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Wunderland
Wunderland
Es war der 23. Mai 2007, als sie das erste Mal zu mir Kontakt aufnahm. Damals wusste ich nicht, das es überhaupt möglich war von Außerhalb irgend eine Nachricht, egal welcher Art in unsere Abteilung zu schleusen ohne das wenige Minuten später die Putzkolonne des MITeKs vor der Tür stand. Das MITeK, Ministerium für informationstechnologische Kriegsführung, gegründet vor etwa drei Jahren, hatte die konventionelle Kriegsführung und Spionagearbeit der westlichen Mächte zum größten Teil abgelöst. Der Staatenbund hatte erkannt, dass es wesentlich wirtschaftlicher war, die Bevölkerung der so genannten Terroristenstaaten als zerstörende Kraft zu nutzen, indem man die Infrastruktur des Landes zum kollabieren brachte und das daraus entstandene Chaos einfach solange abwartete, bis sich das Militär und die meist ebenso gefährlichen Aufständischen gegenseitig ausgelöscht hatten. Die Daseinsberechtigung der noch nicht in den Ruhestand getretenen westlichen Militärs bestand dann auch nur noch darin, als eine Art westliche Erlöser aufzutreten, dem befreiten Volk die eigene Religion und Ideologie zu lehren und die Ressourcen der jeweiligen Region zu sichern.
Die Abteilung in der ich arbeitete beschäftigte sich ausnahmslos mit der künstlichen Erzeugung dieses Chaos, wissenschaftlich Entropie genannt. Wir erhielten unsere Aufträge von den Distribuenten, deren Informationsquelle die Spionageabteilungen waren und die auf höchster Ebene der Kriegsführung agierten. Somit war sichergestellt, dass die Mitglieder der Entropie ihre Ziele nicht kannten und die Spione nicht wussten, wozu ihre Informationen genutzt wurden. In Wirklichkeit wussten wir alle, dass wir für den Tod mehrerer Millionen Menschen verantwortlich waren, aber niemand außer vielleicht den Distribuenten musste sich darüber Gedanken machen.
Während der Arbeit:
? > hi
Kein Absender? Das konnte nur ein Scherz sein, niemand konnte sich anonym in das System einloggen.
? > jemand da?
Exit. Idioten! Für so etwas hatte ich heute Morgen keine Nerven. Ich hatte den Auftrag bekommen, die Steuerung eines größeren Lebensmittellagers stillzulegen. Login und Passwort eines Arbeiters war vorhanden. Also dann mal rein ins System.
ftp> open 216.160.19.1
login: fmell
passwort: god
Wie einfallsreich! Um Kontrolle über das System zu bekommen brauchte ich Administratorrechte. Erst mal die Userdatei suchen.
ftp> get user.ini
file not found
ftp> get pw.ini
file loaded
Jetzt hieß es nur noch warten, bis die Dechiffrier-Routine die Datei entschlüsselt hatte und ich meine Arbeit fortsetzen konnte. In der Regel dauerte das ungefähr eine bis zwei Tage. Die Rechenleistung der Computer war in den letzten Jahren zwar exponentiell angestiegen, die Kodierungsverfahren hatten aber einen ganz neuen Stand der Technik erreicht.
? > ist da draußen jemand???
Na gut, dachte ich mir, dann spiel eben mit. Ich gab die Standardphrase ein, die man uns in den halbjährlichen Schulungen für solche Fälle eintrichterte.
> Dies ist kein öffentlicher Raum. Bitte trennen Sie sofort die Verbindung.
Die Meldung an den Sicherheitsdienst wollte ich vorerst übersehen.
? > mein name ist alice, wie ist deiner?
Konnte es wirklich eine Sicherheitslücke im System geben?
> Wer bist Du? Wo bist Du? Wie bist Du hier rein gekommen?
? > alice, die aus dem wunderland :-) und wo ein wille ist, ist auch ein weg *lol*
Mittagspause:
In der Kantine unterhielt ich mich mit ein paar Freunden. Wie jede Mittagspause spekulierten wir über das Land, mit dem unser Projekt möglicherweise zusammenhing. Eine Frau aus der Putzkolonne, eine dieser Frauen, die ihre Lebensaufgabe darin sah, möglichst viel Gerüchte in möglichst kurzer Zeit zu verbreiten, behauptete, dass diesmal ein Kernkraftwerk in einer sibirischen Industriestadt zerstört werden sollte. Das konnte niemals stimmen. Es gab zwar autarke sibirische Städte, die das Monopol auf die letzten Ölreserven der Welt hatten, aber das MITeK würde nie die Kontaminierung eines so wertvollen Gebietes befehlen. Das wäre einfach nicht wirtschaftlich gewesen.
Die nächsten Wochen:
Wie sich herausstellte, war Alice eine reale Frau und kein Scherz meiner Kollegen. Ihr Wunderland befand sich etwa 300 Meter unter der Erde. Sie war Informationsagentin und hatte ihr Büro in einen Urwald verwandelt, da sie seit Jahren nicht an der Oberfläche gewesen war. Wir hatten angefangen uns gegenseitig Fragen zu stellen. Eine jeden Tag. Meinen Namen wusste sie allerdings immer noch nicht. Dafür hatte ich einiges über sie erfahren. 26 Jahre alt, 1,55 Meter groß, blonde kurze Haare und braune Augen. Sie liebte chinesisches Essen und schaffte es regelmäßig ihre Wan-Tan-Suppe über die Tastatur zu gießen, was wiederum die Materialbeschaffungsstelle zur Verzweiflung trieb. Außer ihrer Arbeit gab es nichts in ihrem Leben. Keine Hobbys, keine Familie, keinen Partner. Der einzige Mann in Ihrem Leben war, soweit ich wusste, ich. Und das war auch gut so, denn ich begann langsam mehr für sie zu empfinden, als die übliche Neugier in den Chaträumen des Netzes.
Auch mein Job konnte mich nicht davon abhalten, dass meine Gedanken immer wieder zu ihr wanderten. Mein Projekt war bei weitem noch nicht abgeschlossen. Wie sich herausstellte, war das Sicherheitsprotokoll des Kühllagers ähnlich sicher wie das, eines angeblichen AKWs, dessen Gerüchte immer noch durch die Abteilung kursierten. Es gab auch mehr als eine Administratorenstufe. Welche mir die Berechtigungen für die Kreislaufpumpen der Kühlung gab, hatte ich bisher noch nicht recherchieren können. Aber mein Plan stand fest. Ein kurzfristiges Deaktivieren der Durchflussmessungen gekoppelt mit einem Schließen der Kühlleitungsventile auf der Druckseite der Pumpen würde diese überhitzen und für tage lahm legen. Die Auswirkungen eines solchen Vorfalls waren schwer abzuschätzen, aber das war auch nicht mein Problem.
Mein Problem war eher herauszufinden, wo sich der Bunker dieser wundervollen Frau befand, aber sie war mir in dieser Hinsicht immer wieder ausgewichen.
Letzter Arbeitstag
Ich hatte inzwischen die erforderlichen Daten für einen erfolgreichen Abschluss meines Projektes. Das Adrenalin hatte mich wie bei jedem großen Hack zu einem vollkommen ruhigem Wesen aus gebündelter Energie gemacht, das aber jederzeit ausbrechen konnte und zur Zerstörung ganzer Planeten bereit war.
ftp > open 216.160.19.1
sys > login: dillinger
sys > passwort: 27946852
sys > system ready
? > hallo du
> Hi Alice
Es machte mir nichts aus, wenn sie mich bei der Arbeit störte. Ich war einfach nur froh darüber, dass sie wieder da war. Meine größte Angst bestand darin, dass sie eines Tages nicht mehr da war. Deshalb verbrachte ich meine Mittagspausen seit einiger Zeit damit, Agenten ins Netz zu schicken, die ihrer Verbindung folgten, aber bisher ohne Erfolg.
? > ich habe meinen job gekündigt. ich habe heute zum ersten mal seit 7 jahren die sonne wieder gesehen. ich bin soooo glücklich.
sys > dirc103 = off
sys > dirc203 = off
sys > dirc303 = off
sys > dirc403 = off
sys > dirc503 = off
sys > dirc603 = off
sys > dirc703 = off
Messstellen ausgeschaltet. Ganz nach Plan. Meine Hände begannen zu schwitzen. War das der Job oder doch sie? Die Welt bestand nur noch aus dem Bildschirm.
> Hey, Glückwunsch. Wir müssen uns unbedingt treffen. Ich halte das nicht länger aus.
? > Ja, aber ich muss Dir noch etwas sagen!!!
Jetzt schnell die Ventile zu und dann raus hier. Mein Herz raste, die Angst das man etwas nicht beachtet hatte, etwas ganz einfaches und das das Projekt deswegen zum scheitern verurteilt war, brachte mich fast um den Verstand. Meine Augen brannten vom Schweiß. Es gab nur noch mich, den Bildschirm und Alice.
sys > close A107V
sys > close A207V
sys > close A307V
sys > close A407V
sys > close A507V
sys > close A607V
sys > close A707V
? > ICH LIEBE DICH.
sys > error: pumps p104
p204
p304
p404
p504
p604
p704 overheating
Noch am selben Tag las ich in der Zeitung von dem sibirischen Kernkraftwerk, dessen Kühlkreislauf aufgrund von defekten Pumpen überhitzte. Es war die Rede von mehreren Millionen Toten und noch mehr Millionen Menschen, die an den Folgen sterben würden. Ich empfand überhaupt nichts. Mein Gehirn hatte auf Notbetrieb umgeschaltet und meine einzige Hoffnung war, dass dies so bleiben würde.
Ich erfuhr nie, wo sich Alice zum Zeitpunkt der Katastrophe aufhielt. Ich kannte nicht einmal ihren richtigen Namen.
11.01.2003 myon7