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Wunderbar!

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08.01.2024
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Wunderbar!

Vergifteter Lärm vertreibt ihr den Schlaf.
Schreie. Hufgetrampel.
Schauerliche Schreie!
Sie setzt sich auf und stellt mit Schrecken fest, dass sie allein ist.
Mairead läuft nach draußen und sieht, wie der Mutter ein hölzerner Speer durch den Leib getrieben wird, der Vater mit dem Gesicht nach unten auf der Erde liegt, und riesige, Schaum spuckende Schlachtrösser über die Schwester und deren Söhne hinwegtrampeln.
Sie möchte schreien, ihnen zu Hilfe eilen, aber kein Laut verlässt ihren offenen Mund, ihre Beine stehen still.
Ringsum tost unsägliches Grauen; alle werden abgeschlachtet, niemand verschont. Und Mairead sieht dabei zu – aber keiner sieht sie.
Dann ist sie unten am Fluss. Die Sonne schmunzelt, verschenkt einen letzten warmen Tag. Kaltes, prickelndes Nass umspielt ihre nackten Knöchel, während sie leise singend Wäsche wäscht.
Am Ufer regt sich etwas, weckt ihre Aufmerksamkeit. Sie hebt den Kopf, sieht etwas Pelziges durchs hohe Gras verschwinden, streckt den Rücken und beschließt sich etwas Ruhe zu gönnen.
Im Zwielicht eines herbstlich entkleideten Baumes ruhend, gegen den stattlichen Stamm gelehnt, schließt sie die Augen. Zufriedenheit hüllt Mairead ein, wärmend wie eine dicke Decke in kalter Nacht.

Mairead erwacht aus dem Traum und ein zittriges Lächeln schmückt ihr tränennasses Gesicht. Wärme und Wohlbehagen bewohnen ihr Herz; mein Leben hätte nicht schöner verlaufen können, ich habe meine Sache gut gemacht.
Zögerlich öffnet sie die Augen und erblickt unzählige Sterne, die über ihr funkeln. Eisiger Wind beißt ihr in Stirn und Wangen, der Boden unter ihr ist hart und unnachgiebig.
Einen Augenblick noch überdauert das von Beginn an schal schmeckende Gefühl ein guter Mensch zu sein; dann trifft sie die hässliche Wahrheit wie ein vernichtender Schlag.
Faul, träge und selbstsüchtig hatte sie im Schatten des Baumes gedöst, während alle ermordet wurden. Hätte sie ihre Pflicht getan, wäre sie bei ihren Leuten gewesen, hätte sie deren Schicksal geteilt!

Maireads blutleere Finger tasten sich zu dem Säugling vor, den sie unter den Sachen am Leib trägt. Behutsam berührt sie ihn am Rücken, er ist warm und atmet. Dann wendet sie den Kopf. In der mondhellen Nacht zählt sie acht aneinandergedrängte Kleiderhaufen; innig hofft sie, dass alle die Nacht überstehen mögen.
Die hartherzige Kälte, die sie Nacht für Nacht wie ein ausgehungertes Raubtier anfiel, wird mit jedem weiteren Tag schlimmer werden – das weiß Mairead. Schon jetzt sind ihre Finger morgens taub und gefühllos, von den Zehen gar nicht zu sprechen.
Elf Tage, elf Nächte.
Von anfangs neunzehn sind nur mehr zehn übrig.
Der Winter hat noch nicht einmal begonnen, und wenn erst der Schnee kommen wird – Herr, steh uns bei!

Spät am Nachmittag, als ein kühler, den Spätherbst verkündender Wind Mairead weckte, kehrte sie in die Siedlung zurück.
Einundvierzig Männer, Frauen, Kinder und Babys begrub sie in den darauffolgenden Tagen unter Steinen.
Viel zu viele Granitsteinhügel, die allesamt Verrat schrieen.
Am dritten Tag tauchten Fremde auf: Ein Mann, ein schwangeres Mädchen und ein wenige Monate alter Säugling; aus nördlicher Richtung gekommen war es ihnen ähnlich ergangen.
Mairead hatte im Dorf bleiben und auf den Tod warten wollen. Nun aber gab es etwas zu tun, eine letzte Aufgabe.
Am nächsten Tag trafen sie auf zwei Mädchen. Deirdre und Claire Wyndhan. Mairead kannte die Siedlung, aus welcher die Schwestern stammten; keiner ihrer Angehörigen hat überlebt. Am Abend desselben Tages trafen sie auf eine Gruppe Überlebende; sieben greise Männer und Frauen, die dank zweier Jünglinge, Logan und Boyd, hatten fliehen können.

Logan rüttelt an Maireads Schulter. „Aufwachen“, sagt er, „wir müssen weiter.“
Mairead gibt vor geschlafen zu haben. Dabei liegt sie seit dem schrecklich-schönen Traum vor Stunden wach.
Wohin, fragt sie sich, wohin sollen wir gehen?
Mairead steht nicht sogleich auf. Sie schaut zu dem nun wolkenverhangenen, silbergrauen Himmel auf und schreit innerlich vor Schmerz.
Dann bemerkt sie die Wyndhan-Schwestern, die zu ihr herschauen. An ihren Blicken haftet Angst und zittert zugleich scheue Hoffnung. Hoffnung, die sie in Mairead setzen – eine Frau, die sie für stark und unerschrocken halten.
Mairead nickt ihnen zu und versucht ein Lächeln, aber es mag nicht kommen.
Rasch wendet sie den Blick ab und steht auf.

Logan berührt Mairead erneut an der Schulter und bittet sie, ihm zu folgen. Sie gehen einige Schritte von der geduckten Felsformation fort, bei welcher sie Schutz vor der Kälte der Nacht gesucht haben. Eine kleine Anhöhe hinauf, wo sich ihnen Ausblick über das Tal bietet.
„Wohin sollen wir gehen?“, fragt Logan und wirkt geradezu fröhlich. Mairead blickt ihn erstaunt an, sieht seine wachen Augen, die hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Der junge Mann sieht gut aus, versprüht jugendliche Energie und Lebensfreude – selbst jetzt.
Dann dreht sie den Kopf, blickt zum Horizont und geht einen Schritt darauf zu. Wohin nur sollen wir gehen?, fragt sie sich wieder und möchte auf die Knie sinken um aufzugeben.
An ihrer Brust strampelt das Baby, sicher hat es Hunger. Hinter ihr scharren Logans Füße. Auch er ist ungeduldig, wartet, dass sie eine Entscheidung trifft.

Achtundvierzig Sommer zählt Mairead, beinahe schon im Winter ihres Lebens angekommen. Noch vor zwei Wochen war sie glücklich gewesen.
Zumeist.
Da war kein Mann an ihrer Seite und kein Kind, dem sie das Leben geschenkt hätte.
Maireads Größe verstellte den Männern die Sicht.
Die Sicht auf die kindliche, reine Schönheit ihres Wesens. Die Größe ihrer zurückhaltenden Anmut, die ihrer Rechtschaffenheit, ihres selbstlosen Stolzes. Die Größe ihrer Güte, die ihres Einfühlungsvermögens, ihres Mutes. Die enorme Größe der Liebe, die sie unentwegt zu geben im Stande ist, und zuvorderst aber zuletzt, ihre außergewöhnlichen Körpergröße.
Alle liebten Mairead und doch hatte es keiner je gewagt, sie wahrhaft zu lieben.
Hatte sie ihr Leben verwirkt?
Nein!
Etlichen Kindern war sie eine Mutter gewesen, dem Vater und der Mutter ein gutes Kind. Der Schwester hatte sie zur Seite gestanden und jedem, der ihrer Hilfe bedarf hatte. Achtung und Freundschaft hatte man ihr entgegengebracht, Anerkennung und die Liebe zu sich, ein gerechte Lohn.
Zumeist.
Nur manchmal – manchmal war da auch Durst.
Besorgnis. Furcht.
Einsamkeit unter all den lieben Menschen.

Mairead schließt die Augen, hebt aufs gerade Wohl den linken Arm und deutet irgendwohin. „Wir gehen da lang“, sagt sie und ihre Stimme klingt fest und entschlossen.
„Gut“, kommt es zurück, „ich sage es den anderen.“
Logan will gerade gehen, als Boyd zu ihnen kommt. „Ben und seine Frau haben es nicht geschafft“, verkündet er ohne Umschweife.
Logan bleibt stumm und Mairead fixiert weiter den Horizont. „Geht los!“, sagt sie und es klingt nach einem Befehl, nicht nach einer Bitte. „Ich begrabe sie und folge euch dann.“

Als Mairead den letzten Stein aufschichtet, fasst sie einen Entschluss: Niemand mehr wird sterben! Nicht solange sie sich mir anvertrauen. Ich werde einen Ort finden, an dem sie sicher sind, wo sie neu beginnen können. Dann kann ich gehen.

*

Die Gruppe kommt nur langsam voran, so dass Mairead rasch zu ihr aufschließen kann. Der Grund hierfür ist Brianna.
Mit siebzehn wurde sie die Frau des zehn Jahre älteren Finley und Mutter des wenige Monate alten Galahad. Brianna ist erneut schwanger, im zweiten oder dritten Monat, vermutet Mairead, und sehr schwach.
Das junge Mädchen spricht kaum, und ihre blasse, durchscheinende Haut, überzogen mit Blessuren und dunklen, verräterischen Flecken, offenbart eine Verletzlichkeit, die Mairead das Herz abschnürt.
Zeitweise vermag Brianna sich kaum auf den Beinen zu halten und kann nur weitergehen, wenn sie gestützt wird.
Mairead geht zu ihr und sagt: „Dein Sohn hat Hunger. Bitte setzt dich und gib ihm Milch. Wir werden eine Trage bauen.“
Logan und Boyd machen sich sogleich an die Arbeit, ohne dass Mairead sie dazu auffordern muss. Die vierzehnjährige Deirdre nimmt Mairead das Baby ab, und ihre halb so alte Schwester hilft Brianna sich zu setzen.
Einzig Finley bleibt tatenlos.
Die Hände in den Taschen seines Mantels verborgen steht er mit flackerndem Blick abseits. Er wirkt fahrig und armselig, und Mairead mag ihn nicht.
Groß gewachsen, hager und blasswangig, mit dem Antlitz eines Raubvogels. Kleine, engstehende Augen, die einen nie direkt ansehen, aber immer von irgendwoher zu beobachten scheinen.
Auch er spricht wenig, nicht einmal mit seiner Frau. Und er hilft ihr kaum. Vor allem deswegen will Mairead ihn nicht leiden.

Als der kleine Galahad versorgt, die Trage gebaut und Brianna darauf gelegt ist, machen Logan und Boyd sich wie selbstverständlich daran sie zu tragen.
„Finley und ich übernehmen das!“, sagt Mairead und sieht ihn herausfordernd an. Finley schreckt zusammen. „Ich–“, beginnt er mit geduckten, sich davonschleichenden Worten, „ich fühle mich nicht gut. Ich weiß nicht, ob ich das kann.“ Sein Blick huscht unentwegt von einem zum anderen.
„Keiner von uns fühlt sich gut“, entgegnet Mairead und an Logan und Boyd gewandt: „Ihr löst uns später ab.“ Dann dreht sie sich zur älteren Schwester: „Deirdre, bring mir den Jungen.“
„Aber das können wir doch machen“, wirft Claire ein, ein bezopftes Mädchen von gerade einmal sieben Jahren.
„Ja“, bekräftigt Deirdre ihre Schwester, „wir tragen ihn!“
Finley hebt linkisch das fordere Ende der Trage an – Widerwille offenbart jede seiner unbeholfenen Bewegungen.

Am frühen Nachmittag verschlechtert sich das Wetter drastisch. Der trübe, bleierne Himmel scheint jeden Moment über ihnen einstürzen zu wollen. Zwar ist die Kälte jetzt erträglicher, aber der Wind nimmt ständig zu. Zudem kündigt sich Regen an.
Mairead weiß, dass sie schnellstmöglich einen Unterschlupf finden muss; werden ihre Sachen durchnässt, wird keiner von ihnen die kommende Nacht überstehen.
Seit Minuten beobachtet sie Logan und Boyd, die Brianna tragen; sie selbst den Sack mit den wenigen Vorräten, die ihnen geblieben sind. Deutlich zeigt sich, dass die Männer am Ende ihrer Kraft sind.
Die Intervalle, in welchen sie und Finley Brianna trugen, wurden kürzer und kürzer. Finley stolperte häufig, ließ zuweilen gar die Trage los, so dass Brianna mehr als einmal auf die Erde kippte. Mit jedem Schritt stöhnte er vernehmlich und verlangte immer rascher nach Ablösung. In Mairead schwoll die Frage wie entzündete Mandeln, ob dieser Mann auch nur den Funken Ehrgefühl in sich trägt?
Im Gegenzug bot er an, den kostbaren Vorratssack zu tragen, aber Mairead traut ihm nicht. Als sie sein Angebot ausschlägt und ihm stattdessen sagt, er solle sich ausruhen, auf dass er baldmöglichst wieder die Trage übernehmen kann, blickt er sie erstmals direkt an.
Unverhohlener Hass schlägt Mairead entgegen. Aus winzigen, fast pupillenlosen Augen züngelt bitterernster Hass.
Mairead hält seinem Blick stand. Mehr noch. Unmißverständlich signalisiert sie ihm: Ich weiß, wer du bist! Und ich weiß, was du willst!

Wenig später tummeln sich erste Regentropfen in dem aufkommenden Sturm und plötzlich ist sie da. Keine zehn Schritte voraus steht eine große, dunkel gekleidete Gestalt, wie von Geisterhand auf ihren Weg gestellt.

*

„Wer seid Ihr?“, ruft Mairead und die Worte kommen weit weniger fest als gehofft. Der Mann – so schließt sie aus der Gestalt, die zu groß und breit für eine Frau ist – antwortet und rührt sich nicht. Unschlüssig was nun zu tun ist, wendet Mairead sich den anderen zu, die allesamt stehen geblieben sind und zu dem Fremden hinüberschauen.
Der Himmel über ihnen verdunkelt sich so rasch, als würde die Nacht im Eiltempo hereinbrechen. Wind zerrt verlangend an ihren Kleidern und plötzlich fällt Regen, unaufhörlich und in ganzen Stücken. Donnergrollen brandet jäh von allen Seiten zugleich auf sie ein und mit einem Mal schmeckt die flüssig gewordene Luft nach Furcht.
Entsetzen, splitterfasernackte Angst hockt sich unversehens auf die verzerrten Gesichter ihrer Begleiter; und schon grapscht sie auch nach Maireads Herz.
Hilfesuchend wendet sie den Blick dem Fremden zu; einer Eingebung folgend glaubt sie fest daran, dass er einzig dazu ausgesandt wurde, sie zu retten.

Der gewaltige Donnerschlag folgt unmittelbar auf den grellen Blitz, der die jäh vorherrschende Finsternis mit Licht überbordet und eine einzige, endlos lange Sekunde alle Schatten ausmerzt.
Mairead kann das Gesicht des Fremden erkennen – seine Augen. Dunkel, fast schwarz schneiden sie ihr die Kleider vom Leib, schälen das Fleisch von den Knochen und entblößen sie bis auf den Grund ihrer Seele. Für Mairead steht außer Frage, dass er in diesem Augenblick ihre Gedanken lesen kann: Auf dich habe ich mein Leben lang gewartet!
Einmal mehr wird es taghell und der Fremde winkt, bedeutet ihr unmissverständlich ihm zu folgen. Mairead zögert keine Sekunde. „Kommt, hier lang!“, befielt sie und läuft in die Richtung, die er eingeschlagen hat.

Ihr Weg führt steil bergan, so dass sie trotz aller Eile immer langsamer vorankommen und sich der Abstand zu ihrem Führer vergrößert. Eine felsige Rinne hinauf stürmt er vornweg, die hier und da von erdigen, teils grasbewachsenen Teppichen bedeckt ist, und sich zunehmend in eine wasserdurchspülte Rutsche verwandelt.
Mairead hat ihn fast schon aus den Augen verloren, als sie stürzt und den Sack mit den Vorräten fallen lässt. Unerwartet behände ist Finley an ihrer Seite. Doch anstatt ihr aufzuhelfen, greift er nach dem Sack, aber ein anderer kommt ihm zuvor.
In einer Bewegung hebt er Vorräte und Frau vom Boden auf. Mairead spürt den festen Griff, verblüfft über die Leichtigkeit, mit der er sie auf die Beine stellt.
Wie konnte er so schnell bei mir sein?, dümpelt es irgendwo in Maireads Geist. ER HAT AUF MICH AUFGEPASST!, glänzt es im Vordergrund.
Der kurze Moment der Nähe lässt sie erschaudern. Kindliche Glückseligkeit flirrt auf Maireads Haut.

„Die Vorräte! Er stiehlt meine Vorräte!“ Wie verdorbenes Essen speit Finley die wenigen Worte in das tosende Durcheinander. Aber nur die hysterisch schrillen Laute folgen dem Fremden, der geduckte, eckige Körper bleibt zurück und fährt herum. „Du allein bist schuld!“, schreit Finley Mairead an, „wenn wir hier sterben!“
Ein ohrenbetäubender Donnerknall meißelt seine Worte in ihr Gesicht und alle Glückseeligkeit ist zermalmt.

Binnen Sekunden sind alle nass bis auf die Knochen und Mairead fühlt, wie trotz der Anstrengung bereits die Wärme aus ihrem Körper flieht.
Besorgnis.
Zweifel.
Wieder die Schuldgefühle.
Mairead reißt sich davon los und blickt flehentlich bergauf; aber von dem Fremden ist nichts mehr zu sehen. Hat er sie tatsächlich getäuscht? Beraubt und im Stich gelassen?
Das konnte – durfte nicht wahr sein!
Die Augenblicke verrinnen. Weggespült von dem unablässig niederprasselnden Regen; weggespült die Hoffnung, dass sie sich täuscht, er zurückkommen wird.
Wie weggeworfen verharrt Mairead im Schlamm. Hinter ihr schreit das Kind, weinen die Schwestern und flucht Finley.
Mit jedem Wimpernschlag wird es gewisser. Er hat sie getäuscht. Hat auf eine Gelegenheit gewartet und ist mit der Beute verschwunden.
Wieder zerreißt ein Blitz die Finsternis und der erderschütternde Donnerschlag, der augenblicklich folgt, scheint Mairead auf die Füße zu katapultieren.
Niemand stirbt! Nicht solange ich lebe!
Mairead stößt Finley beiseite, der sich mit all seiner Wut vor ihr aufgebaut hat, und hastet zu den Mädchen hinunter. Aneinandergedrängt, das Baby schützend zwischen sich haltend, sind auch sie zu Boden gesunken; schluchzend, aller Hoffnung beraubt.
Mairead ist fast schon bei ihnen, als sie den Boden unter den Füßen verliert. Das kleine Stück Welt, auf das sie tritt, löst sich von dem felsigen Untergrund und rutscht ab. Und mit ihm Mairead.
Kurz vermag sie die Balance zu halten, dann aber gerät die Fahrt ins Stocken und Mairead kippt vornüber. Sie reißt die Arme vor, beim Aufprall schießt der Schmerz in ihre Handgelenke. Die Ellen hinauf bis zu den Schultern stehen ihre Arme in Flammen. Mairead schreit auf, jedoch weniger des glühenden Schmerzes wegen, vielmehr weil sie mit ansehen muss, wie die Schwestern mit dem Baby ungebremst in die beiden jungen Männer und Brianna krachen. Allesamt werden als ein Knäul aus Armen, Beinen und schreienden Gesichtern weggespült. Die Felsrinne wird zum todbringenden Sturzbach und schon giert er auch nach Maireads Leben. Sie wird herumgewirbelt, verliert die anderen aus den Augen und schlägt mit der Schulter, dann mit der Stirn gegen Stein.

*

Schreie. Hufschläge. Das Morden.
Wieder sieht Mairead Vater und Mutter sterben. Die Kinder, die Schwester und all die anderen. Unbeteiligt sieht sie zu und niemand nimmt von ihr Notiz.
Dann geht es weiter.
Unstetes Licht, irgendwoher Wärme.
Diesmal findet sie sich nicht unter dem Baum wieder, durch dessen lichtes Astwerk milde Herbstsonne tropft. Vor Maireads Augen zerrt ein nackter Mann an den Kleidern einer jungen Frau. Wehrlos lässt sie es geschehen.
Das Bild verschwimmt und verschwindet.
Übelkeit.
Mairead stöhnt, blinzelt – da ist er wieder.
Jetzt ist auch die Frau nackt, er trägt sie auf den Armen, kommt auf Mairead zu. Hinter ihr regt sich etwas, berührt sie am Rücken.
Schwindel.
Der Mann ist fast bei ihr, als ihr jäh bewusst wird, dass auch sie nackt ist.
Wieder Bewegung an ihrem Rücken – Haut berührt Haut.

Allmählich wird Mairead klar, dass sie nicht träumt, dass sie wach ist. Der Mann mit dem Mädchen steigt achtlos über sie hinweg. Mairead schließt und öffnet die Augen, noch immer ist ihr Blick getrübt.
Dann erkennt sie die Flammen, die Wärme spendend ein Stück abseits züngeln. Mairead möchte sich aufzusetzen, um hinter sich zu blicken; Schmerz flammt in ihren Händen auf, augenblicklich beginnt sie zu würgen.
Keuchend erbricht sie sich.
Hustet, spuckt und versteht.
Hände, Kopf, alles schmerzt. Dennoch lächelt Mairead. Der Mann steigt erneut über sie hinweg. Sie sieht ihn zum Feuer gehen, es nähren.
Mairead schließt die Augen und weiß: Er wurde ausgesandt, um mich zu retten!

Als Mairead wieder erwacht, dämmert der Morgen.
Noch immer knistert lebenspendend das Feuer, feuchte, grobe Wolle bedeckt ihren entblößten Leib. An ihren Rücken drängt sich ein hagerer, knochiger Mensch; Finley, denkt sie mit Schaudern, vielleicht aber auch eines der Mädchen.
Im Grunde ist es ihr egal. Denn vor ihr hebt und senkt sich eine breite Schulter. Mit gleichmäßigen, tiefen Atemzügen schläft vor ihr der Fremde, seine nackten Hinterbacken drängen sich an ihre Schenkel, sein breiter Rücken berührt ihre Brüste. Nach kurzem Zögern rückt sie von dem Körper hinter ihr ab und schmiegt sich an das Fleisch vor ihr. Der Fremde quittiert es auf gleiche Weise. Schlafend rückt er näher; einem Säugling gleich, der instinktiv die wärmende Nähe der Mutter sucht. Mairead seufzt. Ohne nachzudenken legt sie einen Arm um ihn.
Unverhofft ergreift er ihre Hand.
Vorsichtig.
Wissend.
Ohne Zweifel zärtlich.
Maireads Herz beginnt zu tanzen. Singen. Lachen und weinen. Es weitet sich, bis es ihre gesamte Brust ausfüllt. Die Stirn zwischen seine Schulterblätter gedrückt atmet sie seinen Duft ein.
Wenig später Schlaf.
Glück.

*

Ein Feuer hat den Dachstuhl und die Westmauern vor langer Zeit einstürzten lassen. Trotz ihres erbärmlichen Zustandes thront die Burgruine noch immer stolz über dem weiten Tal, das sich auf der andern Seite des steilen Felsendoms ausstreckt. Ein breiter, gemächlich strömender Fluss rahmt das wellenförmige Land in perfektem Halbkreis ein.
Oben ein fahler, gleichgültiger Himmel.
Mairead folgt dem Fremden nach draußen. Vorsichtig rückte er von ihr ab, stand auf und kleidete sich an. Als er merkte, dass auch Mairead nicht länger schlief, sah er sie kurz an. Er lächelte nicht, sagte kein Wort. Aber sein Gesicht sprach dennoch zu ihr.
Einladend.
Zurückweisend.

Jetzt steht er auf Mauerresten der Ruine, in deren Gewölbe er alle vor Stunden, weiß Gott, wie, in Sicherheit brachte, und blickt in die Ferne.
Mairead verweilt zwei Schritte dahinter und betrachtet ihn. Pechschwarzes, lockiges Haar fällt auf die Schultern seines fellbesetzten Mantels. Er ist groß, geradezu riesig. Trotz Maireads außergewöhnlicher Körperlänge überragt er sie um eineinhalb Köpfe. Dass der Mann über Bärenkräfte verfügt, sieht man ihm an. Stolz und Selbstvertrauen liegen in seiner Haltung, obgleich er im Herbst seines Lebens steht. Doch in dem kurzen Moment, als er sie ansah, wohnte seinem Gesicht ein Ausdruck bei – dunstig und zerrissen, wie sich auflösender Morgennebel.
Mairead kennt dies Gesicht. Aus ruhigen, dunklen Wassern blickte es ihr entgegen, oft in den jüngst verstrichenen Tagen.

„Wir könnten hier bleiben.“ Süßlich und herb, wie reifer Waldhonig dringt seine Stimme an Maireads Ohr.
„Hier“, antwortete sie fragend, „in dieser Ruine?“ Dabei drängt es sie zu: Wir? Du und ich?
„Nein. Dort unten.“
Mairead tritt neben ihn und folgt seinem Blick.
„Das Land scheint verlassen, dabei ist es fruchtbar. Wir könnten einen Graben ausheben, den Fluss im Westen stauen – so würde eine Insel entstehen, von allen Seiten geschützt.“
Mairead lauscht seinen Ausführungen. Nur flüchtig schaut sie nach unten, dann haften ihre Augen an seinem Profil.
„Der Fluss scheint tief zu sein, ist sicher nicht leicht zu überqueren. Und wenn wir erst–“, er wendet sich zu ihr und verstummt.

Maireads Augen empfangen ihn strahlend, ein scheues Lächeln umspielt ihre geöffneten Lippen. Auch seine Augen leuchten, aber der Mund bleibt schmal und straff. Auf dem Gesicht des Fremden fechten zwei Armeen um den Sieg einer längst verlorenen Schlacht.
Verzeih mir.
Ich werde dich niemals vergessen!

John gewinnt und verliert die Schlacht. Seine Kiefer entspannen sich, vertrautes, verlorengeglaubtes Glück macht seinen Mund lächeln. Er reicht Mairead die Hände, neigt sich zu ihr.
Verschwunden sind Leid und Angst, verschwunden der Tod der geliebten Frau – verschwunden ist alles.
Mairead legt ihre Hände in seine und vollführt jene winzige Bewegung, die es noch braucht, dass sich ihre Lippen finden, ihre Herzen berühren.

*

„Holt John! Er soll entscheiden, was mit dem Jungen geschieht.“

Der erste Winter war wider Erwarten leicht gewesen. Die folgenden schwer und jetzt, im sechsten Jahr, scheint es, als wolle das Land sie loswerden, endlich wieder mit sich allein sein.
Der vergangene Sommer war heiß und trocken vorübergeeilt, unfruchtbar und geizig zeigte sich der Herbst von seiner schlechtesten Seite. Schon früh im neuen Jahr waren die Vorräte aufgebraucht, noch immer versteckten sich die steifgefrorenen Böden unter undurchlässigem Weiß.
Der Hunger war zu Gast an allen Tischen.

Mairead findet John auf der Scheune. Mit Logan arbeitet er am Dachstuhl; ein Querbalken war unter der Schneelast gebrochen, muss zunächst gestützt, später gewechselt werden.
„John!“
Den Kummer, mit welchem Mairead nach ihm ruft, bemerkt er sofort. Mit einem letzten, kräftigen Hieb schlägt er den Eisensplint ein, reicht Logan den Hammer und steigt nach unten.
Liebevoll schließt er seine rundliche Frau in die Arme, hält sie fest und küsst sie. „Was ist passiert?“, fragt er und legt eine Hand auf ihren Bauch, das späte Wunder noch immer kaum begreifend.
„Boyd beschuldigt Galahad, Saatgut gestohlen zu haben.“
„Was sagt Galahad dazu?“
„Er streitet es ab, hatte den Sack jedoch bei sich.“
„Weiß Finley Bescheid?“
„Ja und er ist sehr aufgebracht! John, Boyd besteht auf die Abmachung.“
Als er den Namen seiner Frau vernimmt, steigt auch Logan vom Dach.

John vereinte Logan und Deirdre, hielt die Hand über sie, nahm ihnen den Schwur ab. Den selben Schwur, den auch er leistete. Die Auserwählte zu ehren, sie zu schützen und lieben. Jetzt und immer da.
John flüsterte die Worte in Maireads Ohr; kurz nachdem sie beschlossen zu bleiben. Vor Monaten tat Logan es ihm gleich; laut, bei einem der gemeinsamen Sonntagsessen, dass alle es hören konnten.
Am selben Tag offenbarte ihm Maidread das Wunder. John weinte vor Freude und Sorge. Warum schenkt ihnen Gott dies Kind? Jetzt – am Ende ihres Lebens.
Das ist nicht gut.
Ist wunderbar!

Gemeinsam gehen sie zu der kleinen Kapelle, die sie im Herbst vergangenes Jahr am Ostufer des aufgestauten Sees errichtet haben.
Mit dem Eintreffen von Mairead, John und Logan sind alle in der Gemeinschaft Lebenden versammelt.
„Hallo“, sagt John. Boyd reicht ihm die Hand, Finley schweigt und fixiert den Flecken Erde vor seinen Füßen. John nickt den übrigen zu und tritt vor den sechs Jahre alten Galahad, der ebenfalls den Blick gesenkt hält.
„Sieh mich an“, sagt John ruhig.
Vater und Sohn heben die Köpfe und blicken einander in die Augen.
„Sieh mich an!“, wiederholt John, noch immer ruhig aber endgültig. Galahad dreht sich zu ihm und erbleicht.
„Hast du den Sack gestohlen?“
Das farblose Gesicht des Jungen bricht auseinander und ein kaum vernehmliches Ja bröckelte daraus hervor.
„Warum? Wer hat dich dazu angestiftet?“ John widersteht der Versuchung Finley anzusehen, richtet seine Augen weiter auf den Jungen, der unter seinem Blick in zitternde Stücke zerfällt.
Schluchzen.
Dann gestehendes Schweigen.
„Niemand hat ihn angestiftet!“, kreischt Finley. „Der verdammte Bengel hat–“
„Ich habe den Jungen gefragt!“ John sieht Finley an und er verstummt.
„Galahad“, John kniet bei dem Jungen nieder, „hat dir wer gesagt, du sollst den Sack nehmen?“
Galahad sengt erneut den Blick, sein schmächtiger Körper bebt. „Nein“, sagt er unerwartet fest, „es war allein meine Idee!“
Finley entweicht ein Laut, wässern und erbärmlich – eines Menschen unwürdig.

John senkt für Sekunden den Blick, ehe er sich aufrichtet; schwerfällig, eine enorme Last stemmend, die ihm nur gewaltsam über die Lippen kommt: „Dann ist es entschieden! Wir alle haben es so bestimmt.“
Johns nächste Worte vollstreckten das Urteil, noch ehe der Henker von seiner Aufgabe weiß: „Boyd, es ist dein Recht, dem Dieb die rechte Hand abzuschlagen.“
Ein Ruck geht durch die Versammlung und mit einem Mal reden alle durcheinander. Der Junge schreit auf, als könnte er den drohenden Schmerz bereits fühlen. Er tobt, schlägt um sich, versucht sich loszureißen. Aber John hält ihn fest, bis er jäh verstummt und reglos wird.
„Ich–“, beginnt Boyd, „ich habe die Säcke ja wieder. Keiner hat einen Schaden, nicht war?“ Zustimmungsheischend schaut er sich um. „Ich denke, eine ordentliche Tracht Prügel sollte genügen.“
John tauscht einen Blick mit Mairead, ehe er sich wieder an Boyd wendet: „Es ist dein Recht, Boyd, und deine Pflicht!“
„Das kann ich nicht!“, entgegnet Boyd sofort und entschieden.
Darauf hat John gehofft. Er nickt Boyd zu und sagt ohne sich umzuwenden: „Dann fällt es dir zu, Finley!“
Der Vater des Jungen, der sich während all dessen schweigend in den Hintergrund geschoben und zuletzt ein Stück weit von der Gruppe entfernt hat, schreckt zusammen.
Alle Augenpaare sind auf ihn gerichtet, als er zurückkommt, den Arm des Jungen packt und das Messer aus der Scheide am Gürtel zieht.
„Nein!“, schreit Mairead und wirft sich zwischen die beiden. Finley stößt sie weg, und Mairead stolpert und fällt. John greift nach ihr, doch er ist zu spät.

*

In einem Sturzbach aus Blut und Schmerz kommt der Junge zur Welt und zerreißt seinem Vater das Herz.
Stunden hat Mairead geschrien und gekämpft; stundenlang John gebangt, gehofft und gotteslässterlich geflucht.
Nun liegt der Junge an ihrer Brust. Die wenigen Atemzüge, die übrig sind, gelten dem Mann, der sie festhält; der alles festzuhalten versucht, was nicht festzuhalten ist.

Mairead: „Die Jahre mit dir wiegen alles auf. Du warst meine Erfüllung! Du gabst mir Zeit, obgleich sie längst schon verstrichen war. Achte auf John J. und finde ihm eine Mutter. Werde glücklich. Versprich es mir, John! Werde glücklich, des Jungens und deinetwegen. Versprich es! Ich liebe dich.“

John: „Ja.“

Dann lässt sie das Atmen, und er sie los.

 

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