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Wolkenkuckucksheim
Ich horche in die Dunkelheit. Eriks Atem geht schnell, aber leise. Meine Hand tastet nach seinem Bein und ich kneife ihn ein wenig in den zitternden Oberschenkel. Sein Körper stinkt dermaßen nach Pipi, dass es den Scheißegeruch im Raum fast überdeckt
Beim Knarren der Tür zucken wir beide zusammen. Auch das Trippeln ihrer Spähtruppen durchleiden wir noch gemeinsam. Dann jedoch verlasse ich ihn. Zumindest gedanklich. Das konnte ich immer schon. Im Wolkenkuckucksheim, hat Mama es genannt. Meine Große lebt im Wolkenkuckucksheim.
Ich sehe sie vor mir, wie sie mit einem großen Holzspatel Pfannkuchen wendet. Die Sonne scheint durch das Küchenfenster und tanzt auf ihren Kreolen. Mama legt mir einen goldbraunen, fetttriefenden Fladen auf den Teller und ich verteile großzügig Apfelkompott darauf. Gerade, als ich mir vorstelle, wie ich ein Stück abschneide, mit der Gabel aufspieße und es mir, ganz langsam, in den Mund schiebe, greift Erik nach meiner Hand.
Seine Fingernägel bohren sich in meine Haut. Ich halte die Luft an und unterdrücke den Schmerzensschrei, denn ich höre es auch. Die Armee ist angekommen. Das Fiepen, Nagen und Schmatzen beginnt. Mir wird übel.
Ich reiße meine Hand weg und versuche, zurück in den sonnigen Frieden der Vergangenheit zu flüchten. Es gelingt mir, das Bild der Küche noch einmal aufleben zu lassen. Doch die Pfannkuchen sind verschwunden. Mama steht am Fenster und schaut mich mit stumpfen Augen an. „Wo ist Lene?“
Das kann sie gar nicht wissen, fällt mir ein. Lene war die erste von uns Kindern. Aber Mama ist schon vorher gegangen.
Die Geräusche über uns werden lauter. Mama hat keine drei Tage gereicht. Lene wird sie nicht einmal bis zum Abend zufriedenstellen.
Erik wimmert leise. Einen Moment überlege ich, selbst zu gehen. Wir haben kein Essen mehr und der Hunger über uns wühlt längst auch in meinem eigenen Bauch. Inzwischen würde ich die Pfannkuchen sogar aus der Mülltonne fressen.
Ich kann hören, wie die schlanken Körper über den Flur huschen. Als es anfing, habe ich sie manchmal auf der Straße gesehen. Da waren sie schon so lang wie mein Arm, den Schwanz, der wie eine dunkle Schlange hinter ihnen herglitt, nicht mitgerechnet.
„Verdammtes Viehzeug!“, schimpfte Papa. „Denen ist mit Gift nicht mehr beizukommen.“
„Sie finden überall zu fressen“, sagte Mama, „deshalb vermehren sie sich so stark.“
Irgendwann wurde einer der Müllleute in den Hals gebissen. Danach holte niemand mehr die Tonnen ab. Plastik, Pizzareste, Milchtüten und gammeliges Gemüse verteilten sich auf den Gehwegen.
Bei den Gerbers von nebenan waren sie zuerst im Haus. Frau Gerbers Schreie war über die ganze Straße zu hören.
„Ihr Baby!“ Mama war richtig weiß im Gesicht. „Wir müssen die Kellerfenster vernageln!“
Kollners Annika war die nächste. Wir gingen schon nicht mehr zur Schule und vielleicht war ihr langweilig. Auf jeden Fall hüpfte sie morgens auf der Straße herum, bis die ersten Ratten sie entdeckten. Als Mama mich vom Fenster wegzog, war Annika unter dem schwarzbraunen Gewimmel schon nicht mehr zu erkennen.
Papa nagelte noch die Fenster im Erdgeschoss mit Brettern zu. Aber eines Tages später verschwand er plötzlich. Vielleicht haben ihn die Ratten geholt. Vielleicht ist er einfach abgehauen.
Sie sind jetzt an der Kellertür und ich muss eine Entscheidung treffen. Erik ist von mir abgerückt, deshalb kann ich ihn nicht gleich greifen. Doch dann packe ich ihn mit einer Hand am Pullover und ziehe ihn an mich. Mit der anderen Hand halte ich ihm den Mund zu. Er zappelt herum, aber der Hunger hat ihn zu sehr geschwächt, um ernsthaft Widerstand zu leisten. Ohne große Mühe schleppe ich ihn die Kellertreppe hinauf. Oben lehne ich mich gegen die Tür und lausche. Auf der anderen Seite ist es still geworden. Doch ich weiß, sie sind da. Selbst hier kann ich ihren beißenden Geruch wahrnehmen. Sie warten.
Erik drückt seinen Kopf an meine Brust und mir wird wieder schlecht. So schnell wie möglich öffne ich die Tür einen Spalt weit, schiebe seinen kleinen, bebenden Körper hindurch und schlage sie wieder zu. Als ich die Kellertreppe hinuntersteige, schnaufe ich wie nach einem Hundert-Meter-Lauf. Ein Tag höchstens. Ich hocke mich in unsere Ecke, schließe die Augen und versuche, zurück ins Wolkenkuckucksheim zu fliegen.