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Woomp
Ich bin stinksauer auf Dim, der kleine Trottel wagt es echt mit leeren Händen nach hause zu kommen; auf dem Weg zu dem Treffen mit Toki hat er bei McMorlock`s ein paar von Daddy Long Legs Leuten gesehen und die Nerven verloren; ist sofort getürmt und hat den Deal einfach Deal sein lassen. Im Grunde kann ich es ihm nicht verdenken, nachdem sie Ticka von gegenüber letzte Woche nackt aus den Grobstoffrechen des Klärwerks gezogen haben, mit dem Gangsymbol der Neuen Khmer Fraktion auf den Rücken geätzt.
Klar, als Zehnjähriger lässt man sich von so was noch beeindrucken.
Aber das bedeutet, dass ich Toki wieder mit unserer altersschwachen KommBox mühselig übers Toothnet lokalisieren und sein Kommplantat ansteuern muss, um einen neuen Treffpunkt für die Übergabe auszumachen. Als ich ihn dann schließlich erwische, sülzt er mir erst mal die Ohren voll („eine dreiviertel Stunde musste ich da rumhängen und so ein abgewichster Chemopath hat mir die Sonargänge zugetextet, das kriegt dein verschissener Bruder wieder, die Pissnelke!“) und es dauert ewig ihn soweit zu beruhigen, das wir einen neuen Treffpunkt machen können.
Diesmal macht er es uns aber nicht ganz so einfach: Er hängt heute Abend im Schmerzverstärker rum, das ist so ein Club in den Shoppakomben, wo hauptsächlich Woomp gespielt wird und bei dem Tokis älterer Bruder irgendwie seine Finger im Spiel hat (Ohne seinen Bruder würde sich der kleine Wichtigtuer nie auch nur in die Nähe eines Woomp-Ladens trauen) und er will dass wir ihn dort treffen; das bedeutet dass wir an zwei Sektorgrenzen vorbei müssen, außerdem werden wir mit den Crawlboards ewig brauchen, um dahin zu kommen. Schließlich können wir nicht einfach die U- Bahn nehmen, ohne DNAcard läuft da schon lange nichts mehr.
Ich sage wir, weil Dim gefälligst mitkommen soll. Das ist eine neue Bedingung des Geschäfts: Toki will sich persönlich bei ihm für die Warterei bedanken. Er wird es überleben und außerdem hat er es verdient, also lass ich mich darauf ein. Je früher er lernt, dass man Abmachungen einhält, umso besser.
Wir sollen um 0000 auf der Party aufkreuzen, also machen wir uns um 2025 auf den Weg.
Bevor wir unseren Container verlassen, mache ich noch unser selbst gefrickeltes Verteidigungssystem scharf, falls einer vom Hafensektor-Amt, das den Containerpark überwacht, auf die Idee kommen sollte, unsere Wohnröhre räumen zu lassen; Wenn jemand die Nase rein steckt, kriegt er erstmal eine ziemlich fiese Ladung Anthrozid ins Gesicht.
Unser Container ist zurzeit der oberste von einem Dreierstapel, also noch relativ harmlos. An manchen Stellen sind die Einheiten bis zu neun Container hoch gestapelt; das sieht zwar sehr eindrucksvoll aus, fällt aber auch gern mal in sich zusammen, vor allem wenn es stürmt. Pech, wenn man dann gerade oben gestapelt ist. Aber in dem Wohnpark hier leben sowieso nur Prekarier und Asylanten aus US, die ausgewandert sind, als sie da auf Spanisch als Amtssprache umgesattelt haben. Es kümmert also keinen.
Das erste Stück des Weges fahren wir durch die offizielle Vegetationszone direkt am Fluss entlang, so können wir die erste Sektorgrenze umgehen. Es ist ein warmer Sommerabend, also sind eine ganze Menge Leute unterwegs; alte Frauen mit Stimverstärkersystemen, die ihre neongrünen AL-Synthohunde ausführen; Jellyballspieler, die ihre geeichten Nanozucht-muskeln für die nächste Agglomerationsmeisterschaft trainieren und deren T-shirts verkünden, dass die RRC die anderen Megastädte nass machen wird.
Im Unterholz kommen wir an einigen schlecht versteckten Megarihuana- Plantagen vorbei, die wird man sich merken müssen, ein bisschen Ohg im Haus zu haben ist immer gut. Allerdings kann man da höchstens ab und zu für den Eigenbedarf abziehen, denn die gehören alle den Gommorrheanern und die verstehen bestimmt keinen Spaß. Genauso wenig wie die Horde Shindoo-Jünger, die wir auf einer Lichtung bei einem von ihren illegalen Ritualen überraschen, aber bevor sie reagieren können sind wir schon im Gebüsch verschwunden.
Wir müssen links am Arkologiekomplex vorbei um die Pipeline der Standleitung zu finden, die den K-Cluster mit den anderen Sektorkernen verbindet. Wir müssen auf die Kaninchen aufpassen, in dieser Gegend hat es im Frühjahr einen neuen „Zwischenfall“ gegeben, und die vom Evovirus vermurksten Exemplare können ihre Kiefer noch weiter ausrenken als die alten Versionen. Aber wir finden die Pipe ohne dass irgendein Vieh was versucht. Wir fahren mit den Crawlboards kopfüber an der Unterseite der Röhren, für den Fall, dass ein Gyrokopter von den Bullen auftauchen sollte.
So ist es bei uns immer. Immer am Weglaufen. Weil alle anderen größer und stärker sind als wir. Mein Bruder und ich sind nämlich völlig normal. Keine Mutationen, kein Evovirus, kein Blech im Körper. Zu gesundes Erbgut, kein Geld für Blech. Deswegen nimmt uns keine Gang auf, die würden uns viel eher fressen oder so was. Und weil unsere Eltern so verdammte Hippie-Spinner waren, haben wir auch keine Registrierungsspindel im Rückgrat und keine DNAcard, was bedeutet, dass auch die Bullen und vor allem die Bevölkerungskontrolle hinter uns her sind. Alle sind sie hinter uns her. Aber nicht mehr lange.
Die Shoppakomben befinden sich ziemlich im Zentrum von K-Cluster. Soweit drin bin ich vorher nur sehr selten gewesen; Von hier aus kann man sogar die alte Kathedrale sehen, die früher mal so was wie ein Wahrzeichen gewesen ist. Der alte Kemal aus dem Container unter uns hat mal erzählt, früher hätte sie zwei Türme gehabt; aber dann stand der eine den Plänen für die Europazentrale von MicroFox im Weg.
Na ja, so kommt`s halt.
Wir mogeln uns durch die zweite Sektorgrenze in dem wir einen blinden alten Usbeken mit ein paar Mykols bestechen, damit wir uns als seine Enkelkinder ausgeben können. Man hat ihm so eine toasterförmige Eplax-Prothese über Augen und Nase getackert, mit der er zwar unsere elektrischen Felder wahrnehmen kann, aber nicht merkt, dass er mit uns Schwierigkeiten kriegen könnte. Deswegen kommen wir auch auf Anhieb durch, ohne dass einer von der Sektorkontrolle Verdacht schöpft.
Jetzt stehen wir am Geländer der Grube, in die dutzende Rolltreppen zu den Shoppakomben führen, und die ein unwirkliches vielfarbiges Glühen ausstrahlt. Wir stellen uns an die Schlange für die Expressrolltreppe in die untersten Ebenen an, denn der Schmerzverstärker, wo die Party sein soll, liegt ganz unten.
Zwischen den Schlangen der Konsumwilligen hüpfen ein paar Unberührte herum, und versuchen, die Menge von der Glückseligkeit eines naturbelassenen Organismus und Konsumverzicht zu überzeugen. Ich kenne die Spinner schon und beachte sie nicht weiter, Dim aber glotzt sie neugierig an und meint: „Guck mal, die sehen aus wie wir.“
Ich sage ihm bescheid: „das ist bei denen was anderes, das sind Sektierer, die müssen nicht auf sich selbst aufpassen; die haben einen eigenen Sicherheitsdienst, bei dem es schon mit dem Teufel zugehen müsste, wenn da irgendeiner mit unberührtem Organismus drin wäre.“
Die Expressrolltreppe mit den orangefarbenen Haltegriffen ist um einiges schneller als die kleineren; dennoch dauert es geraume Zeit bis zum unteren Ende. Während wir an den Ebenen vorbei sinken, baden wir im Licht der Neonreklamen und immer wieder poppen quasi-intelligente Hologramme auf, um für ihre Betreiber zu werben; Modediscounter, Kommplantatshops und Hyperfoodketten auf den oberen vier Ebenen, auf den fünf danach Unterhaltungsnanotronik, Genfriseure und Spielzeugläden. Je tiefer man kommt, desto zwielichtiger und halbseidener werden die Läden und ihr Publikum; Weiter unten bestimmen Spielhöllen und Elektrobordelle das Bild, um die sich Cliquen von Drahtköpfen und Drogentouristen aus Neoslawien herumdrücken. Die Sektorverwaltung hat es schon lange aufgegeben, den Niedergang der unteren Ebenen verhindern zu wollen.
Unten angekommen, folgen wir den Erschütterungen, die die massiven Bassschläge der Woomp-Musik durch die verdreckten Korridore jagen, bis wir in einem ehemaligen Versorgungstunnel den Schmerzverstärker finden. Toki wartet draußen schon.
„Seid ja richtig pünktlich“ meint er und zieht an einer seiner Tourette´s. Kennen gelernt haben wir ihn, als sich seine Sonarimplantate einen Wurm zugezogen hatten und er jemanden suchte, der ihm eine neue Treibersoftware installieren konnte ohne unbequeme Fragen zu stellen. Seitdem haben wir mehrere kleine Deals abgewickelt. Er sagt, die Ware wäre drin bei seinem Bruder, wir sollen mit reinkommen.
Der Club ist in einen ehemaligen Wasserstofftank eingebaut worden, in dem der eigentliche Clubraum in den für Woomp-Läden obligatorischen Stoßdämpfersystemen hängt.
Woomp besteht zu neunzig Prozent aus langwelligen Bassfrequenzen, die auf Dauer alles in näherer Umgebung zerlegen, weswegen die Auflagen zu den Sicherungsmaßnahmen besonders streng sind. Alle Wände der Tanzfläche sind aus unverkleidetem Alustahl, nach außen gewölbt.
Toki hat seinen Spendablen, und bietet uns welche von seinen Tourette`s an. Das Gras in den Dingern ist aus Autorisiertem Anbau, von der alten Sorte, also recht minderwertig, aber es hilft, das ständige Wummern in der Magengrube zu ertragen, das von den Ge-Boxen ausgeht, die in ihren Turbinengehäusen von der Decke hängen. Wir drängen uns bis zur Theke durch, und Toki macht dem Barkeeper ein Zeichen, ein Auge auf uns zu werfen. Der Barkeeper, ein zwei Meter fünfzig Turm mit verschwurbelten Mustern aus gezüchtetem Hautkrebs auf den bloßen Oberarmen, blinzelt einmal kurz in unsere Richtung, schiebt zwei Sipper mit irgendwas Undefinierbaren rüber und vergisst uns dann.
Der Club ist brechend voll und der Schweiß tropft von der Decke, was bedeutet, dass die Luftaustauscher am Limit sein müssen. Der WeeJay hängt in der Servokanzel seines Woompasizers und lässt tonnenschwere Beats auf die Meute herabsausen. Die Dinger sind eigentlich vom Militär der AU in Angola entwickelt worden; Sollten gezielte Erdstöße auslösen können, aber dann ging denen bei der Entwicklung das Geld aus. Irgendwie ist dann eine abgespeckte Version auf dem Schwarzmarkt aufgetaucht und irgendwer hat dann entdeckt, dass man damit Mutanten zum Tanzen bringen kann.
Obwohl, „zum Tanzen zwingen“ trifft es wohl eher.
Der WeeJay, ich glaub er nennt sich Mutie Scum Roola, schickt Wellen von bollernden Tieftonsequenzen durch den Raum, sein Gesicht ist hinter der Sensorkontrollmaske seines iWoompasizers nicht zu erkennen; ist zwar etwas blöd für die Selbstdarsteller unter den Musikern, aber um die Übersicht über die Spuren und Samples zu behalten, ist eine VR notwendig. Die meisten Weejays lösen dieses Problem, indem sie ihre Masken mit Mustern besprühen, mit allem möglichen Voodoozeug behängen, oder auf sonst irgendeine abenteuerliche Art modifizieren. Mutie Scum Roola hat seine mit rissigem braunem Leder bezogen und jede Menge vorsintflutliche Teleskop-Objektive in allen Größen dran montiert, die wahllos in sämtliche Richtungen zeigen; sieht aus wie eine explodierte antike Fliegerkappe.
Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Raums, sitzt ein IJ in einem umfunktioniertem Zahnarztstuhl an ein veraltetes IGHO-System angeschlossen, und füttert die HoloPro-Flächen, die an jeder Wand hängen, mit Bildern direkt aus seinem Kopf; Seine Iggies ( IGI= Imagination Generated Images) sind meist schreiende amorphe Gestalten, die sich gegenseitig die verschiedensten spitzen Gegenstände in den Körper jagen. Zeugt nicht grade von einem gesunden Geisteszustand, aber so was ist für einen IJ ja sowieso eher Karriere hemmend.
Kaum einer beachtet die Projektionen, die meisten sind zu sehr damit beschäftigt, die knüppelharten Vibrationen in ihren Zwerchfellen in Bewegung um zusetzten. Die Tanzfläche ist praktisch in Zonen aufgeteilt, da man die Boxen so eingerichtet hat, dass die Vibrationen sich in der Mitte des Raums überkreuzen, was man am Flimmern der Luft sehen kann. Im Woompit halten es auch nur die aufgerüsteten Hardcore-Fanboys aus, die mit ihren gepanzerten Trommelfellen auch die Frequenzen hören, die für den Durchschnitts-Mutie zu tief sind.
Zu den Ecken hin wird es dann harmloser, hier zappeln sich ein paar Grinser und eine einsame Elektroschrecke einen zu recht. In der einen Ecke der Tanzfläche titscht eine Truppe GummiJungz herum und lässt den guten alten Pogo wieder aufleben, wobei ihnen ihre rudimentären Knorpelskelette zugute kommen. GummiJungz sind zwar offiziell nur bedingt lebensberechtigt ( Klasse 7-Gc), hier unten aber traut sich keiner an die ran. Außerdem sind es einfach die coolsten Tänzer, das muss man ihnen lassen.
Genau diesen Glanz versuchen ein paar Meter weiter ein paar Kids aus der Oberschicht auf sich abfärben zu lassen, die mal ein bisschen Underground spielen wollen. Ham sich zwar mörderisch auf Strasse gestylt, mit alten Kanalarbeiteroveralls und so, aber ihre Haut ist einfach zu makellos und jeder hat die Signatur seines Kosmetogenetikers im Nacken, und die Mädels haben garantiert vorher noch ihre teuren Organoschocker aufgeladen.
Was auch gar nicht so dumm ist, bei den vielen Deformten und Doppel-Y-Fällen, die den Rest der Menge ausmachen und die den reichen Kiddies immer wieder hasserfüllte Blicke aus ihren jeweiligen Sehorganen zuwerfen. Könnte brenzlig werden, das. Vor allem die beiden Pinkel, die sich Radiokarbonschwarzlicht-Farbstoff injiziert haben, geben mit ihrem leuchtenden Adernnetz hervorragende Zielscheiben ab. Würde mich wundern, wenn die hier in einem Stück rauskommen.
Damit wir nicht zwischen irgendwelche Fronten geraten, bugsier ich Dim in die Nichttänzerecke, wo die Bionerds herum stehen, die zuviel mit ihren Gedankenrecyclern rumgespielt haben.
Plötzlich steht Toki wieder neben uns und grinst gönnerhaft; Wahrscheinlich kommt er sich gerade total cool vor, uns vorzuführen, wie frei er sich auf diesem Mutantenspielplatz bewegen kann, während wir uns bei den Cyber-Spacken rumdrücken. Wenn nicht sein super Gangsterbruder wäre, hätte er hier gar nichts zu melden, dann hätte ihn sich schon längst einer von den Neurofressern geschnappt und ihm auf dem Klo sein schickes Sonarimplantat aus dem Kopf gezogen und das Knochenmark ausgesaugt.
Aber ich halte mein Maul.
„Könnt jetzt mitkommen“ sagt er und führt uns hinter die Theke wo eine Tür in den Backstagebereich führt. Der Gang dahinter ist eine nackte Röhre, die wohl zum selben System gehört, wie der Tank, indem die Tanzfläche ist. Der Boden ist mit langen Streifen von verranztem Teppichboden ausgelegt. Wir laufen an Grüppchen von Audiotechs vorbei, die uns blöde anglotzen.
Nach ein paar Abzweigungen hält Toki an einer anderen Tür und drückt einen Summer, bis die Tür von einem riesigen Schwarzen mit drei Armen aufgerissen wird. Er quatscht uns auf neoslawisch an, aber Toki geht einfach an ihm vorbei. Der Raum dahinter ist mit ein paar alten, verschlissenen Sofas voll gestellt, auf denen sich ein rundes Dutzend Typen herum lümmelt und in einem altertümlichen Röhrenfernseher einen Wrestlingkampf der Super Mega Sumo Federation verfolgen. Die Luft ist zum Schneiden dick vom Ohg-Rauch.
Toki, auf einmal sehr vorsichtig und leise, schleicht zu einem Typen mit schmierigen stachligen Dreadlocks, offensichtlich sein Bruder, und flüstert ihm was ins Ohr. Der Dreadlock-Typ beachtet ihn kaum, zischt ihn an mit einem Kehlvocoder, der Toki mit seinen getunten Ohren durch Mark und Bein gehen muss, und zeigt in eine Ecke des Raums, wo ein rostiger Kühlschrank steht. Toki kommt zurück, während sein Bruder sich wieder in das Aufeinanderprallen der vier Meter hohen Fleischberge vertieft.
„Okay, die Ware ist hier. Jetzt geht es ans Bezahlen“ raunt er. Daraufhin ziehe ich aus meinem Rucksack ein dünnes, in Klarsichtfolie eingeschweißtes Heft hervor.
„UNCANNY X-MEN, Nr. 1002, von 2009. Erstauflage, die mit dem Farbfehler auf Seite 12” leiere ich herunter. Tokis Augen glänzen, er reißt die Folie auf und beginnt in dem antiken Comic herumzublättern.
„Geil Alter. Hier, sieh dir das an, die konnten damals wenigstens noch zeichnen. So noch mit Bleistift und Pinsel und so, weißte?“
Ich warte darauf, dass seine Begeisterung abklingt. Als er merkt, dass ich warte, fällt ihm wieder sein Teil der Abmachung ein.
„Okay, wart mal grade“ meint er und geht zum Kühlschrank. Als er zurückkommt, hält er eine vorsintflutliche, neongrüne PET- Flasche in der Hand und hält sie mir hin.
„Hier, Prost. Aber nicht alles auf einmal“ sagt er feixend.
Ich ignoriere seinen Spott und sehe mir das Etikett an; es ist fast gänzlich ausgebleicht, so als hätte die Flasche jahrelang im Schaufenster eines Kiosks gestanden. Trotzdem ist das Logo immer noch zu erkennen: Ein stilisiertes Atomsymbol, dessen Kreise sich um den Schriftzug PEPSI WARP ziehen.
„Ist ganz schön abgefahren, das Zeug. Leuchtet im Dunkeln wenn es vorher im Licht gewesen ist, und immer in einer anderen Farbe. Kommt nämlich ganz drauf an welches Licht. Bei Sonnenlicht rot, bei Neonröhren blau, bei Biofluorleuchten grün, und so weiter. Und wenn man es irgendwelchen Syntho-Viechern in die Nährlösung kippt, dann passieren sehr lustige Sachen, aber da verrat ich nix, sonst ist der Witz weg“ erzählt Toki aus dem Erfahrungsschatz eines Vandalen.
Ich achte nicht auf sein Gebrabbel und triumphiere innerlich. Endlich.
„Alles klar“ sage ich, „bin ich ja mal gespannt. Aber ich denk, wir hauen jetzt mal wieder ab. Haben einen weiten Weg nach hause.“
„Na denn Tschüss. Und wenn ihr noch mal was Ausgefallenes haben wollt, wisst ihr ja wer euer Mann ist.“ erwidert Toki in verschwörerischem Tonfall.
Als ich mich zum Gehen umdrehe, steht plötzlich Tokis Bruder vor mir. Während er zum Kühlschrank geht, knufft er Toki in die Seite, brummt heiser „na Kurzer, Freunde ausm Kindergarten?“ und holt sich ein Bier aus dem Kühlfach. Jetzt erst sehe ich, dass sein rechter Arm wesentlich länger ist als der Linke und in sieben Fingern endet. Er ist eine Winkerkrabbe.
Er fixiert mich mit stechenden, drogenfleckigen Augen und streckt die Hand aus. „Zeig mal.“
Ich gebe ihm die Flasche, obwohl ich mich sehr überwinden muss, sie loszulassen; aber Stress kann ich im Moment nicht riskieren. Als er das Etikett sieht, verliert sein Gesicht den gelangweilten Ausdruck.
„Hey Kleiner, das Zeug ist ganz schön starker Tobak. Meinst du, du kannst damit umgehen?“ Er wirft einen spöttischen Seitenblick auf Toki. „Der kleine Trottel hier hat wahrscheinlich keinen Dunst was er euch da vertickt hat. Verschwendest das Zeug wahrscheinlich um Synthos damit zum schmelzen zu bringen, eh?“
Toki ist völlig verstummt und starrt auf den Boden. Sein Bruder wendet sich wieder an mich.
„Ist jetzt seit bestimmt fünfzehn Jahren verboten, der Scheiß. Liegt an den Farbstoffen, die da drin sind; E3950759dX518, E66666666, E4Z00725829c und noch ein paar andere nette Sachen. Yep, um das mit dem Leuchten hinzukriegen war schon eine ganze Menge Chemopower nötig. Sind bestimmt hundert verschiedene Sachen drin. Die können aber nicht nur leuchten, die können auch noch ganz andere Sachen machen. Du weißt da Bescheid drüber, was Kleiner?“
Ich nicke nur. Sinnlos es zu leugnen.
Er starrt mich einen Moment lang an und fängt dann an zu grinsen. „Ist mir ja egal was du damit anstellst. Ist ja dein Bier. Aber nur das Zeug da wird dir nix nützen. Brauchst noch was anderes, einen Katalysator. Weißt du hoffentlich auch, sonst wird das ganz schön unappetitlich. Kannst mir glauben, weiß wovon ich rede.“ Er lacht blechern durch seinen Kehlvokoder, ein elektronisches Grunzen, das wahrscheinlich spooky klingen soll.
Allmählich verliert er den Spaß an der Sache. „Toki, bring die beiden rüber zum Aufzug“ befiehlt er seinem kleinen Bruder. Dann greift er sich einen Karton, der auf dem Kühlschrank steht und hält ihn uns hin. Er ist voller DNAcards.
„Hier, hab heut meinen Spendablen. Könnta die U-Bahn nehmen. Schätze mal nicht dass ihr so was selber habt. Werft sie aber gleich weg, wenn ihr aussteigt. Sonst werdet ihr eingesackt, weißt schon was ich meine.“
Ich fische zwei Karten heraus.
Tokis Bruder grinst noch mal schmierig. „Na dann, wir sehen uns noch“. Dann gesellt er sich wieder zu seinen Kumpels und lässt sich in eins der Sofas fallen.
Toki führt uns durch das Gewirr der ausgebauten Röhren bis zu einer Tür, die zurück auf die reguläre Ebene führt. Die Gänge sind jetzt menschenleer und unsere Schritte hallen durch die Räume. Toki bricht das Schweigen.
„Was hat er damit gemeint, kann noch was anderes machen? Klär mich mal auf Mann, was hab ich denn da gegen ein popeliges Comic eingetauscht?“
Aber ich muss ihm jetzt gar nichts mehr sagen. „Frag doch deinen Bruder“ gebe ich zurück.
Toki schnaubt durch die Nase, er fühlt sich verarscht. Wir kommen an den Aufzug, ich drücke die Hoch-Taste. Die U-Bahn liegt weit über uns und der Aufzug braucht lange, niemand sagt ein Wort. Dann öffnen sich die Türen zischend; Als wir reingehen wollen, krächzt Toki plötzlich „Ach Wart mal, hätte ich ja fast vergessen“, holt mit dem Fuß aus und tritt Dim mit voller Wucht in den Rücken, Dim schreit auf und fliegt nach vorne in die Kabine. Toki lacht hämisch. „Jetzt sind wa quitt, Zwerg“
Ich starre ihn an. „ Wenn wir uns das nächste mal sehen, wirst du dich das nicht mehr trauen.“
Toki guckt spöttisch. „ So, meinst du, eh?“
„Fick dich, Toki.“
Ich sehe noch wie seine verdutzte Fresse grellrot anläuft. Dann schließen sich die Türen und der Aufzug hebt ab. Mit Toki lassen sich wohl in Zukunft keine Deals mehr machen. Aber das ist jetzt ja auch nicht mehr nötig.
Wir sitzen fast allein in dem Zug, bis auf ein paar Trashbots, die auf ihren Mop-Füßen die Abteile absaugen, und einen alten Penner im Rollstuhl, dessen Panzerketten vor sich hinrosten, und dessen Lungenautomat, der an der Rückseite des Stuhls angebracht ist, immer wieder zischend Druck ablässt. Dim löst sich langsam aus dem erstarrten Zustand, in den ihn der Club mit seinen Gestalten versetzt hat. Er zupft mich am Ärmel.
„Was ist denn das jetzt eigentlich für ein Zeug, wofür wir extra dahin gefahren sind? Sag mal.“
Und ich erklär es ihm.
„Hab den Tipp von Gargarin, diesem Gummi-Russen aus dem Stapel gegenüber; den kennst du, der gehört zu den Not-Bones. War früher ein ganz normaler Softdrink, konnte man ganz einfach im Laden kaufen. Gab früher Hunderte Sorten von dem Zeug, in allen Farben und Geschmacks-richtungen; War eine beinharte Konkurrenz, deshalb mussten sie sich immer neue Sachen einfallen lassen; immer neue Farben, immer wieder einen neuen Geschmack. Bis sie dann auf den Trichter mit dem Leuchten kamen; war ein Riesenhit, die Leute standen da voll drauf. Aber das Zeug hier war das einzige, das die Farbe auch noch wechseln konnte, also war es natürlich besonders cool. Aber irgendwann haben sie dann gemerkt, dass die Farbstoffe, die in den Dingern drin waren, mit den Leuten Schindluder getrieben haben; die wirkten mutagen. Denen wuchs auf einmal ein zweiter Magen, oder Stacheln aus dem Skelett, die dann aus der Haut raus kamen, und so Scherze. Nicht wenige von den Freaks, die man so sieht, verdanken ihr Aussehen dieser Brühe. Und das Zeug hier hat die krassesten Entgleisungen gezaubert. War natürlich ein Riesenskandal, alles komplett verboten und die Konsumkontrolle hat sämtliche Bestände eingezogen und vernichtet.“
„Aber alles haben sie wohl nicht gekriegt, wie?“
„Anscheinend nicht. Und dann hab ich die Sache mal Toki gegenüber erwähnt und sagt der doch glatt, dass er bei irgend so einem Deal noch ein paar Flaschen davon als Dreingabe gekriegt hat. Der wusste echt nicht was er da hat, sonst hätte er sich nie mit einem Comic-Heft als Bezahlung zufrieden gegeben.“
Dim scheint nachzudenken. Schließlich: „Und was soll uns das bringen, das uns Knochen aus der Haut wachsen?“
„ Es geht ja noch weiter. Bei manchen Leuten, die das Zeug gesoffen haben, da war es anders. Die sind auch mutiert…nur besser. Was Genaues wusste Gaga auch nicht, hat damals die Infokontrolle alles unter Verschluss gehalten. Aber weißt du noch, wie vor ein paar Jahren das alte Fußballstadion auf einmal nicht mehr da war? An einem Tag noch da, am nächsten ein Berg Geröll und Staub, kein Stück größer als ein Kopf. Die haben damals ja im Toothnet behauptet es wäre eine Notsprengung gewesen. Aber niemand hat in der Nacht eine Explosion gehört. Direkt danach ist die Geschichte aufgekommen, dass das einer von diesen Typen gewesen sein soll. Der soll, als sie versucht haben ihn einzusacken, die ganze Arena pulverisiert haben, nur dadurch, dass er laut geschrieen hat.“
„Wie die Superhelden in den Comics?“
„Genau, wie die Superhelden. Und das Ding war, dass die mit den Superkräften noch was anderes genommen hatten. Das war das, was Tokis Bruder meinte, mit dem Katalysator. Hat den ganzen Effekt verstärkt und verändert. Man musste beides praktisch gleichzeitig in sich reingeschüttet haben, damit die Mutation so extrem wurde. Und weil dieses andere Zeug damals schon super selten war, hat das halt nur bei ganz wenigen so funktioniert.“
„Aber wir haben doch nur das Leuchtgesöff. Nutzt uns doch gar nichts. Ich will jedenfalls keine Stachelknochen haben. Wäre doch voll scheiße.“
Als Antwort greif ich in die Seitentasche meiner Hose und hole ein graues Plastiketui mit Schnappverschluss heraus; Vorsichtig ziehe ich den Inhalt heraus: Ein kleines flaches Papierbriefchen, gefüllt mit einem Pulver. Das Briefchen ist gelb angelaufen und der Aufdruck ist bis auf Spuren von neongrün völlig verblasst, Die Schrift ist allerdings noch als AHOJ BRAUSE zu entziffern.
Dim starrt auf das Briefchen. „Das ist es? Das andere Zeug?“
„Yep.“
“Wo hast du das denn jetzt her?“
„Glaubst du nicht; war bei Vaters Sachen, diesem ganzen uralten Scheiß. Wollte immer alles aufbewahren, der alte Spinner. Wenigstens hat er dabei einmal was richtig gemacht.“
Dim schweigt lange. Dann fragt er ängstlich: „Und was machen wir jetzt?“
Ich ignoriere seine Furcht und sage:„Wir müssen bald vor niemandem mehr Schiss haben. Nicht vor den Muties, nicht vor den Gangs, den Bullen, oder der Bevölkerungskontrolle: Wir werden denen allen ganz kräftig in den Arsch treten.“
Dann hab ich nichts mehr zu sagen, und den Rest der Fahrt schweigen wir, bis der Zug an der Station des Hafens zum Stehen kommt. Die Sonne ist grade aufgegangen und scheint zwischen den endlosen Containertürmen hervor, die leise im frischen Morgenwind schwanken.