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Wolkenkuckucksheim

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18.10.2016
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Wolkenkuckucksheim

Ich horche in die Dunkelheit. Eriks Atem geht schnell, aber leise. Meine Hand tastet nach seinem Bein und ich kneife ihn ein wenig in den zitternden Oberschenkel. Sein Körper stinkt dermaßen nach Pipi, dass es den Scheißegeruch im Raum fast überdeckt
Beim Knarren der Tür zucken wir beide zusammen. Auch das Trippeln ihrer Spähtruppen durchleiden wir noch gemeinsam. Dann jedoch verlasse ich ihn. Zumindest gedanklich. Das konnte ich immer schon. Im Wolkenkuckucksheim, hat Mama es genannt. Meine Große lebt im Wolkenkuckucksheim.
Ich sehe sie vor mir, wie sie mit einem großen Holzspatel Pfannkuchen wendet. Die Sonne scheint durch das Küchenfenster und tanzt auf ihren Kreolen. Mama legt mir einen goldbraunen, fetttriefenden Fladen auf den Teller und ich verteile großzügig Apfelkompott darauf. Gerade, als ich mir vorstelle, wie ich ein Stück abschneide, mit der Gabel aufspieße und es mir, ganz langsam, in den Mund schiebe, greift Erik nach meiner Hand.
Seine Fingernägel bohren sich in meine Haut. Ich halte die Luft an und unterdrücke den Schmerzensschrei, denn ich höre es auch. Die Armee ist angekommen. Das Fiepen, Nagen und Schmatzen beginnt. Mir wird übel.
Ich reiße meine Hand weg und versuche, zurück in den sonnigen Frieden der Vergangenheit zu flüchten. Es gelingt mir, das Bild der Küche noch einmal aufleben zu lassen. Doch die Pfannkuchen sind verschwunden. Mama steht am Fenster und schaut mich mit stumpfen Augen an. „Wo ist Lene?“
Das kann sie gar nicht wissen, fällt mir ein. Lene war die erste von uns Kindern. Aber Mama ist schon vorher gegangen.
Die Geräusche über uns werden lauter. Mama hat keine drei Tage gereicht. Lene wird sie nicht einmal bis zum Abend zufriedenstellen.
Erik wimmert leise. Einen Moment überlege ich, selbst zu gehen. Wir haben kein Essen mehr und der Hunger über uns wühlt längst auch in meinem eigenen Bauch. Inzwischen würde ich die Pfannkuchen sogar aus der Mülltonne fressen.
Ich kann hören, wie die schlanken Körper über den Flur huschen. Als es anfing, habe ich sie manchmal auf der Straße gesehen. Da waren sie schon so lang wie mein Arm, den Schwanz, der wie eine dunkle Schlange hinter ihnen herglitt, nicht mitgerechnet.
„Verdammtes Viehzeug!“, schimpfte Papa. „Denen ist mit Gift nicht mehr beizukommen.“
„Sie finden überall zu fressen“, sagte Mama, „deshalb vermehren sie sich so stark.“
Irgendwann wurde einer der Müllleute in den Hals gebissen. Danach holte niemand mehr die Tonnen ab. Plastik, Pizzareste, Milchtüten und gammeliges Gemüse verteilten sich auf den Gehwegen.
Bei den Gerbers von nebenan waren sie zuerst im Haus. Frau Gerbers Schreie war über die ganze Straße zu hören.
„Ihr Baby!“ Mama war richtig weiß im Gesicht. „Wir müssen die Kellerfenster vernageln!“
Kollners Annika war die nächste. Wir gingen schon nicht mehr zur Schule und vielleicht war ihr langweilig. Auf jeden Fall hüpfte sie morgens auf der Straße herum, bis die ersten Ratten sie entdeckten. Als Mama mich vom Fenster wegzog, war Annika unter dem schwarzbraunen Gewimmel schon nicht mehr zu erkennen.
Papa nagelte noch die Fenster im Erdgeschoss mit Brettern zu. Aber eines Tages später verschwand er plötzlich. Vielleicht haben ihn die Ratten geholt. Vielleicht ist er einfach abgehauen.
Sie sind jetzt an der Kellertür und ich muss eine Entscheidung treffen. Erik ist von mir abgerückt, deshalb kann ich ihn nicht gleich greifen. Doch dann packe ich ihn mit einer Hand am Pullover und ziehe ihn an mich. Mit der anderen Hand halte ich ihm den Mund zu. Er zappelt herum, aber der Hunger hat ihn zu sehr geschwächt, um ernsthaft Widerstand zu leisten. Ohne große Mühe schleppe ich ihn die Kellertreppe hinauf. Oben lehne ich mich gegen die Tür und lausche. Auf der anderen Seite ist es still geworden. Doch ich weiß, sie sind da. Selbst hier kann ich ihren beißenden Geruch wahrnehmen. Sie warten.
Erik drückt seinen Kopf an meine Brust und mir wird wieder schlecht. So schnell wie möglich öffne ich die Tür einen Spalt weit, schiebe seinen kleinen, bebenden Körper hindurch und schlage sie wieder zu. Als ich die Kellertreppe hinuntersteige, schnaufe ich wie nach einem Hundert-Meter-Lauf. Ein Tag höchstens. Ich hocke mich in unsere Ecke, schließe die Augen und versuche, zurück ins Wolkenkuckucksheim zu fliegen.

 

… Skelettiert fänden sie die Solidarität der Sumpfblüten und Pissnelken. Auf den Haufen und zwischen den Pfützen krabbelte so mancherlei Getier, welches für gewöhnlich das Licht meidet und die Sicherheit der Düsternis sucht. Kakerlaken, La cucaracha klappernd, krabbelten über Händ‘ und Gesichter. Ratten fräßen nicht nur die spärliche und zerfetzte Kleidung, sondern offensichtlich auch die Gliedmaßen einiger Gestürzter an. ...
ausKakophonie oder wie heißt die Kunst der Klingeltöner?“

Mama steht am Fenster und schaut mich mit stumpfen Augen an. „Wo ist Lene?“
Das kann sie gar nicht wissen, fällt mir ein. Lene war die erste von uns Kindern. Aber Mama ist schon vorher gegangen.

Ich hocke mich in unsere Ecke, schließe die Augen und versuche, zurück ins Wolkenkuckucksheim zu fliegen.

Moin,

Willi,

es schüttelt mich - und das vorm Frühstück - sind wir denn schon in der Ära der-nach- Grass‘- „Rättin“? Deine Geschichte behauptet es,

Wolkenkuckucksheim n. ‘Traumland, Phantasiewelt, Phantasiegebilde’, nahezu wörtliche Übersetzung (19. Jh.) von griech. nephelokokkȳgía (νεφελοκοκκυγία), von Aristophanes (‘Die Vögel’) geprägte Bezeichnung einer in die Luft gebauten Vogelpolis, mit der er Athen verspottet.“
(DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, heute, 9:22 Uhr) und verwandelt die Utopie - wie der Elfenbeinturm ja auch eine für den Einzelnen ist – in eine reale Dystopie und nicht nur Zweifel nagen an einem, sondern auch Ratten. (Da wären Schnauzer und Pinscher – Insonderheit Dobermänner – bessere Waffen als Falle und Gift, denn Ratten sind schlau, scheuen und meiden vermeintliche Angebote, wo einer der ihren zu Tode kam) und ich muss zugeben, dass mich der Satz

Sein Körper stinkt dermaßen nach Pipi, dass es den Scheißegeruch im Raum fast überdeckt
zunächst irritierte – aber er passt.

Wo Abfälliges zu Müllbergen sich türmt, ist das Paradies der Ratten.

Zwo kleine Flusen (ein Seelenklempner könnte sicherlich etwas aus den "ich"s herauslesen, das mir verborgen bleibt)

Ich halte die Luft an und unterdrücke den Schmerzensschrei, denn ich höre ich
es auch. Die Armee ist angekommen. Das Fiepen, Nagen und Schmatzen beginnt. Mir wird übel.
Oben lehne Ich mich gegen die Tür und lausche.

Ach ja, Ratten wurden auch als Waffe eingesetzt, in deren Folge der Schwarze Tod die europäische Bevölkerung dahinraffte (was macht eigentlich dein historisches Projekt?). Sie waren und sind das Wirtstier für Flöhe, die wiederum Träger des Yersinia pestis sind. Ca. 4.000 Menschen sterben jährlich an der Pest. Heute noch. So gesehn ist der Individualverkehr weitaus gefährlicher ...

Hm, kann man ein solches Thema "gern" lesen?

Wie auch immer -

schönen Sonntag wünscht der

Friedel, wiewohl's im Pott trüber aussieht ...[/QUOTE]

 

Verstehe ich nicht. Wäre das Spiel nicht theoretisch aus, wenn der kleine Junge stirbt? Und wieso hat das Mädchen die Ratten nicht mit einer Fackel vertrieben?

Hm, in einer modernen, zivilisierten Welt ist diese Plage für mich eher schwer vorstellbar. Wenn überhaupt als Begleiterscheinung. Insbesondere so Sätze wie der mit dem gebissenen Müllmann und dass deswegen die öffentliche Ordnung zusammenbricht.

Ansonsten sauber runtergeschrieben. Durchaus atmosphärisch.

Unschuldige Grüße,
Analog

 

Moin @Friedrichard,
vielen Dank für deine Vernehmlassung und fürs Auslesen der Flusen.

es schüttelt mich - und das vorm Frühstück
Hoffentlich habe ich nicht das Gelbe vom Ei damit verdorben, bei Ratten hört ja das Essen mit Löffeln auf, insbesondere beim Gang Tugend. Selbst im gläsernen Elfenbeinturm.
Nach Lübeck kann ich grad nicht reisen, zeitlich reicht es nur für Mäuschengeschichten wie diese, lese aber fleißig mit und ab und an lasse ich mich auch ein.
Viele Grüße
Willi

Hallo @Analog,
auch dir vielenDank für deinen Kommentar!

Hm, in einer modernen, zivilisierten Welt ist diese Plage für mich eher schwer vorstellbar
Du glaubst nicht, wie ich dich darum beneide. Ich kann mir eine solche Plage nicht nur vorstellen, ich sehe die Ratten geradezu überall aus ihren Löchern kriechen.
Viele Grüße
Willi

 

Willi schrieb:
Du glaubst nicht, wie ich dich darum beneide. Ich kann mir eine solche Plage nicht nur vorstellen, ich sehe die Ratten geradezu überall aus ihren Löchern kriechen.

Theatralisch. Vorstellen kann ich mir viel, lass es mich umformulieren: Der Tag, an dem die Ratte sich vom Menschen emanzipiert, noch dazu so fantasievoll, wie in deiner Geschichte, wird nicht zu Zeiten einer Gesellschaft sein, in der Müllwagen ihre Runden ziehen. Auch nicht zwei Tage später. Wie gesagt, als Begleiterscheinung oder letzter Stoß realistisch, als Ursache nüscht. Vor allem nicht von einem Tag auf den anderen. (Müllmann wird gebissen, öffentliche Ordnung bricht zusammen, ich ermorde mal eben mein Brüderchen und opfere es an die Ratten :p)

So, genug gemotzt. Bis dann.

 

Moin, @Analog,

ist das nicht ein bisschen viel Hoffnung auf die Müllabfuhr - ob öffentlich oder privat organisiert? Wie schnell sind Ratten bei der Hitze bei den Abfalleimern, Mülltonnen und -containern, wenn auch nur ein Fitzelschen daneben liegt ... und klettern können sie auch noch ganz gut. Zivilisationsfolger wie das niedliche Mäuschen und die Kakerlake ...

Tschüssikowski

Friedel

 

Ihr beide seid mir hoffnungslose Rattenbewunderer Endzeitromantiker. Bevor hier irgendwelche mutierten Ratten Müllmänner zu Tode beißen, produziert irgendein vollautomatischer Industriepark in Shenzhen Massen von autonomen Rattenvernichtungswaffen Müllmanndefensivkonstrukten und verschifft die millionenfach in alle Welt:

(Wäre ja auch grob fahrlässig den Aktionären gegenüber, wenn nicht.)


So, bin raus mit meinem OT.

 

Hallo @Friedrichard, hallo @Analog,
mir ging es beim Schreiben gar nicht um die Geschwindigkeit, mit der eine Gesellschaft zusammenbricht. (Obwohl, so beim Lesen eurer Beiträge habe ich gemerkt, dass auch das ein interessanter Aspekt ist, ebenso wie die Reihenfolge der Institutionen, die zusammenstürzen)
Nur das Laufenlassen der Dinge finde ich fahrlässig ...
Klar ist das Fantasy bzw. fantasievoll. Aber ich dachte, in einem Geschichtenforum geht das vielleicht durch. ;)
Endzeitromantisch finde ich ebenfalls die Vorstellung von Robotern auf Rattenjagd ... aber auch die KI wird letztlich von Menschenhand gemacht und eingesetzt - wenn denn eine Gefahr erkannt wird. Im Wolkenkuckucksheim ist eine solche Problemsicht eher schwierig, denke ich mir.
Auf jeden Fall eine spannende Diskussion, ich danke euch beiden für die Denkanstöße.
Viele Grüße
Willi

 

Moin @Loeli,
Huh, da werd ich ja ganz rot hinter den Ohren ... ?
Aber es stimmt schon, in Situationen, die massiven Stress erzeugen, weil man sich ausgeliefert fühlt, gibt es oft nur den Angriffs- oder den Fluchtmodus. Wenn Angriff aussichtslos ist, bleibt nur noch die Flucht ...
Ich liebe den Film "Brazil", in dem der Prot genau so 'entkommt'. Und auch alle diese spannenden, anrührenden und faszinierenden Geschichten hier im Forum sind doch kleine Fluchten aus dem Alltag?
Vielen Dank fürs' Hereinschauen
Willi

 

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