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Worte sagen
Ich sage ihr, wie alles sein wird. Ich weihe sie in meine Pläne ein, ich erzähle ihr von Leuten, denen ich noch nicht begegnet bin, von wichtigen Entscheidungen, die ich noch nicht getroffen habe und von Orten, die ich nichtmal buchstabieren könnte. Ich erzähle ihr, wie ich Banken überfallen, Meere durchschwimmen und Maschinen erfinden werde.
Später.
Aber sie ist schon eingeschlafen und hört mir also gar nicht zu.
Sie ist das Mädchen Nummer fünfundzwanzig. Eine Art Jubiläum, eigentlich ein Grund zum Feiern. Eigentlich.
Die Stille kommt mir in diesem Moment sehr laut vor. Die Stille macht ein tickendes Geräusch, das durch meinen Kopf hallt wie durch einen leeren Saal.
(Stille Nacht. Heilige Nacht)
Wir haben einen Palast aus leeren Bierflaschen gebaut. Die meisten sind inzwischen umgefallen, ich weiß nicht mehr warum, vielleicht haben wir getanzt, vielleicht bin ich auch einfach ausgerutscht und hingefallen. Jedenfalls fehlt der ganze östliche Gebäudeflügel. Die meisten Flaschen sind wohl unters Bett gerollt. Ich denke, ich werde sie wieder hervorholen und anschließend einen neuen Palast aufstellen, noch größer, mit noch viel mehr Flaschen. Nachher. Mal sehen.
Bevor wir total betrunken waren, haben wir über Poesie geredet. Gedichte, hat sie gesagt, Gedichte sind eigentlich doch ziemlich scheiße.
Ich sagte Okay und dann nichts mehr. Weil ich da schon nicht mehr fähig war für solche Diskussionen. Und weil sich auf Okay soviele Sachen reimen.
Danach hat sie dann nicht mehr viel geredet, oder ich habe halt nicht richtig hingehört.
(Jedes zehnte Wort habe ich noch mitbekommen)
Wir haben Bier und Weihnachtsschmuck gekauft.
Die Schachteln liegen immer noch wild auf dem Boden vor der Tür verstreut. Man muss an Segelschiffe ohne Segel denken; eine ganze Flotte, die hier in diesem winzigen Kabuff auf Grund gelaufen ist.
Genügend Schmuck für einen Riesenweihnachtsbaum, den wir uns dann natürlich nicht mehr leisten konnten.
Und Jesus, der schon die ganze Nacht von seinem Kruzifix auf uns herunterschaut, macht ein Gesicht, als hätte er das alles gleich vorhergesehen: Dass das Geld nicht langen würde. Dass wir am Ende doch nur wieder stockbetrunken wären. Und müde und lustlos und trotzdem glücklich, auf eine Art.
Aber jetzt ist fast schon Morgen und alles wieder anders.
Das hier ist nicht meine Wohnung, ich kann also einfach wieder gehen, so tun, als wäre ich nie hier gewesen.
Ich weiß nicht einmal ihren Namen. Sie hat ihn im Laufe des Abends sicher irgendwann erwähnt, aber man kann sich ja nicht alles merken.
Und diese Namen sind nicht wichtig, diese Addressen, Telefonnummern und Fakten sind nicht wichtig, Wahrheit ist nicht wichtig. Liebe ist nicht wichtig. Diese ganzen Worte.
Worte sind nur Souvenirs, blödsinnige Beweise für irgendwelche Dinge, die es gar nicht gibt.
Ich bin froh, dass niemand mitschreibt, wenn ich denke.
Und diese Mädchen sind doch eigentlich wie Déjà Vus. Wie Steine im Sand am Meer. Man findet sie, man steckt sie ein und nimmt sie mit, und erzählen tut man am besten niemandem davon. Weil der Finderlohn allein zuwenig ist, weil man sowieso nicht teilen will. Diese rechtmäßigen zehn Prozent, das reicht doch nie und nimmer: Ein halber Arm, ein Stück vom Fuß, ein bisschen Seele, toll.
Ich denke, ich bin zu zehn Prozent verliebt. In dieses Mädchen ohne Namen. Allerhöchstens.
Ich stehe auf und gehe zu den Kisten mit dem Weihnachtsschmuck. Es ist kalt im Zimmer, das Fenster schließt nicht richtig, weil da überall die Kabel von den Lichterketten hängen.
Einen Moment lang glaube ich, sie sagt da was, im Schlaf. Aber das ist nur das kleine Radio auf dem Fenstersims. Die Nachrichtensprecherin nuschelt, als wüsste sie, dass ihr um diese Zeit niemand mehr zuhört. Es ist kurz nach sechs, bald geht wohl die Sonne auf.
Weil mir nichts Besseres einfällt, dekoriere ich das Zimmer. Ich hänge Christbaumkugeln an die Deckenlampe, stecke Dinge aus Stroh an die Garderobenhaken. Ich wickle Jesus in Lametta ein. Ich sage: Schau mal, wie der plötzlich glitzert.
Zu der Frau im Radio sage ich das.
Und ihr Genuschel könnte ja auch eine Antwort sein.
Ich habe Jesu Kopf umwickelt, er trägt eine Art Augenbinde aus Lametta. Das ist ein blöder Gedanke, aber er soll nicht sehen, wie ich durch das Zimmer taumle, zur Heizung, um sie aufzudrehen, und er soll nicht sehen, wie ich die leeren Schachteln und Behälter aufeinanderlege, wie ich mir meine Jacke greife und mich noch einmal umsehe, ob ich was vergessen habe, außer ihrem Namen.
Da ist das Foto auf dem Nachttisch, mit der Frau, die lächelt und nicht ihre Mutter ist, aber-wär-doch-schön-wenn-es-so-wäre, da sind die beiden Turnschuhe, die nicht zueinander passen, weil sie sich nur einzeln stehlen ließen, da liegen außerdem die ganzen leeren Flaschen, reglos wie die Opfer eines Krieges, den wir offenbar verschlafen haben.
Besser man gewöhnt sich erst gar nicht an das alles, besser man geht, bevor sowas passiert.
Ich ziehe den Stecker für die Lichterketten und lasse es vorm Fenster dunkel werden. Jetzt sieht man den Mond und ein paar Sterne, ein tolles Gefühl, als hätte ich sie alle angeknipst.
Ich habe nichts zum Schreiben da, aber Zettel ändern ja bekanntlich auch nichts mehr. Zettel sind ziemlich flach, da gehen wirklich tiefe Sätze gar nicht drauf.
An der Tür bleibe ich noch einmal stehen. Das Sofa liegt im Schatten, ich kann ihr Gesicht nicht sehen. Vielleicht ist sie ja schon wach.
Okay, sage ich, so laut, dass sie es hören muss, wenn sie wirklich wach ist.
Okay, ich gehe jetzt.
Das klingt nicht sehr romantisch, nicht wie die Sätze in den Filmen.
Und eigentlich ist mir ganz egal, ob sie mich hört. Denn wenn sie mich nicht hört, dann eben eine andere, eine wird schon immer da sein, neben mir wird immer eines dieser Mädchen sitzen, und zuhören, wenn ich die immergleichen Geschichten erzähle, zum hundersten Mal, zum tausendsten Mal. Diese Geschichten, die davon handeln, wie alles sein wird. Wie ich Menschenleben retten, wie ich Einschaltquoten sprengen und Bewässerungssysteme für die Wüste konstruieren werde, wie ich, ich, ich.
Und ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, wann hier der nächste Bus kommt und wohin der fährt. Und ob da überhaupt noch einer kommt.
Eines dieser Mädchen hat mir mal gesagt: Das stimmt doch alles nicht, du hast doch gar nicht vor, die Welt zu ändern. Das sind doch alles Lügen!
Aber da stand ich schon in der Tür, mit der Jacke in der Hand, einem Ticken in den Ohren, und einer Wüste auf der Zunge. Eigentlich wollte ich noch sagen, dass das doch gar nicht wichtig ist, dass ich doch gar nicht lügen will. Nur reden, Worte sagen. Erzählen, wie alles sein könnte. Später. Irgendwann.
Aber ich bin dann doch gegangen, ohne was zu sagen. Das alles war ja nicht zu ändern.
(Schweigen ist Gold)