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Worte an das Gefallene

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18.04.2003
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Worte an das Gefallene

Worte an das Gefallene

Ich nehme dich mit auf eine Reise. Wohin sie führt, weiß nur ich. Die Reise gleicht einem langen Spaziergang. Beim Gedanken an die Ziellosigkeit ist dir nicht wohl; da du aber stets stärker warst als ich, fürchtest du mich nicht. Wir gehen durch einen Wald, amüsieren uns, die Welt scheint so zu sein wie immer. Doch in meinem Innern lodert ein Feuer, das du nicht ahnst, bereit dich zu verzehren.
Unser Weg führt uns schließlich zu einem Brunnen. Es ist kein gewöhnlicher Brunnen, kein Eimer ist zu sehen, keine Vorrichtung Wasser aus ihm zu ziehen - wahrscheinlich enthält er nicht einmal etwas. Zur Probe werfen wir Steine in das dunkle Loch, das sich vor uns auftut. Kein Plätschern, kein trockener Aufprall ist zu hören. Ich habe gefunden, wonach ich suchte.
Mit all meiner grenzenlosen Wut stoße ich dich so wie du bist in den dunklen, bodenlosen Brunnen, denjenigen des Vergessens und der Gleichgültigkeit. Noch klammerst du dich an den Rand des Brunnens und lächelst mich an. Doch ich steh nur da, schau auf dich und weiß, dass ich keine Hand nach dir ausstrecken werde. Ich steh nur da und warte, dass du endgültig den Halt verlierst und fällst. Meine Wut war grenzenlos doch jetzt ist sie nicht mehr stark genug dir den letzten Stoß zu geben und dich für immer in diesem Loch verschwinden zu sehen. So bleibt nur das Warten. Du wirst niemals aus eigener Kraft wieder aus dem Brunnen gelangen, dein Ende ist unausweichlich. Trotzdem stehe ich immer noch regungslos da - worauf warte ich denn? Ich erkläre mein Verhalten, indem ich mir sage, dass ich nur mit eigenen Augen sehen will, wie du stürzt. Um mir die Zeit zu vertreiben, überlege ich mir Worte, die ich dir mit auf den Weg geben werde, wenn deine Kräfte verzehrt sind. Es sind Worte voller Hass und Verachtung. In Gedanken forme ich einen Grabstein des Hohns.
Wenn der Moment gekommen ist, sind es diese Worte, die dich auf deiner Reise in die Tiefen des Brunnens begleiten sollen. Meine Worte des endgültigen Abschieds. Ich schaue dich noch einmal an. Ich sehe keine Panik in deinem Ausdruck. Du lächelst überlegen wie immer. Woher nimmst du nur die Kraft? Woher nimmst du dieses Gefühl der Überlegenheit? Du hängst am Rand des Brunnens dazu verdammt zu stürzen. Niemand kann dich retten außer mir und ich werde es nicht sein, ich werde es nicht sein. Ich bin frei und kann gehen, wann ich will. Du musst meinen Gedanken erraten haben, denn plötzlich lächelst du dein schönstes Lächeln, bist schöner als du jemals warst. In all deiner Schönheit öffnest du die Hände und stürzt in die Tiefe. „Nein“, schreie ich, “lass mich nicht alleine, denn ich lebe nur für dich und durch dich.“ Wie von Sinnen folge ich dir in den Brunnen. Ich taumle, überschlage mich im Fall wie ein nasses Stück Holz in der Brandung, verliere das Gefühl für Raum und Zeit. „Wo bist du? Ich rette dich!“
Langsam stabilisiere ich meinen Fall und da sehe ich dich. „Halte durch, ich rette dich“. Ich fliege langsam näher - doch was ist das. Einzelne Stücke deiner makellosen Oberfläche scheinen sich zu lockern. Du bist nicht für den Fall geschaffen. Ich sehe, dass er dich vernichten wird. Alles in mir krampft sich in tiefer Verzweiflung zusammen, ich muss mich beeilen. Schon lösen sich einige Stücke. Ich versuche sie zu fangen, doch sie versengen meine Hände, hinterlassen tiefe Schnittwunden im Fleisch. Ich kann sie nicht greifen. Deine Schönheit schwindet. Nein, das kann nicht sein! Hör auf damit! Ich nähere mich viel zu langsam. Wie ein Wahnsinniger schreie ich, weine Tränen der Verzweiflung. Immer größere Stücke lösen sich, meine Hände sich nur noch Fetzen, vom sinnlosen Versuch deine Schönheit festzuhalten. Mit einem Mal löst sich ein riesiges Stück deiner Oberfläche. Ich will zumindest dieses eine retten! Doch wenn es genauso heiß und rasierklingenscharf ist wie die anderen, wird der Versuch es zu halten mein Untergang sein. Es ist mir egal, denn ich bin nur für dich, das erkenne ich. Das ist die Wahrheit des Brunnens. Kurz bevor mich das große Stück erreicht, werfe ich einen letzten Blick auf dich, der mich voller Ekel erschaudern lässt. Von dir ist nichts weiter geblieben als ein hässlicher, schleimiger Brocken, der einem geschweiften Meteor gleich stürzt. Ich fange das letzte Stück deiner Schönheit nicht, sondern trete es beiseite, kurz bevor es mich zerschmettert hätte. Es schießt an mir vorüber, versengt mir Gesicht und Haare, schneidet mir eine klaffende Wunde in den Oberarm. In diesem Augenblick tiefster Verzweiflung, ohne Hoffnung tut sich eine Kraft in mir auf, die mich mit meinem gesunden Arm nach oben greifen lässt. Ich stehe wieder am Rand des Brunnens. Alle Wunden sind verheilt. Verwirrt, der Ohnmacht nahe, taumle ich vom grausamen Brunnen weg. Weg, weg nur weg!

Seit diesem Tag besuchte ich oftmals den Brunnen, für den ich nur noch die wundervollsten Namen habe. Viele Dinge habe ich seitdem in den Brunnen geworfen. Sie haben ihn verändert. In seinen schwarzen Tiefen glänzen Sie wie die Sterne in einer klaren Nacht - manche heller, manche blasser. Wenn ich mich über den Brunnen beuge, höre ich den letzten Hall der Worte des Abschieds, die ich ihnen einst mit auf den Weg gab. Einzelne Sterne in diesem Brunnen sind heller als die anderen und leuchten wie Diamanten in schimmernden Farben. „Greif nach uns“, rufen Sie mir zu, „noch sind wir nicht verloren. Wir lieben dich. Du brauchst uns“. Ich antworte ihnen nicht. Ich lasse meinen Arm in die Unendlichkeit des Brunnens greifen und packe einen der Sterne in seinem grenzenlosen Fall. In meinen Händen zerfällt er zu Staub. Vorsichtig wickele ich den Staub in ein Tuch und nehme ihn mit mir. Es ist Zeit weiter zu gehen.

 

hi florakel.
Eine interessante Betrachtungsweise über den Umgang mit vergänglichem und vergangenem.
Leider wird der Lesegenuss aber durch seltsame Zeichensetzung getrübt(Kommata)
Der Versuch, dann doch noch zu retten, ist für meinen Geschmack ein wenig zu Verletzungsintensiv beschrieben, aber genial finde ich "den Grabstein aus Hohn", der überlebt selbst das Ende deiner Geschichte und wird vielleicht einmal als "geborgter" Ausdruck in einer meiner Geschichten einen würdigen Platz finden.
Gruß Lord

 

Hallo Lord Arion,

danke für den Hinweis. Ich hab den Text auf die Schnelle nochmal durchgesehen und ein paar Kommata entfernt (die in der Tat vollkommen fehl am Platze waren). Trotzdem sollte der assoziative Stil erhalten bleiben.

Das war meine erste Veröffentlichung auf Kurzgeschichten.de. Bei weiteren Geschichten werde ich mir mehr Zeit für die Überarbeitung nehmen.

Wenn du den "Grabstein des Hohns" verwenden willst, dann bitte nur mit Copyright Vermerk im Nachwort ;-).

Viele Grüße,
florakel

 

Hallo florakel,

mir hat Deine Geschichte recht gut gefallen, das Brunnenmotiv paßt zu der Beschreibung des ´hinter- sich- lassens´ von Dingen (wohl auch Werten?).
Der Protagonist kann sich selbst aus dem Brunnen des Vergessens und der Gleichgültigkeit befreien, aber er greift (von einem sicheren Standpunkt aus) auch immer wieder hinein. In der `Rettungsaktion´ sehe ich beschrieben, dass man von manchen (eigenen) Dingen schlecht loskommt. Da spiegelt sich auch eine gewisse Beschränktheit in den Möglichkeiten der Menschen wider. (Ich weiß nicht, ob Du den Brunnen in Bezug zur Freud´schen Psychologie dargestellt hast, Deine Geschichte hat auch einen psychologischen Schwerpunkt).
Den „Grabstein des Hohns“ habe ich mir auch gleich angekreuzt, paßt gut.

Tschüß... Woltochinon

 

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