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Wolkensteins Knüller
Hans Wolkenstein war schlank, aber etwas klein geraten. Seine unauffällige Kleidung unterstrich die unscheinbare Wirkung des fünfzigjährigen Redakteurs einer großen Tageszeitung. Er hatte Politikwissenschaften studiert, aber seinen Platz in der Redaktion hatte er sich vor allem erarbeitet, weil er zuhören und Politikern durch unerwartete Fragen ungewollte Antworten entlocken konnte. Gerade aus einer erholsamen Ferienwoche zurückgekehrt, las er die aufgelaufenen E-Mails. Er unterhielt ein breites Netz und erhielt häufig Schreiben von anonym auftretenden Informanten. Dann musste er - manchmal sehr schnell - entscheiden, ob an den Berichten etwas dran war oder nicht. In den allermeisten Fällen war er erfahren genug, diese Entscheidung alleine zu treffen. Aber jetzt stand auf dem Bildschirm ein Text, der ihm geradezu die Schuhe auszog. Anrede und Einleitung fehlten, es ging sofort in medias res:
„Nachdem die Sicherheits- und Raumfragen geklärt werden konnten, haben wir das Programm für das informelle Treffen in vier Wochen festgelegt:
Am ersten Abend werden wir Informationen von zwei hochrangigen Spezialisten aus Russland (‚Destabilisierung durch soziale Medien') und der Türkei (‚Entwicklung schlagkräftiger Feindbild-Szenarien') erhalten und anschließend noch Gelegenheit zum Gespräch haben.
Am zweiten Abend werden wir einen Entwurf für ein Handlungsprogramm beraten. Angesichts des hohen Vernetzungsgrades spielt die räumliche Nähe nur noch eine untergeordnete Rolle. Größere Bedeutung kommt der Sicherung der Kommunikationswege zu. Außerdem sollten wir zu Entscheidungen kommen, welche Volksführer wir bis zu unserem nächsten Treffen im September kommenden Jahres ansprechen wollen. Als geeignete Kandidaten schlagen wir Polen und Russland vor. Sie würden die Schlagkraft unserer Achse USA-Israel-Türkei-Ungarn auf eine breitere Grundlage stellen und so sicher erhöhen.
Zum Ausklang unseres Treffens erwarten wir noch einen kurzen Vortrag eines bekannten Historikers: ‚Umgang mit missliebigen Staatslenkern in der jüngeren Weltgeschichte.'
Wir machen unsere Welt wieder groß!“
Wolkenstein überlegte. Eine Kollegin sprach ihn an: „Ist was mit dir?“
Er schreckte auf und musste sich erst einmal orientieren, wo er war. „Warum, wie kommst du darauf?“
„Du sitzt jetzt über zehn Minuten an deinem Schreibtisch, ohne dich zu rühren. Wir haben schon überlegt, ob du noch lebst.“
„Alles in Ordnung. Ich geh mal kurz zum Chef.“
Die Kollegen im Redaktionsraum schauten ihm erstaunt nach. Niemand ging „eben mal kurz“ zum Ressortleiter. Hätten sie gewusst, dass Wolkenstein zum obersten Chef unterwegs war und nicht nur zu seinem Boss, hätten sie wohl die Köpfe geschüttelt. Dort oben kam niemand aus den Redaktionen ohne Anmeldung auch nur bis zur Chefsekretärin.
Wolkenstein stand vor einer jungen Sekretärin im Empfang, die ihn offensichtlich nicht kannte:
„Sie wünschen?“
„Ich habe einen Termin beim Chef“, setzte Wolkenstein ungeniert seine Chuzpe ein.
„Ihr Name bitte?“
„Hans Wolkenstein aus der Nachrichtenredaktion.“ Bereich Politik wollte er noch sagen, aber die Sekretärin war bereits aufgesprungen und winkte ihm hektisch zu, ihr zu folgen.
„Was ist denn jetzt passiert?“, wunderte sich Wolkenstein, aber da stand schon die Chefsekretärin, die er nur von den Weihnachtsfeiern flüchtig kannte, und hielt ihm die dick gepolsterte Tür auf.
Der Chef kam von seinem Schreibtisch auf ihn zu: „Wolkenstein, du kommst sicher wegen der E-Mail von der neuen Achse.“
Wolkenstein konnte im Augenblick nur nicken. So war das eben. Zwischen ihnen lagen Welten und nicht nur mehrere Stockwerke und doch war es hier üblich, sich zu duzen und sich anzulächeln – was ihm bei einigen Kollegen sehr schwer fiel.
Sie nahmen an einem kleinen Tisch Platz, die Chefsekretärin brachte frischen Kaffee und nach einer kurzen Genuss-Pause beschloss Wolkenstein, alle vorher erwogenen Winkelzüge fallen zu lassen: „Ich weiß nicht, was ich von der Meldung halten soll.“
„Die Seriosität des anonymen Absenders ist mir durchaus bekannt.“
„Das beschäftigt mich eben. Ich denke, seine Verschlüsselungsmethode wurde nicht geknackt, aber unser Informant könnte auch einem bewusst eingeschleusten Fake aufgesessen sein.“
„Sicher, das ist ein immer drängenderes Problem in unserer Arbeit: den Wahrheitsgehalt von Nachrichten schnell zu erkennen. Aber wie sieht es in diesem Fall aus?“
„Ich bin ratlos.“
„Überleg mal, mein lieber Wolkenstein: Was geschieht, wenn wir die Nachricht knüllern? Ist sie falsch, fallen wir in ein tiefes Loch, aus dem einige nicht mehr auftauchen werden.“
„Ja, eben.“
„Ist sie echt, befürchte ich einen ähnlichen Effekt.“
„Wie das?
„Es gibt nicht nur missliebige Regierungschefs. Journalisten können ganz schnell und fast unbemerkt verschwinden.“
Wolkenstein zuckte zusammen: „Sind wir schon so weit?“
„Ich habe schon länger überlegt und heute meinen Rücktritt eingereicht. In einer Woche werde ich mit meiner Familie nach Neuseeland auswandern. Dort gibt es manchmal Erdbeben, aber mit den Kapriolen der Natur kann ich umgehen. Eins sollte klar sein: Selbst wenn wir unsere besten Leute zur UN-Generalversammlung schicken - von den Treffen werden wir erst erfahren, wenn es zu spät ist. Sie wissen es doch auch: Die Stimmung schlägt um. Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen diese neue Achse begrüßen. Sicher hoffen sie, dass sie endlich auch aufsteigen aus dem Bodensatz der Menschheit. Da kommt es doch auf einige Kollateralschäden nicht mehr an. Also mein lieber Wolkenstein, ich gebe dir freie Hand.“
Hans Wolkenstein verließ mit einem knappen Dank das Büro und beschloss, umgehend seinen Resturlaub anzutreten und von der Bildfläche zu verschwinden. Er musste auf niemanden Rücksicht nehmen und hatte ein gut gefülltes Sparbuch. Mal schauen, was sich ergibt, dachte er. Schließlich war er nicht nur ein unscheinbarer Mensch, wie ein ängstliches Kaninchen hatte er auch ein Gespür für überkritische Situationen.