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Worte sagen

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15.02.2003
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Worte sagen

Ich sage ihr, wie alles sein wird. Ich weihe sie in meine Pläne ein, ich erzähle ihr von Leuten, denen ich noch nicht begegnet bin, von wichtigen Entscheidungen, die ich noch nicht getroffen habe und von Orten, die ich nichtmal buchstabieren könnte. Ich erzähle ihr, wie ich Banken überfallen, Meere durchschwimmen und Maschinen erfinden werde.
Später.

Aber sie ist schon eingeschlafen und hört mir also gar nicht zu.
Sie ist das Mädchen Nummer fünfundzwanzig. Eine Art Jubiläum, eigentlich ein Grund zum Feiern. Eigentlich.

Die Stille kommt mir in diesem Moment sehr laut vor. Die Stille macht ein tickendes Geräusch, das durch meinen Kopf hallt wie durch einen leeren Saal.
(Stille Nacht. Heilige Nacht)

Wir haben einen Palast aus leeren Bierflaschen gebaut. Die meisten sind inzwischen umgefallen, ich weiß nicht mehr warum, vielleicht haben wir getanzt, vielleicht bin ich auch einfach ausgerutscht und hingefallen. Jedenfalls fehlt der ganze östliche Gebäudeflügel. Die meisten Flaschen sind wohl unters Bett gerollt. Ich denke, ich werde sie wieder hervorholen und anschließend einen neuen Palast aufstellen, noch größer, mit noch viel mehr Flaschen. Nachher. Mal sehen.

Bevor wir total betrunken waren, haben wir über Poesie geredet. Gedichte, hat sie gesagt, Gedichte sind eigentlich doch ziemlich scheiße.
Ich sagte Okay und dann nichts mehr. Weil ich da schon nicht mehr fähig war für solche Diskussionen. Und weil sich auf Okay soviele Sachen reimen.
Danach hat sie dann nicht mehr viel geredet, oder ich habe halt nicht richtig hingehört.
(Jedes zehnte Wort habe ich noch mitbekommen)

Wir haben Bier und Weihnachtsschmuck gekauft.
Die Schachteln liegen immer noch wild auf dem Boden vor der Tür verstreut. Man muss an Segelschiffe ohne Segel denken; eine ganze Flotte, die hier in diesem winzigen Kabuff auf Grund gelaufen ist.
Genügend Schmuck für einen Riesenweihnachtsbaum, den wir uns dann natürlich nicht mehr leisten konnten.

Und Jesus, der schon die ganze Nacht von seinem Kruzifix auf uns herunterschaut, macht ein Gesicht, als hätte er das alles gleich vorhergesehen: Dass das Geld nicht langen würde. Dass wir am Ende doch nur wieder stockbetrunken wären. Und müde und lustlos und trotzdem glücklich, auf eine Art.

Aber jetzt ist fast schon Morgen und alles wieder anders.
Das hier ist nicht meine Wohnung, ich kann also einfach wieder gehen, so tun, als wäre ich nie hier gewesen.
Ich weiß nicht einmal ihren Namen. Sie hat ihn im Laufe des Abends sicher irgendwann erwähnt, aber man kann sich ja nicht alles merken.
Und diese Namen sind nicht wichtig, diese Addressen, Telefonnummern und Fakten sind nicht wichtig, Wahrheit ist nicht wichtig. Liebe ist nicht wichtig. Diese ganzen Worte.

Worte sind nur Souvenirs, blödsinnige Beweise für irgendwelche Dinge, die es gar nicht gibt.
Ich bin froh, dass niemand mitschreibt, wenn ich denke.

Und diese Mädchen sind doch eigentlich wie Déjà Vus. Wie Steine im Sand am Meer. Man findet sie, man steckt sie ein und nimmt sie mit, und erzählen tut man am besten niemandem davon. Weil der Finderlohn allein zuwenig ist, weil man sowieso nicht teilen will. Diese rechtmäßigen zehn Prozent, das reicht doch nie und nimmer: Ein halber Arm, ein Stück vom Fuß, ein bisschen Seele, toll.
Ich denke, ich bin zu zehn Prozent verliebt. In dieses Mädchen ohne Namen. Allerhöchstens.

Ich stehe auf und gehe zu den Kisten mit dem Weihnachtsschmuck. Es ist kalt im Zimmer, das Fenster schließt nicht richtig, weil da überall die Kabel von den Lichterketten hängen.
Einen Moment lang glaube ich, sie sagt da was, im Schlaf. Aber das ist nur das kleine Radio auf dem Fenstersims. Die Nachrichtensprecherin nuschelt, als wüsste sie, dass ihr um diese Zeit niemand mehr zuhört. Es ist kurz nach sechs, bald geht wohl die Sonne auf.
Weil mir nichts Besseres einfällt, dekoriere ich das Zimmer. Ich hänge Christbaumkugeln an die Deckenlampe, stecke Dinge aus Stroh an die Garderobenhaken. Ich wickle Jesus in Lametta ein. Ich sage: Schau mal, wie der plötzlich glitzert.
Zu der Frau im Radio sage ich das.
Und ihr Genuschel könnte ja auch eine Antwort sein.

Ich habe Jesu Kopf umwickelt, er trägt eine Art Augenbinde aus Lametta. Das ist ein blöder Gedanke, aber er soll nicht sehen, wie ich durch das Zimmer taumle, zur Heizung, um sie aufzudrehen, und er soll nicht sehen, wie ich die leeren Schachteln und Behälter aufeinanderlege, wie ich mir meine Jacke greife und mich noch einmal umsehe, ob ich was vergessen habe, außer ihrem Namen.

Da ist das Foto auf dem Nachttisch, mit der Frau, die lächelt und nicht ihre Mutter ist, aber-wär-doch-schön-wenn-es-so-wäre, da sind die beiden Turnschuhe, die nicht zueinander passen, weil sie sich nur einzeln stehlen ließen, da liegen außerdem die ganzen leeren Flaschen, reglos wie die Opfer eines Krieges, den wir offenbar verschlafen haben.
Besser man gewöhnt sich erst gar nicht an das alles, besser man geht, bevor sowas passiert.

Ich ziehe den Stecker für die Lichterketten und lasse es vorm Fenster dunkel werden. Jetzt sieht man den Mond und ein paar Sterne, ein tolles Gefühl, als hätte ich sie alle angeknipst.
Ich habe nichts zum Schreiben da, aber Zettel ändern ja bekanntlich auch nichts mehr. Zettel sind ziemlich flach, da gehen wirklich tiefe Sätze gar nicht drauf.
An der Tür bleibe ich noch einmal stehen. Das Sofa liegt im Schatten, ich kann ihr Gesicht nicht sehen. Vielleicht ist sie ja schon wach.
Okay, sage ich, so laut, dass sie es hören muss, wenn sie wirklich wach ist.
Okay, ich gehe jetzt.

Das klingt nicht sehr romantisch, nicht wie die Sätze in den Filmen.
Und eigentlich ist mir ganz egal, ob sie mich hört. Denn wenn sie mich nicht hört, dann eben eine andere, eine wird schon immer da sein, neben mir wird immer eines dieser Mädchen sitzen, und zuhören, wenn ich die immergleichen Geschichten erzähle, zum hundersten Mal, zum tausendsten Mal. Diese Geschichten, die davon handeln, wie alles sein wird. Wie ich Menschenleben retten, wie ich Einschaltquoten sprengen und Bewässerungssysteme für die Wüste konstruieren werde, wie ich, ich, ich.

Und ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, wann hier der nächste Bus kommt und wohin der fährt. Und ob da überhaupt noch einer kommt.
Eines dieser Mädchen hat mir mal gesagt: Das stimmt doch alles nicht, du hast doch gar nicht vor, die Welt zu ändern. Das sind doch alles Lügen!
Aber da stand ich schon in der Tür, mit der Jacke in der Hand, einem Ticken in den Ohren, und einer Wüste auf der Zunge. Eigentlich wollte ich noch sagen, dass das doch gar nicht wichtig ist, dass ich doch gar nicht lügen will. Nur reden, Worte sagen. Erzählen, wie alles sein könnte. Später. Irgendwann.

Aber ich bin dann doch gegangen, ohne was zu sagen. Das alles war ja nicht zu ändern.
(Schweigen ist Gold)

 
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"Das hier ist nicht meine Wohnung, ich kann also einfach wieder gehen, so tun, als wäre ich nie hier gewesen.
Ich weiß nicht einmal ihren Namen. Sie hat ihn im Laufe des Abends sicher irgendwann erwähnt, aber man kann sich ja nicht alles merken.
Und diese Namen sind nicht wichtig, diese Addressen, Telefonnummern und Terminkalender sind nicht wichtig, Wahrheit ist nicht wichtig. Liebe ist nicht wichtig. Diese ganzen Worte."

Diesen Absatz finde ich persöhnlich am bedeutensten; nicht am schönsten, aber er ist irgendwie das Zentrum des ganzen. Da zeigt der Prot. sein Gesicht. Zeigt, das es auch etwas anderes gibt in der Welt als Spiele und Haschen nach dem Wind. Zeigt, wie er dazu steht- dass er nicht dazu steht.
Dass er nicht einmal mehr zu dieser Frau, zu dieser einen Nacht mit ihr stehen kann.

Das finde ich alles irgendwie unheimlich einleuchtend & klar. Und natürlich absolut vollendet formuliert, fließend, mit 'echten' Formulierungen und Metaphern nach meinem Geschmack.
Nicht bunt, aber in millionen Grauschattierungen, die irgendwie wirklich wirken.

"Bevor wir total betrunken waren, haben wir über Poesie geredet. Gedichte, hat sie gesagt, Gedichte sind eigentlich doch ziemlich scheiße."
betrunken wurden, oder?
Klasse Satz, im übrigen.

Da waren vielleicht noch irgendwo Fehler, die mir aufgefallen sind, aber, und ich will jetzt nicht schleimen, es ist nuneinmal so, die Geschichte hat meinen Kopf ganz voll gemacht mit Bildern und Gedanken.
Ich finde sie wirklich wundervoll.

Kann man anders sehen, da kann man Handlung vermissen, 'wahre' Tiefe oder sowas. Oder Farbe. Oder dass du nicht jeden zweiten Satz nur anreisst, vor allem die des Mädchens.
Ich bin wirklich tief, tief beeindruckt und berührt.

Nachtrag: ich weiß garnicht, wieso mir das ganze hier so sehr zu- und allgemein so viel -sagt, Vielleicht triffte s eben nur genau meinen Geschmack. Vielleicht liegt es daran, dass ich mal eine ähnliche Geschichte geschrieben habe, die ziemlich mislungen igrendwo auf meinem Desktop vor sich hingammelt.
Vielleicht finde ich die Geschichte viel toller, als sie eigentlich ist. Aber ich finde sie irre toll.

Darf man fragen, wie alt der Herr (erinnere mich entfernt an die Nennung des Namens 'Christoph') ist? Wenn da jetzt etwas unter 20 kommt, werde ich neidisch...

 

Hallo wolkenkind,

der Weltenretter, der noch nicht einmal weiß, wann der nächste Bus fährt, benutzt die Illusion, um sein letztlich desillusionierendes, egoistisches Verhalten ausüben zu können. Dieser Aspekt gibt der Geschichte einen ungewöhnlichen Inhalt, der sie von anderen `Kein-Geld-Alkohol-Stories´ abhebt.
Die Gleichgültigkeit des Mannes ist brutal, suchen die Frauen bei ihm doch Stärke, Idealismus, nicht streng rational durchdachte Ausnutzung.
Wahrscheinlich ist sein Verhalten gegenüber dem Kruzifix auch eine Anspielung, aber diese ist nur ein Mosaikstein im Gesamtbild.
Eine gute Mischung aus Bildern und Charakterbeschreibung. Ich habe es zwar lieber, wenn so etwas in ein Gesamtbild (möglichst kontrastierend) eingebettet ist, aber trotzdem hat mich der Text angesprochen.

Tschüß… Woltochinon

 

Danke euch beiden fürs Lesen der Geschichte und die Antworten.

@all apologies
Ich glaube aus deiner Antwort rauszulesen, dass du den Prot nicht grundsätzlich unsympathisch fandest. Das freut mich besonders, weil ich gerade diese Grauzonen-Typen mag.
Diesmal keine bunten Charaktere, keine bunten Metaphern, keine abgedrehte Handlung.

Allerdings glaub ich auch, dass sowas nicht jedem gefällt, die meisten Leser können mit den typischen Abschiedsgeschichten ja doch noch mehr anfangen, ich experimentiere halt lieber mit der Sprache.
Ach ja... der Herr macht gerade Abitur, gibt trotzdem keinen Grund zum Neidisch-sein :D

@woltochinon
Interessant, wie unterschiedlich man den Prot sehen und beurteilen kann. Sicher ist er in gewisser Hinsicht brutal, aber wie das Mädchen darauf reagiert, bleibt ja im Dunklen. Vielleicht ist sie ja auch nicht gerade zimperlich, würde evtl. sogar ähnlich denken.
Eigentlich wollte ich, dass der Kontrast erst beim Leser entsteht, dass der Prot keinen direkten "Gegenspieler", worunter auch das Schicksal fallen würde, braucht. Aber ich bin eben noch kein Kafka ;)

Gruß, Christoph

 

Hallo wolkenkind,

eigentlich finde ich es gut, wenn Du "Du" bleibst- einen Kafka hatten wir schon...
Selbst wenn die Frau genauso wäre- seine Einstellung gegenüber Frauen ist schon ziemlich verachtend (in einem Fall war sie ganz sicher nicht wie er).

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo Wolkenkind,
nach längerer Zeit schau ich mich hier mal wieder etwas gründlicher um und bleibe: natürlich an Deinem Text hängen, und das gerne. Vom ersten Satz an nimmt er mich gefangen, dieser Grauzonen-Typen-Text. Das kann er, auch ohne Handlung, auch mit seinem offenen Ende. Er lebt von den Bildern die Du schaffst, von der Behutsamkeit, mit der Du Worte einsetzt, eben: von Deinem ganz eigenen Stil.
So, genug gelobt.
Jetzt zum Tadel: der letzte Satz, der in Klammern, stört mich gewaltig.

Gruß
Bobo

 

Hallo Bobo,
Danke für dein Lob, genau dieses "gefangen nehmen" will ich mit meinen ersten Sätzen und Abschnitten erreichen. Der Rest der Geschichte soll dann lediglich nicht enttäuschen, was der Anfang verspricht.

Dass sich einige an den Klammern im Text stören, habe ich mir schon fast gedacht. Allerdings wird durch die Klammern noch eine Erzählebene eingefügt, ist also nicht bloß Schmuck ;)
Der letzte Satz soll übrigens eine Art traurig-ironische Version des Sprichworts sein.

Falls es irgendwelche einleuchtenden Argumente gegen den letzten Satz gibt, lasst es mich wissen :)

Gruß,
Christoph

 

Wolkenkind,
nicht die Klammern sind es - der Satz ist es, der mich stört. Das ist nicht einleuchtend, sondern subjektiv. Und darum bleib ich dabei: er ist überflüssig.

Gruß
B.

 

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