- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Wolkenkinder
Wolkenkinder
Dschana und Opa Pero hatten ihren Spaziergang unterbrochen und saßen, wie so oft am späten Nachmittag, auf einer der aus Steinen aufgeschichteten Mauern, mitten in den Terrassenfeldern hoch über dem Meer. Dschana, die sonst ein richtiges Plapperschnutchen war, hatte bisher kaum etwas gesagt.
„Opa, ich möchte nicht, dass du stirbst“, sagte sie für den alten Mann unerwartet, und Tränen standen in ihren Augen.
"He, mein kleines Mädchen, was soll das denn, ich denke noch nicht ans Sterben“, antwortete Opa ohne Zögern, legte einen Arm um ihre Schultern und drückte sie liebevoll an sich.
„Ich habe aber gehört, wie Mama zu Onkel Ivan gesagt hat du seiest ganz schlimm krank. Und wenn man ganz schlimm krank ist, dann stirbt man vielleicht.“
„Menschen werden geboren, und Menschen sterben, das ist so, und das kann man auch nicht ändern. Mit dem Sterben lasse ich mir aber noch Zeit, und krank bin ich schon gar nicht. Es ist lediglich das hier“, beschwichtigte er und zeigte seine gichtgekrümmten Hände vor.
„Aber selbst damit kann ich immer noch dies hier halten“, lachte er, hob seinen Gehstock in die Luft und schlug zur Bestätigung damit kräftig gegen die Steinmauer. Eine braungraue Eidechse flitzte aufgeschreckt neben Dschanas Beinen die Wand hoch und verschwand genauso schnell wie sie aufgetaucht war unter einer Wurzel.
„Schau mal“, sagte Opa und zeigte auf die Adria hinaus und hinüber zur Halbinsel Peljesac, „siehst du das, da über dem Gipfel des höchsten Berges?“
Dschana konnte nichts besonderes entdecken.
„Sieh genau hin“, forderte sie ihr Opa auf, „siehst du nicht die kleine, blasse Wolke genau über dem Gipfel?“
„Ja, jetzt sehe ich sie“, bestätigte Dschana, „aber die ist wirklich noch ganz klein.“
„Wenn wir noch ein wenig warten, wirst du erkennen, dass sie schnell wächst, und sich auch über den anderen Gipfeln weitere Wolken bilden werden. Es wird dort bald eine richtige Wolkenfamilie geben.“
„Oh schön“, freute sich Dschana, „ich sage wer Mamawolke, Papawolke und wer das Wolkenkind ist. Und dann geben wir allen einen Namen.“
„Das ist eine schöne Idee, das machen wir“, stimmte der Opa zu. „Doch das da drüben sind nur Wolkenkinder“, schränkte er ein.
„Und wo sind die Eltern? Wolkenkinder müssen doch auch eine Mama und einen Papa haben.“
Dschana war verwirrt und sah ihren Opa fragend an.
„Sicher haben sie Eltern“, erklärte der, „das Meer und die Sonne sind Vater und Mutter.“
Er zupfte einen frischen Rosmarinzweig vom Busch neben sich ab und hielt ihn Dschana unter die Nase. Sie lächelte und atmete tief ein. Dann steckte er sich das frische Grün hinter sein rechtes Ohr.
Dschana brauchte nicht lange warten, und nahezu über jedem Gipfel stand eine kleine Wolke. Sie wuchsen schnell, lösten sich dann von den Bergen und zogen Richtung Nordosten. Die Sonne stand tief am Horizont und tauchte die Wolkenkinder in wunderschöne Farben, vom hellen Rosa bis hin zu kräftigem Violett.
Dschana und ihr Opa saßen still auf der Mauer und beobachteten das Schauspiel. Dschana unterbrach das Schweigen: „Wohin fliegen die Wolkenkinder jetzt, Opa?“
„Wolltest du ihnen nicht Namen geben“?, kam die Gegenfrage.
Dschana lächelte etwas verlegen, denn es waren doch mehr Wolken geworden, als sie erwartet hatte.
„Na gut“, half der Opa, „ich werde dir vom Leben der Wolkenkinder erzählen, und die erste Wolke, die wir gesehen haben, nennen wir Wölkchen.“
Dschana nickte aufgeregt, rutschte ein wenig zur Seite, und sah ihren Opa erwartungsvoll an.
„Schon jetzt“, begann der alte Mann zu erzählen, „schon jetzt gehen die Wolkenkinder in den Wolkenkindergarten.
Du hast gesehen, wie schnell sie gewachsen sind. Dann, über dem Festland kommen sie in die Schule. So wie du und deine Freunde, spielen sie natürlich in ihrer Freizeit Verstecken und Fangen. Sie steigen auf und ab, sausen umeinander herum, und bald ist aus unserem Wölkchen eine große Wolke geworden. Dort, weit hinter uns im Landesinneren, liegt ein sehr großes Gebirge, mit Bergen, die viel höher sind, als du dir vorstellen kannst. Wenn Wölkchen dort ankommt, ist sie inzwischen so schwer geworden, dass sie nicht über das Bergmassiv hinweg kann. Gerne würde sie noch weiterfliegen und mit ihren Brüdern, Schwestern und Freunden spielen, doch sie kann es nicht schaffen. Das macht Wölkchen dann so traurig, dass sie zu weinen beginnt und ihre Tränen als Regen zur Erde fallen."
„Ja, aber, nach dem Regen ist der Himmel wieder blau, die Wolken weinen so lange bis sie sich ganz aufgelöst haben“, sagte Dschana verzweifelt, „dann stirbt Wölkchen doch.“
„Nein“, beruhigte sie ihr Opa, „so wie aus dir einmal eine erwachsene Frau wird, so ist es auch mit Wölkchen, sie wird langsam erwachsen.“
„Muss sie dann auch arbeiten“?, fragte Dschana.
„Oh ja, schon auf ihrem Weg zur Erde fängt das an. Sie reinigt die Luft und wäscht den Staub von den Blättern der Pflanzen. Am Boden sammelt sie sich in Pfützen und Teichen und tränkt die Tiere.“
„Und dann ist Wölkchen auch bestimmt nicht mehr traurig, weil die Arbeit ihr gefällt“, unterbrach Dschana den Opa.
„Sicher“, nickte Opa, „denn viel Spaß hat Wölkchen auch. Sie macht eine Rutschpartie durch das Bett des Baches die Hänge vom Gebirge hinunter. Da wird sie oft richtig übermütig. So Manchen, der an der Uferböschung sitzt, bespritzt sie und gluckert dabei vor Vergnügen.“
Dschana hielt sich kichernd die Hand vor den Mund, da sie sich vorstellte, wie Wölkchen den Opa bespritzte und der pitsch patsche nass dastand.
„Du erinnerst dich doch sicher an unseren Besuch bei Tante Miranda und weißt, wo sie wohnt“, sagte der Opa, „oben in Jablanica in Bosnien.“
„Ja“, nickte Dschana, und mit einem Mal wurden ihre Augen ganz groß. „Das Haus der Tante liegt direkt neben einem Bach und das ist der, den Wölkchen hinuntersaust, oder?“
„So ist das“, bestätigte der alte Mann und erzählte weiter. „Du hast auch die vielen anderen Bäche und kleinen Flüsse auf unserer Fahrt dorthin gesehen. Sie alle bilden früher oder später den großen Fluss, den wir Neredva nennen.“
„Und da trifft Wölkchen ihre Schwestern, Brüder und Freunde wieder“, rief Dschana begeistert, „und wie geht es dann weiter?“
„Zwischen dem Ort Jablanica und der Stadt Mostar wartet eine Menge Arbeit auf sie. Doch Wölkchen, ihre Geschwister und Freunde sind zusammen so stark geworden, dass es ihnen keine Mühe macht dort die Turbinen der Wasserkraftwerke anzutreiben, die uns den Strom liefern. Dann, in Mostar angekommen, sind doch alle sehr froh, dass die Zeit der harten Arbeit vorüber ist.
Wer oben in Mostar auf der alten Brücke steht, kann beobachten, wie sie darum unten in der engen Schlucht ein Fest feiern. Tanzend und singend wirbeln und toben sie ein letztes Mal zwischen den Felsbrocken umher. Von da an wird es ruhiger. Das Flussbett wird breiter und später im Delta haben sie noch eine kleine Aufgabe. Sie sorgen dafür, dass Mandarinen-, Apfel- und Kirschbäume genügend Wasser bekommen. Doch unsere Freunde die Wolkenkinder sind alt und müde geworden.“
„Aber stark sind sie alle“, protestierte Dschana, „immerhin tragen sie jetzt die großen Schiffe. Du bist ja auch noch stark, Opa. Auch du hilfst bei der Olivenernte und trägst das schwere Reisigbündel den Berg hinunter.“
Der Opa lächelte und schränkte ein: „Weißt du, so manches Mal bin ich schon recht müde.“
Dschana griff nach seiner Hand und streichelte sie.
„Opa, sterben Wolkenkinder auch?“, wollte Dschana wissen.
„Der Fluss ergießt sich ins Meer, und so endet die Reise der Wolkenkinder dort, wo sie begonnen hat“, sagte Opa. "Irgendwo da draußen sind sie alle vereint und beobachten die, die nach ihnen kommen werden.
Und wenn ich einmal nicht mehr auf diese Welt bin, dann schwebe ich irgendwo da oben im Meer der Sterne und passe auf, dass meinem kleinen Mädchen hier unten nichts Böses geschieht."