichen wollte.
Den Impala überlasse ich dir, du bist jetzt für sie verantwortlich. Also lass' es mich nicht bereuen auf ihn gehört zu haben. Die Liste nehme ich mit mir und hake sie ab, einen Punkt nach dem anderen. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder, bis dahin aber lebe wohl
dein Road Trip Mädchen", stand dort. Er ging zum Kofferraum und schloss ihn auf. Er war leer.
Sie sieht zu wie die Menschen, Autos und Häuser unter ihr zu einem Ganzen verschwimmen.
Er sitzt hinter dem Steuer und lässt den Motor aufheulen. Den Zettel hält er in der freien Hand. Er dreht ihn um.
"PS: Danke für deine Hilfe bei Nummer 27"