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Wolfstochter
Wolfstochter
Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer, dieser erste Sommer nach dem Krieg. Die dreimonatigen Schulferien hatten begonnen.
Opa hörte Dschana rufen. Er blickte zurück und sah, wie sie fröhlich lachend und winkend hinter ihm her den felsigen Weg heraufkam. Sie erreichte ihn am Rande des Oberdorfes, wo Opa im Schatten des letzten Hauses die bis zum Rand mit Wasser gefüllten Kanister abgesetzt hatte.
Die Zisterne, die sonst bis Anfang August das Oberdorf mit Wasser versorgte, war schon leer. So mussten die Bewohner das Wasser zum Tränken der Tiere den Berg hinauftragen, zu den Ställen, die zwischen den Felder lagen.
„Guten Morgen“, wurde sie freundlich von Opa begrüßt, „kommst du mit hinauf zu den Tieren?“
Mit einem verschmitzten Lächeln blickte Dschana zu ihm auf.
„Klar doch, ich habe doch Ferien."
Opa streichelte über ihr langes, dunkles Haar und nahm die Kanister wieder auf.
„Na, dann los, sonst verdursten uns die armen Kleinen noch“, sagte Opa und beobachtete Dschana aus den Augenwinkeln. Die reagierte sofort, wie Opa es erwartet hatte.
„Es gibt Kleine?“.
Mit großen, fragenden Augen sah sie Opa an; der nickte schmunzelnd. Dschana hüpfte vor Freude von einem Bein auf das andere, lief ein Stück voraus und hopste wieder zurück.
„Ja“, sagte Opa, „unsere alte Gorica hat noch einmal Junge bekommen, zwei Mädchen.“
Nun war Dschana doch enttäuscht. Vor der alten Ziege Gorica hatte sie großen Respekt. Die duldete nur Opa in ihrem Stall. Alle anderen schubste sie, oft mit harten Stößen hinaus. Erst recht angriffslustig war sie, wenn sie Junge hatte.
Als ob Opa ihre Gedanken erraten hätte sagte er: „Die Kleinen sind gerade vier Tage alt. Du gehst mit in den Stall und bleibst dicht neben mir, dann kannst du sie streicheln.“
Nach einer Viertelstunde durch die schattenlosen Felder, kamen sie verschwitzt am Ziegenstall an. Opa öffnete das Gatter und sofort kam Gorica angesprungen. Dschana hielt sich zurück. Als dann aber zwei schneeweiße Zieglein ihre Nasen aus der Stalltür steckten, vergaß sie alle Vorsicht und ging behutsam auf sie zu. Kurz bevor sie sich zu ihnen hinabbeugte, bemerkte sie, dass etwas raues ihre Hand berührte. Es war Goricas Zunge. Die alte Ziege leckte erst ihre Hand, dann ihren Unterarm.
„Sieh mal, Opa, sie mag mich doch“, rief Dschana begeistert.
„Kein Wunder“, antwortete Opa, „du hast ihr ja auch etwas mitgebracht.“
Opa sah ihren verdutzten Gesichtsausdruck und erklärte: „Du hast stark geschwitzt und so ist deine Haut jetzt salzig. So wie Kinder Süßigkeiten mögen, lieben Ziegen Salz.“
Dschana verstand und wagte sogar Gorica zu streicheln.
Am liebsten wäre Dschana den ganzen Tag bei den Ziegen geblieben, doch Opa mahnte zum Aufbruch. Goiko der Esel musste aus seinem Stall geholt werden. So stiegen sie weiter den Hang hinauf.
„Kennst du das Mädchen schon, das aus Sarajevo gekommen ist?“, fragte Opa auf ihrem Weg.
„Du meinst diese Svetlana, die mit dem bösen Gesicht, die bei Stenko dem Metzger zu Besuch ist?“
Dschana hatte ihre Augen zusammengekniffen und die Mundwinkel nach unten gezogen.
„Das ist eine eingebildete, dumme Ziege“, sprach sie weiter, „keiner will mit ihr spielen! Ich meine“, schränkte sie ein, „sie sieht ja ganz nett aus, aber sie will mit keinem etwas zu tun haben. Außerdem ist ihr Vater ein Serbe, und die haben den Krieg angefangen.“
Der Eselsstall war unmittelbar an einen hervorragenden Felsen angebaut, der noch einige Meter über das Dach des Stalles hinausragte. Schon von Weitem hörten sie das aufgeregte Ia von Goiko. Opa war kurz stehen geblieben und hatte mit den Augen das Gelände abgesucht, war dann aber mit gewohnt festem Schritt weitergegangen. Kurz bevor sie den Fuß der Felswand erreichten, nahm Opa Dschana an die Hand.
„Du darfst jetzt nicht erschrecken“, sagte er ruhig, fast flüsternd, „wir haben Besuch.“
Dschana konnte zunächst nichts entdecken. Dann aber fuhr ihr doch ein gewaltiger Schreck in die Glieder, als sie oben auf dem Felsen neben dem Stall den Wolf entdeckte. Sie klammerte sich an ihren Opa und wagte kaum zu atmen.
„Hallo Wolfstochter!“, rief Opa mit lauter Stimme, „du musst keine Angst haben, das hier ist meine Enkelin Dschana. Komm herunter, komm her zu mir, du wirst durstig sein.“
Bei dem Namen ‚Wolfstochter’ war Dschana ein weiteres Mal zusammengezuckt, gab es doch Keinen in der ganzen Gegend, der nicht die Geschichten über das Schafe, Ziegen und Hühner reißende Untier kannte. Selbst Menschen sollte es schon angegriffen haben.
Vorsichtig blickte Dschana wieder nach oben, doch das Tier war verschwunden. Opa hatte sich aus ihrer Umklammerung gelöst, den Holztrog vor Goikos Hütte genommen, ihn einige Meter davon entfernt wieder abgesetzt und mit Wasser gefüllt. Er war zurückgekehrt und deutete ihr an sich wie er in die Hocke zu begeben. Es dauerte nicht lange, da schob sich die Schnauze des Tieres hinter dem Stall hervor. Sehr vorsichtig machte es ein, zwei Schritte nach vorn. Seine Lauscher waren nach oben gestreckt und drehten sich hin und her. Es sah aus, als ob es mit dem Kopf nicken würde, fletschte dann die Zähne und bewegte sich einen Schritt im Rückwärtsgang nach hinten.
„Komm meine Freundin,“ sprach Opa das Tier an, „hole dir dein Wasser!“
Dann, zunächst zögerlich, bewegte sich das Tier auf den Trog zu. Hastig trank es schließlich, um sich darauf in schnellen Sätzen wieder von ihnen zu entfernen. Es hatte sich noch einmal umgedreht und zu ihnen geschaut, bevor es zwischen den Felsen verschwand.
„Nun kennst du auch meine alte Freundin Wolfstochter“, sagte Opa und lächelte.
„Bist du diesem Tier schon einmal begegnet?“, fragte Dschana noch immer ängstlich.
„Ja“, antwortete Opa, „schon sehr oft. Aber das ist nicht einfach ein Tier, das ist Wolfstochter, meine Freundin.“
„Erzählst du mir von ihr?“, bat Dschana.
„Ihr Vater war ein Wolf, das ist deutlich zu erkennen, und ihre Mutter war ein Hund hier aus unserer Gegend“, begann Opa. „Es war vor genau sieben Jahren und der Sommer war noch heißer als dieser jetzt. Damals war ich dabei den Stall von Goiko neu zu bauen und machte dort im Schatten des Felsens eine Pause, als ich leises Winseln hörte. Nach kurzem Suchen fand ich die Ursache dafür heraus. Wolfstochter lag eingerollt in einer Mulde hinter einem größeren Felsenstück. Sie war Mutter geworden. Da oben in den Bergen die Flüsse kein Wasser mehr führten, war sie instinktiv hier herunter gekommen. Obwohl sie sich vor den Menschen fürchtete, war es die einzige Möglichkeit für sich und ihre Jungen an Wasser zu kommen. Es waren ihre ersten Jungen, sie hatte noch keine Erfahrung damit, denn ich sah sofort, dass sie auf einem der Welpen lag. Erst habe ich Wasser in meine Hand geschüttet und sie trinken lassen, dann das Kleine unter ihr herausgeholt. Ich habe den ganzen Tag bei ihr gesessen. Auch die nächsten Wochen habe ich sie täglich versorgt, bis sie und ihre sechs Jungen kräftig genug waren zurück in die Berge zu gehen. Seit dieser Zeit kommt Wolfstochter immer wieder einmal vorbei. Und glaube nicht diese dummen Geschichten über sie. Sicher, sie jagt oben in den Bergen, doch das macht sie, um zu überleben. Sie ist zudem ein Einzelgänger. Die Wölfe nehmen sie nicht in ein Rudel auf, da sie nur zur Hälfte ein Wolf ist, und zu den Menschen kann sie nicht, weil sie ein halber Wolf ist – eigentlich ein trauriges Leben, findest du nicht auch?“
Opa sah zum Himmel hinauf und sagte: „Es ist Mittag, wir sollten zurückgehen, man wird uns schon vermissen.“
Schweigend waren sie bis zum Ziegenstall gekommen, als Opa fragte: „Stenko der Metzger und seine Frau sind Svetlanas Onkel und Tante, wusstest du das?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort, „Sie ist nicht auf Besuch, sie wird für immer hier bleiben, denn sie hat keine Eltern mehr.“
Dschana sah kurz zu ihrem Opa auf, ging aber schweigend weiter.
„Meinst du nicht“, begann Opa wieder, „meinst du nicht, dass sie auch eine Freundin braucht. Stell dir vor, du hättest niemanden.“
„Ja aber, sie ist so abweisend“, erwiderte Dschana.
„Denk an unsere alte Ziege. Sie hat dich immer wieder aus dem Stall vertrieben, bis du ihr etwas gegeben hast. Denk an meine Freundschaft mit Wolfstochter. Ein wenig Wasser und Aufmerksamkeit zur richtigen Zeit, mehr hat es nicht gebraucht.“
„Du hast ja Recht, Opa, aber was sollte ich ihr denn schenken?“
„Schenke ihr das Schönste, das du besitzt“, riet ihr Opa, „schenke ihr dein Lächeln!“