Wotan
Lukas Kaltmut, mein Nachbar, ist Neonazi und hat einen Pitbull-Terrier. Wotan. Er hat ein Programmier-Modul. Der Hund, nicht der Nazi. Hassen tu ich beide.
Sie marschieren über den Bürgersteig, hintereinander, kommen immer näher. Ich beobachte sie ganz genau, schiebe die Gardine noch etwas weiter zur Seite, halte das Fernglas gerade, konzentriere mich. Wotan trippelt über den Asphalt, dann hält er an.
Die Werbung preist Module für Hunde an, weil die damit ein gewöhnliches Klo benutzen können statt auf den Gehsteig zu scheißen. Mein Nachbar kann mich nicht leiden. Hat seinen Wotan umprogrammiert, so dass er neben meinen Mülleimer kackt. Da! Jetzt ... jetzt passiert's. Im Fernglas deutlicher zu sehen, als mir lieb ist. Ich balle die freie Hand zur Faust.
Kaltmut grinst den blauen Himmel an, Rücken gerade, Gesinnung schief. Man sollte ihm auch ein Modul einsetzen und ein bisschen was ... einprogrammieren. »Ethisch nicht vertretbar«, sagen die Politiker. Pah! Die haben ja auch nicht die Kacke vor dem Haus.
Ich hinke zum anderen Fenster. Kaltmut hat die Straßenseite gewechselt. Ich darf ihn nicht aus den Augen verlieren. Gleich wird er Frau Löser begegnen, die welkes Laub aus ihrer Vorgarten-Hecke pult.
Vorsichtig kippe ich das Fenster, um den Schall herein zu lassen. Gleich, gleich ...
Frau Löser sieht auf, Kaltmut marschiert wortlos an ihr vorbei, Wotan hinterher. Die Blicke von Frau und Hund kreuzen sich ... Wotan kläfft den Hitlergruß.
Frau Löser keift, ich schließe das Fenster. Habe genug gehört.
Fast alle Neonazis hier im Vorort haben ihren Hunden den Hitlergruß einprogrammiert, weil das Gesetz gegen verfassungsfeindliche Symbole nicht ganz eindeutig formuliert ist: Tiere sind für ihr Handeln nicht verantwortlich zu machen, meinte das Landgericht in erster Instanz, weil es keinen blassen Schimmer hat, wie die Module funktionieren.
Das »Heil« klingt gekläfft ziemlich authentisch, bloß das erhobene Pfötchen wirkt nicht besonders überzeugend.
Nacht.
Die Nacht schützt davor, gesehen zu werden. Es sei denn, jemand hat ein Infrarot-Sichtgerät. So wie ich.
Diese klobige Brille hab ich beim Einsatz in Afghanistan mitgehen lassen, genau wie die dicken Socken.
Ich schaue nach links, nach rechts ... kein Mensch auf der Straße.
Ganz in schwarz gekleidet, komme ich hinter meinem Mülleimer hervor, steige über Wotans Haufen, eile hinüber auf die andere Straßenseite, so schnell ich mit dem Gehstock kann.
Kaltmut hat einen Bewegungssensor an seiner Haustür, aber da muss ich gar nicht hin. Die Lücke zwischen seinem Wagen und dem Garagentor genügt. Wotan schläft hinter der Haustür, das sind keine fünf Meter.
Geräuschlos lasse ich mich auf den kühlen Boden sinken und packe den Pico-Computer aus. Display-Helligkeit auf Minimal, Funknetz an, Suche Start.
Wotans Modul erscheint als blinkender Schlüssel. Ich tippe auf das Display und starte den Crack. Sekunden später bin ich drin. Hundemodule müssen bei Aldi für 9,95 zu haben sein, also sparen sie an der Kryptographie.
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich die Befehlssequenzen überfliege. Die Module funktionieren visuell, obwohl Hunde Nasentiere sind – aber Software mit Geruchserkennung kriegen die Entwickler noch nicht hin.
Neben einem unscharfen Schwarzweißfoto steht der vordefinierte Befehl »Stuhlgang«. Das Foto zeigt meinen Mülleimer. Im Auslieferungszustand befindet sich an dieser Stelle das Bild einer ganz normalen Toilette - ein Kinderspiel für jedes Herrchen, die Grafik auszutauschen.
Ich gehe die Liste weiter durch, kraule dabei meinen Kinnbart.
Der Sandkasten auf dem Spielplatz: Urinieren.
Ein Foto von Frau Löser: Kläffe »Heil Hitler«.
Ein Foto von Herrchens Penis ...
Ach du meine Güte.
Frau Löser ist mit Duschen fertig, sie verlässt das Bad und ich klinke mich aus der Übertragung der Überwachungskamera aus. Ihr Mann hat die installiert. Er hat es nicht mehr geschafft, sie zu entfernen, der Krebs war schneller.
Langsam wird es hell. Ich mag die späte Dämmerung des Herbstes, bin lange vor der Sonne wach.
Der größte Teil meines Lebens besteht aus Warten. Auf eine Mail von den Kindern, auf »Wer wird Millionär?«, auf Frau Lösers tägliche Dusche, auf den Krankenwagen.
Es ist Zeit für meinen Cocktail. Ich hinke am Schrank entlang, in die Küche. Der Injektor liegt auf der Mikrowelle. Ansetzen, Zähne zusammenbeißen, Schuss. Wieder das Ende um Stunden, Minuten, Sekunden hinausgeschoben, das Warten verlängert.
Ich setze mich an den Küchentisch, neben das Fenster. Im Webradio läuft »Hot Days«, ein Popsong aus den Zwanzigern. Meine Hand wackelt. Als wäre sie nicht richtig festgeschraubt. Ausgeleierter Körper, schlaff, faltig, aber Lebenselexier in den Adern, Flausen im Kopf, seit über 90 Jahren.
Der Song verklingt, wird durch ein lauter werdendes Geräusch ersetzt. Es ist ein Martinshorn.
Endlich. Der Krankenwagen. Das Warten hat ein Ende.
Ich greife nach dem Fernglas und schiebe den Vorhang etwas zur Seite. Mein Spiegelbild im Fenster zeigt faltige Zufriedenheit.
Kurz darauf tragen sie den Neonazi aus seinem Haus. Er quiekt irgendwas, deutlich sprechen konnte er noch nie.
Als der Notarzt Richtung Krankenhaus düst, lehne ich mich zurück.
»Kack keinem ollen Hacker vor die Tür«, sage ich zu meinem Spiegelbild, und es lacht, lacht, lacht.
Thema des Monats Januar+Februar 2007: Täuschung