Was ist neu

Wolfstochter

Mitglied
Beitritt
19.08.2003
Beiträge
223
Zuletzt bearbeitet:

Wolfstochter

Wolfstochter

Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer, dieser erste Sommer nach dem Krieg. Die dreimonatigen Schulferien hatten begonnen.
Opa hörte Dschana rufen. Er blickte zurück und sah, wie sie fröhlich lachend und winkend hinter ihm her den felsigen Weg heraufkam. Sie erreichte ihn am Rande des Oberdorfes, wo Opa im Schatten des letzten Hauses die bis zum Rand mit Wasser gefüllten Kanister abgesetzt hatte.
Die Zisterne, die sonst bis Anfang August das Oberdorf mit Wasser versorgte, war schon leer. So mussten die Bewohner das Wasser zum Tränken der Tiere den Berg hinauftragen, zu den Ställen, die zwischen den Felder lagen.
„Guten Morgen“, wurde sie freundlich von Opa begrüßt, „kommst du mit hinauf zu den Tieren?“
Mit einem verschmitzten Lächeln blickte Dschana zu ihm auf.
„Klar doch, ich habe doch Ferien."
Opa streichelte über ihr langes, dunkles Haar und nahm die Kanister wieder auf.
„Na, dann los, sonst verdursten uns die armen Kleinen noch“, sagte Opa und beobachtete Dschana aus den Augenwinkeln. Die reagierte sofort, wie Opa es erwartet hatte.
„Es gibt Kleine?“.
Mit großen, fragenden Augen sah sie Opa an; der nickte schmunzelnd. Dschana hüpfte vor Freude von einem Bein auf das andere, lief ein Stück voraus und hopste wieder zurück.
„Ja“, sagte Opa, „unsere alte Gorica hat noch einmal Junge bekommen, zwei Mädchen.“
Nun war Dschana doch enttäuscht. Vor der alten Ziege Gorica hatte sie großen Respekt. Die duldete nur Opa in ihrem Stall. Alle anderen schubste sie, oft mit harten Stößen hinaus. Erst recht angriffslustig war sie, wenn sie Junge hatte.
Als ob Opa ihre Gedanken erraten hätte sagte er: „Die Kleinen sind gerade vier Tage alt. Du gehst mit in den Stall und bleibst dicht neben mir, dann kannst du sie streicheln.“
Nach einer Viertelstunde durch die schattenlosen Felder, kamen sie verschwitzt am Ziegenstall an. Opa öffnete das Gatter und sofort kam Gorica angesprungen. Dschana hielt sich zurück. Als dann aber zwei schneeweiße Zieglein ihre Nasen aus der Stalltür steckten, vergaß sie alle Vorsicht und ging behutsam auf sie zu. Kurz bevor sie sich zu ihnen hinabbeugte, bemerkte sie, dass etwas raues ihre Hand berührte. Es war Goricas Zunge. Die alte Ziege leckte erst ihre Hand, dann ihren Unterarm.
„Sieh mal, Opa, sie mag mich doch“, rief Dschana begeistert.
„Kein Wunder“, antwortete Opa, „du hast ihr ja auch etwas mitgebracht.“
Opa sah ihren verdutzten Gesichtsausdruck und erklärte: „Du hast stark geschwitzt und so ist deine Haut jetzt salzig. So wie Kinder Süßigkeiten mögen, lieben Ziegen Salz.“
Dschana verstand und wagte sogar Gorica zu streicheln.

Am liebsten wäre Dschana den ganzen Tag bei den Ziegen geblieben, doch Opa mahnte zum Aufbruch. Goiko der Esel musste aus seinem Stall geholt werden. So stiegen sie weiter den Hang hinauf.

„Kennst du das Mädchen schon, das aus Sarajevo gekommen ist?“, fragte Opa auf ihrem Weg.
„Du meinst diese Svetlana, die mit dem bösen Gesicht, die bei Stenko dem Metzger zu Besuch ist?“
Dschana hatte ihre Augen zusammengekniffen und die Mundwinkel nach unten gezogen.
„Das ist eine eingebildete, dumme Ziege“, sprach sie weiter, „keiner will mit ihr spielen! Ich meine“, schränkte sie ein, „sie sieht ja ganz nett aus, aber sie will mit keinem etwas zu tun haben. Außerdem ist ihr Vater ein Serbe, und die haben den Krieg angefangen.“

Der Eselsstall war unmittelbar an einen hervorragenden Felsen angebaut, der noch einige Meter über das Dach des Stalles hinausragte. Schon von Weitem hörten sie das aufgeregte Ia von Goiko. Opa war kurz stehen geblieben und hatte mit den Augen das Gelände abgesucht, war dann aber mit gewohnt festem Schritt weitergegangen. Kurz bevor sie den Fuß der Felswand erreichten, nahm Opa Dschana an die Hand.
„Du darfst jetzt nicht erschrecken“, sagte er ruhig, fast flüsternd, „wir haben Besuch.“
Dschana konnte zunächst nichts entdecken. Dann aber fuhr ihr doch ein gewaltiger Schreck in die Glieder, als sie oben auf dem Felsen neben dem Stall den Wolf entdeckte. Sie klammerte sich an ihren Opa und wagte kaum zu atmen.
„Hallo Wolfstochter!“, rief Opa mit lauter Stimme, „du musst keine Angst haben, das hier ist meine Enkelin Dschana. Komm herunter, komm her zu mir, du wirst durstig sein.“
Bei dem Namen ‚Wolfstochter’ war Dschana ein weiteres Mal zusammengezuckt, gab es doch Keinen in der ganzen Gegend, der nicht die Geschichten über das Schafe, Ziegen und Hühner reißende Untier kannte. Selbst Menschen sollte es schon angegriffen haben.
Vorsichtig blickte Dschana wieder nach oben, doch das Tier war verschwunden. Opa hatte sich aus ihrer Umklammerung gelöst, den Holztrog vor Goikos Hütte genommen, ihn einige Meter davon entfernt wieder abgesetzt und mit Wasser gefüllt. Er war zurückgekehrt und deutete ihr an sich wie er in die Hocke zu begeben. Es dauerte nicht lange, da schob sich die Schnauze des Tieres hinter dem Stall hervor. Sehr vorsichtig machte es ein, zwei Schritte nach vorn. Seine Lauscher waren nach oben gestreckt und drehten sich hin und her. Es sah aus, als ob es mit dem Kopf nicken würde, fletschte dann die Zähne und bewegte sich einen Schritt im Rückwärtsgang nach hinten.
„Komm meine Freundin,“ sprach Opa das Tier an, „hole dir dein Wasser!“
Dann, zunächst zögerlich, bewegte sich das Tier auf den Trog zu. Hastig trank es schließlich, um sich darauf in schnellen Sätzen wieder von ihnen zu entfernen. Es hatte sich noch einmal umgedreht und zu ihnen geschaut, bevor es zwischen den Felsen verschwand.
„Nun kennst du auch meine alte Freundin Wolfstochter“, sagte Opa und lächelte.
„Bist du diesem Tier schon einmal begegnet?“, fragte Dschana noch immer ängstlich.
„Ja“, antwortete Opa, „schon sehr oft. Aber das ist nicht einfach ein Tier, das ist Wolfstochter, meine Freundin.“
„Erzählst du mir von ihr?“, bat Dschana.

„Ihr Vater war ein Wolf, das ist deutlich zu erkennen, und ihre Mutter war ein Hund hier aus unserer Gegend“, begann Opa. „Es war vor genau sieben Jahren und der Sommer war noch heißer als dieser jetzt. Damals war ich dabei den Stall von Goiko neu zu bauen und machte dort im Schatten des Felsens eine Pause, als ich leises Winseln hörte. Nach kurzem Suchen fand ich die Ursache dafür heraus. Wolfstochter lag eingerollt in einer Mulde hinter einem größeren Felsenstück. Sie war Mutter geworden. Da oben in den Bergen die Flüsse kein Wasser mehr führten, war sie instinktiv hier herunter gekommen. Obwohl sie sich vor den Menschen fürchtete, war es die einzige Möglichkeit für sich und ihre Jungen an Wasser zu kommen. Es waren ihre ersten Jungen, sie hatte noch keine Erfahrung damit, denn ich sah sofort, dass sie auf einem der Welpen lag. Erst habe ich Wasser in meine Hand geschüttet und sie trinken lassen, dann das Kleine unter ihr herausgeholt. Ich habe den ganzen Tag bei ihr gesessen. Auch die nächsten Wochen habe ich sie täglich versorgt, bis sie und ihre sechs Jungen kräftig genug waren zurück in die Berge zu gehen. Seit dieser Zeit kommt Wolfstochter immer wieder einmal vorbei. Und glaube nicht diese dummen Geschichten über sie. Sicher, sie jagt oben in den Bergen, doch das macht sie, um zu überleben. Sie ist zudem ein Einzelgänger. Die Wölfe nehmen sie nicht in ein Rudel auf, da sie nur zur Hälfte ein Wolf ist, und zu den Menschen kann sie nicht, weil sie ein halber Wolf ist – eigentlich ein trauriges Leben, findest du nicht auch?“
Opa sah zum Himmel hinauf und sagte: „Es ist Mittag, wir sollten zurückgehen, man wird uns schon vermissen.“

Schweigend waren sie bis zum Ziegenstall gekommen, als Opa fragte: „Stenko der Metzger und seine Frau sind Svetlanas Onkel und Tante, wusstest du das?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort, „Sie ist nicht auf Besuch, sie wird für immer hier bleiben, denn sie hat keine Eltern mehr.“
Dschana sah kurz zu ihrem Opa auf, ging aber schweigend weiter.
„Meinst du nicht“, begann Opa wieder, „meinst du nicht, dass sie auch eine Freundin braucht. Stell dir vor, du hättest niemanden.“
„Ja aber, sie ist so abweisend“, erwiderte Dschana.
„Denk an unsere alte Ziege. Sie hat dich immer wieder aus dem Stall vertrieben, bis du ihr etwas gegeben hast. Denk an meine Freundschaft mit Wolfstochter. Ein wenig Wasser und Aufmerksamkeit zur richtigen Zeit, mehr hat es nicht gebraucht.“
„Du hast ja Recht, Opa, aber was sollte ich ihr denn schenken?“
„Schenke ihr das Schönste, das du besitzt“, riet ihr Opa, „schenke ihr dein Lächeln!“

 

Hallo Jadro,

sehr schön finde ich diese Geschichte. Du schaffst es, den Leser mitzunehmen in ein anderes Land, ein bisschen auch in die andere Kultur, und erzählst trotzdem eine Geschichte, die jeder verstehen kann, egal wo er lebt. Auch "hier" gibt es schließlich Ausgrenzung, die zum Teil ganz unbegründet ist, gerade unter Kindern. Und auch hier würden sich einige wünschen, dass jemand auf sie zukommt, ob mit einem Lächeln oder ein paar netten Worten.
Mir hat auch gefallen, was du über Gorica und Wolfstochter erzählt hast, so wusste ich zum Beispiel nicht, dass Ziegen Salz lieben - wieder was gelernt :).

Sprachlich fand ich die Geschichte gut. Nur drei kleine Anmerkungen:

„Klar doch!“, ich habe doch Ferien.
"Klar doch, ich habe doch Ferien." (der zweite Teil gehört zur wörtlichen Rede)
Damals war ich dabei den Stall von Goiko neu zu bauen
„Stenko, der Metzger und seine Frau
Komma nach "Metzger", sonst wären es ja drei Personen ;).

Liebe Grüße,
Juliane

 

Hallo Juliane,
zunächst danke fürs Lesen und Kommentieren. Die Fehler habe ich korrigiert. Ursprünglich hatte ich kein Komma nach dem Namen Stenko. Im Kroatischen heißt das ‚Stenko mesar’. Da sich, vor allem in kleinen Orten, die Menschen mit ihren Vornamen anreden, wird die Berufsbezeichnung (hier: mesar = Metzger), zur Unterscheidung der Person von anderen mit dem gleichen Vornamen, wie ein Nachname verwendet. Hat mich wohl ein wenig verwirrt – aber du hast Recht, mit Komma wären es drei Personen.

Noch einmal danke und einen lieben Gruß aus Hamburg

Jochen

 

hallo Jadro!

Wieder eine wundervolle Geschichte. Ich liebe Deine Art, aus Kroatien und den Ländern zu erzählen.
Einige Anmerkungen:

"Opa hörte ihr Rufen. Er blickte zurück und sah Dschana, die fröhlich lachend und winkend hinter ihm her den felsigen Weg heraufkam" - bin beim ersten Satz gestolpert. Da der Leser noch nicht weiß, wer "sie" ist, würde ich entweder im ersten Satz schon den Namen erwähnen, oder aber das "ihr" weglassen.

Zum Schluss: der kommt mir im Vergleich zu dem liebevollen erzählen sonst sehr kurz vor, so, als ob Du fertig werden willst. Moral, Pointe, Schluss.
Hier könntest Du meines Erachtens nach noch ausbauen!

Liebe Grüße
Anne
"Opa sah ihren verdutzten Gesichtsausdruck und erklärte: „Du hast stark geschwitzt und so ist deine Haut jetzt salzig. So wie Kinder Süßigkeiten mögen, lieben Ziegen Salz.“
Dschana hatte verstanden und sogar gewagt Gorica zu streicheln." - hier machst Du einen unnötigen Zeitwechsel!

„Kennst du das Mädchen schon, dass aus Sarajevo gekommen ist?“, - das Mädchen, das

 

Hallo Anne,
lieben Dank für deinen Kommentar und das Aufzeigen der Fehler – habe sie bereits korrigiert.
Was den Schluss anbelangt, da muss ich ein wenig darüber nachdenken – so zwei, drei Sätze mehr wären sicher nicht schlecht.

Liebe Grüße aus Hamburg

Jadro

 

Hallo Jadro

wirklich sehr schön hast du anhand eines Wolfmischlings, und natürlich deiner Geschichte, Dschana beigebracht wie auch Kinder über den Vorurteilen stehen sollten. Mit Güte, nicht mit Furcht sollte man Fremden entgegentreten.
Hab sie gerne gelesen und werde sie Morgen, Luis und Kybra vorlesen.

Einen schönen Abend wünsch ich dir

Morpheus

 

Hallo Morpheus,
vielen Dank für das Lesen der Geschichte. Ich hoffe Luis und Kybra wird sie auch gefallen.

Gruß aus Hamburg

Jadro

 

Hallo Jadro,

eine schöne, ruhig erzählte Geschichte, die ich sehr gerne gelesen habe. Wir erfahren einiges aus einem fremden Land, einiges über Tiere, die uns Städtern kaum vertraut sind und etwas über eine Außenseiterin, was uns wahrscheinlich nur allzu vertraut ist.

Sehr schön ist, wie Du davon erzähst, dass Ziege und Wolfshündin doch Vertrauen zu den Menschen aufbauen und besonders schön ist der Schluss Deiner Geschichte: Dschana soll das Schönste verschenken, was sie besitzt, ihr Lächeln. Mir wurde ganz warm ums Herz.

Liebe Grüße
Barbara

 

Hi Jadro!
Was soll ich schreiben?
Ich habe deine Geschichte gelesen. Mir gefällt sie gut. Vom Thema genauso wie von der Umsetzung und vom Stil.

Zu meckern habe ich ncihts, weshalb ich mit meiner "Kritik" auch schon wieer am Ende bin... :D

Denk dir bei meiner Antwort einfach mal alles, was die andren gesagt haben. Dann spar ich mir das Tippen und du dir das Lesen ;) :D

War schön zu lesen.

 

Hallo al-dente, hallo moonshadow,
auch ich kann nur sagen: „Danke für Eure Beiträge.“

Lieben Gruß aus Hamburg

Jadro

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom