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Wolfsglück (ein Märchen)
Soweit er blicken konnte, war die Wiese mit Blumen gesprenkelt. Der Wolf sah an diesem Frühlingstag gelbe und weiße Blüten, die sich im Licht der Sonne bewegten und er erinnerte sich. Im Rausch seines Blut- und Jagdlebens verlor es sich, ohne dass er es völlig vergaß. Als junger Wolf hetzte er glücklich über die Wiesen, suchte nach Kaninchen und kleinem Getier, sah es und saugte in seinem ersten Lebensjahr die Welt mit seinen strahlend grünen Augen in sich auf.
Er sah Wesen, die noch kleiner waren, als die Tiere, die in Panik vor ihm Reißaus nahmen. Bienen, die von Blüte zu Blüte surrten, Ameisen, Würmer und andere Insekten, die so winzig waren, dass er sie erst bemerkte, als sie sich in seine harten und borstigen Haare verirrten, ihn kitzelten und stachen. Hässlich waren sie, zum Fressen zu klein und arm an Fleisch. Aber dann bemerkte er dieses einzigartige Wesen, von dem er nicht wusste, wozu es lebte. Womöglich lebte es, um schön zu sein und die Welt zu erfreuen. Er vergaß das Flatterwesen nie.
Große Befriedigung empfand er zuweilen, wenn er mit seinen Zähnen Stücke aus warmem Leben riss, wenn er sie verschlang und sie heiß in seinem Magen lagen. Aus Schafen, Rehen, Hasen, Kaninchen, Vögeln und anderem Getier riss er Fetzen heraus. Sogar aus einem Menschen, seinem größten und entsetzlichsten Feind, der ja das furchtbarste aller Wesen war, starr blickend, kaltblütiger als jeder Wolf, mit Messern bewaffnet und mit Gewehren, aus denen Verderben kam.
Sicher, es gab die anderen Wölfe. Sie gaben ihm Sicherheit und es bereitete ihm Freude, wenn sie geordnet zur Jagd schritten, Tiere einkreisten, töteten und sich gemeinsam an ihnen satt aßen. Dafür akzeptierte er gern die Demütigungen des Alpha-Wolfes, des Anführers, der ihn zu Botengängen schickte und alles überwachte, auch die Wölfinnen. Dennoch war es ihm gelungen, heimlich eine junge Wölfin zu bespringen. Im Wald war es. Sie waren allein und nach langer Hatz auf der Suche nach einem Rudel Hirsche. Er liebte es zu rennen. Nie wurde er müde dabei. Es gefiel ihm, den Wind auf dem Fell zu spüren, den Puls zu kontrollieren. Als die Hirsche auf eine große Lichtung liefen, mussten er und seine Begleiterin am Rande des Waldes im Gebüsch versteckt warten, um die Herde nicht aufzuscheuchen. Ganz nahe lagen sie beieinander, so nahe, dass er ihr Fell spürte, den feuchten Atem der Wölfin spürte. Sie drehte sich zu ihm, streckte ihm den Hintern entgegen und bewegte ihn wie eine Feder im Wind, bis er verstand, was sie wollte. Er wusste, was er jetzt machen musste, stellte seine Vorderbeine auf ihren Rücken, suchte aufgeregt ihre Öffnung, fand sie und rammte sich in sie. Sie wimmerte, als es vorüber war, und für einige Zeit wich das Wilde aus ihnen.
Daran erinnerte er sich, als er das Wesen wiedererkannte, das von Blüte zu Blüte flatterte. Langsam und unbeholfen wirkte es und sobald es die Flügel ausbreitete, sah er klare Farben, sah Linien und ganze Figuren, Punkte, Kreise, bis die Schönheit ihn blendete und ihn tief im Inneren traf. Seine Augen schwirrten mit den Schmetterlingen von einer Blüte zur anderen, flogen von einem zum anderen. Er konnte sich kaum satt sehen an ihnen und dieses Gefühl verwirrte ihn. Er müsste Lust empfinden, es zu töten, es zu vernichten, aber er staunte nur und freute sich darüber, es zu betrachten.
An diesem sonnigen Tag konnte er sich vom Anblick des Flatterwesens nicht mehr losreißen Ein Lächeln zeigte sich auf seinem Wolfsgesicht, wie nie eins zuvor. Der Schmetterling unterdessen bemerkte wenig von der Welt, die ihn umgab. Er wusste um seine Schönheit und es kümmerte ihn nicht. Er naschte sich von Blüte zu Blüte, erfüllt von seinem eigenen Glück.
Ein Mensch beobachtete aus sicherer Entfernung lange verwundert den Wolf, der seinen Kopf, als träumte er, über die Sommerwiese streifen ließ. Mit dem Gewehr im Anschlag suchte er nach der Beute, die der Wolf im Visier haben musste und fand sie nicht. Sein eigenes Zielobjekt aber hatte er im Visier, ein herrliches Wolfsfell vor Augen.
Der Klang des peitschenden Schusses raste über die Wiese und einige Schmetterlinge klappten ihre Flügel ein und warteten, bis er verklungen war. Der Wolf aber sah mit seinen letzten Blicken die Schmetterlinge, ihre Farben und besonders einen, der größer und schöner als die anderen war und der seine farbenprächtigen Flügel gerade wieder geöffnet hatte. Diesen einen hatte er fest im Blick. Dann erst trübten sich seine Wolfsaugen und Glück, ja Liebe, war das letzte, was der Wolf in seinem Herzen trug.