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Wolkenkinder
Die Schulklasse bestand aus 20 Kindern. Mädchen und Jungen im Alter von zehn Jahren. Er selbst hatte gerade erst seinen zehnten Geburtstag gefeiert. Seine Freunde waren alle da gewesen und Mutter hatte seinen Lieblingskuchen gebacken, der mit zehn bunten Kerzen dekoriert gewesen war. Er hatte sie alle auf einmal ausgepustet und durfte sich etwas wünschen. Er hatte niemandem seinen Wunsch verraten, was daran lag, dass er sich eigentlich nichts gewünscht hatte. Ihm war kein passender Wunsch eingefallen.
Die Lehrerin war noch nicht gekommen und die Kinder tobten im Klassensaal umher. Es war laut. Hefte und Stifte flogen durch den Raum und Kinder jagten von der einen Seite zur anderen. Inmitten dieses Chaos saß sie regungslos. Sie war ein Außenseiter und er hatte noch nie mit ihr gesprochen. Eigentlich hatte er sie noch nie etwas sagen hören und war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt sprechen konnte. Hatte sie überhaupt einen Mund? Es war schwer auszumachen, weil man ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Ihr Kopf war von einer großen Wolke umgeben. Sie war nicht so riesig, dass das Mädchen nicht mehr durch die Tür gepasst hätte, aber sie war groß genug um ihren gesamten Kopf und ihre Haare zu umhüllen. Aus der bauschigen Wolke konnte man noch ein Stück ihres Halses erkennen. Ihre Haut war blass und ihre Kleidung hellgrau. Man hätte sie mit einer Statue verwechseln können, so still und unbewegt saß sie da.
Er hätte gerne einmal mit ihr gesprochen, aber sie machte ihm auch Angst. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, was sie unwirklich machte. Er konnte trotzdem seinen Blick nicht von ihr wenden. Der Tag ging vorüber und seine Augen weilten auf ihr. Als es klingelte, erhob sie sich langsam und ging durch das Klassenzimmer. Nein, sie schwebte eher, als dass sie ging. Die Wolke flog sachte und zog sie unter sich her. Dabei waren ihre Füße einen halben Meter über dem Boden. Er folgte ihr. Mit festem Schritt auf dem Boden. Seine Schritte hallten durch den Flur, während sie geräuschlos vor ihm herflog. Sie schwebte hinaus und der Wind ließ ihre Wolke und ihr Kleid sich aufbauschen. Es war kühl, trotz des hellen Sonnenscheins. Er stand einige Meter von ihr entfernt und beobachtete sie. Es schien, als wandte sie ihr Gesicht zur Sonne, aber er konnte es nicht genau sagen. Vielleicht hätte er sich wünschen sollen, dass die Wolke endlich das Mädchen losließe. Wäre dies ein guter Geburtstagswunsch gewesen? Vielleicht war sie aber auch froh über die Verhüllung. Aber so war sie anders als die anderen Kinder.
Der Schulhof war leer und es war sehr still. Er trat auf das Mädchen zu. Was sollte er sagen? Sie drehte sich um. Er wusste nicht, was er tun sollte. Sie ging noch zwei Schritte auf ihn zu, sodass die Wolke nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. Sie war von einem hellen Weiß, dicht und flauschig wie die Schäfchenwolken bei gutem Wetter. Sie nahm seine Hände in ihre.
„Du träumst zu wenig. Du siehst nur, was es gibt.“
Er fühlte sich auf einmal unglaublich leicht und unbeschwert. Er blickte nach unten und sah, dass seine Füße sich langsam vom Erdboden entfernten. Langsam schwebten sie nach oben. Das Schulgebäude wurde immer kleiner, bis die ganze Stadt ihnen zu Füßen lag und schließlich das ganze Land. Er war erstaunt, hatte aber keine Angst. Weder vor der Höhe noch vor dem Fall. Er hob wieder den Blick und sah zum ersten Mal das Gesicht des Mädchens. Sie hatte große braune Augen und ein strahlendes Lächeln. Er schaute sich um und sah, dass um sie herum viele riesige Wolken waren. Die Sonne strahlte über ihnen und war zum Greifen nah. Er war verzaubert und sprachlos von dem Anblick. Langsam landeten sie auf einer bauschigen Wolke. Ihre Füße versanken ein wenig in ihr, aber sie hatten festen Halt.
„Ich kann dein Gesicht sehen!“
Sie lachte ein helles fröhliches Lachen. „Ja. Du bist jetzt ein Wolkenkind!“
Er schaute sich erstaunt um und sah nun auf den Wolken viele Kinder toben. Sie schlugen Rollen auf dem weichen Untergrund und lachten laut.
„Können wir für immer hier bleiben?“
„Nein. Du kannst immer nur kurz wirklich hier bleiben. Dann musst du zurück. Aber du kannst diesen Platz mitnehmen und immer bei dir haben, wenn du das möchtest.“
Auf einmal erschien ihm das überhaupt nicht mehr seltsam.
„Ja, unbedingt!“
Hand in Hand gingen sie über die Wolken, die sich fern am Himmel vor die Sonne schoben und schließlich weiter zogen.