Wolf und Hund
Wolf und Hund
Vor vielen, vielen Jahren fand ein Schäfer einen Wolfswelpen. „Bring ihn um“, rieten seine Nachbarn, „er wird Dir nichts als Ärger einbringen und Deine Schafe töten.“ Der Schäfer jedoch hatte ein gutes Herz, zog den jungen Wolf mit der Milch der Mutterschafe groß und nannte ihn „Hund“. Und als der Hund erwachsen war, half er dem Schäfer als Dank für seine Rettung und bewachte dessen Herde.
Die anderen Wölfe fürchteten ihren ehemaligen Artgenossen und machten einen großen Bogen um die Herde des Schäfers, so sehr sie auch der Hunger quälte. Nur der alte Leitwolf sprach: „Wolf bleibt Wolf und eines Tages wird auch er sein wahres Gesicht zeigen.“
Obwohl der junge Hund mit Schafsmilch aufgezogen wurde und der Schäfer ihn jeden Tag fütterte, verspürte dieser doch eines Tages ein großes Verlangen nach dem Fleisch der frisch geborenen Lämmer. Und als der Schäfer des Nachts schlief, fraß er drei von ihnen.
Am nächsten Morgen wurde der Schäfer durch das Geheul seines Hundes geweckt. Als er zur Herde eilte, sah er dort die toten Lämmer liegen. Sein Hund aber sprach: „Die bösen Wölfe waren es. Ich habe sie in der Nacht gesehen, doch es waren zu viele und ich konnte mich ihrer nicht erwehren.“ Der Schäfer sah das blutige Fell seines Hundes und glaubte ihm.
„Ich werde Dich zu ihrem Versteck bringen, damit Du sie für diese Tat bestrafen kannst“, versprach sein Hund und der Schäfer holte alle Einwohner des Dorfes, damit man sich an den Wölfen rächen könne.
Die Schafe jedoch schwiegen zu der Anschuldigung des Hundes, denn sie fürchteten ihn und dachten, der Schäfer würde ihnen kein Wort glauben.
In der nächsten Nacht fraß der Hund wieder drei Schafe und erzählte am nächsten Tag erneut, die Wölfe seien es gewesen. Und alle Männer zogen gemeinsam in den Wald, um die Wölfe zu jagen.
Die Schafe sahen das grimmige Gesicht des Hundes, der sie bewachte, und schwiegen. „Geben wir ihm freiwillig, was er verlangt,“ meinte der Leitbock schließlich, „alle von uns kann er nicht fressen. Der Schäfer hat den Hund über uns gestellt, wie sollte er unserer Wahrheit mehr vertrauen als den Lügen seines Gefährten.“
In der nächsten Nacht brachten sie dem Hund drei Lämmer, damit er sie fressen könne. Und wieder verleumdete dieser beim Schäfer die Wölfe. Doch diesmal sprachen die anderen Männer: „Zweimal sind wir bereits ausgezogen und haben alle Wölfe im Umkreis gejagt. Bevor wir erneut in den Wald gehen, schau in der nächsten Nacht, ob nicht der Hüter Deiner Herde die Schafe selber reißt.“
Der Schäfer glaubte zwar den anderen nicht, doch stellte er sich in der nächsten Nacht nur schlafend und beobachtete seinen Hund. Da sah er, wie die Schafe drei Lämmer zum Hund führten und er diese fraß.
„So dankst Du mir also, dass ich Dein Leben gerettet habe“, sprach der Schäfer aufgebracht, nahm einen großen Stein und erschlug seinen Hund.
Zu den Schafen aber sprach er: „Ihr wusstet die Wahrheit und habt zu seinen Verleumdungen geschwiegen. Mehr noch, ihr habt euch ihm ausgeliefert und die eigenen Lämmer verraten. Darum werde ich erneut einen Wolfswelpen groß ziehen und euch von ihm bewachen lassen. Und alle Schafe werden in Zukunft von seinen Enkeln bewacht und getrieben werden, denn eher mag ich dem Verräter trauen als dem Feigling, der sich nicht wehrt.“
Und so geschieht es bis heute.