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Wohin willst Du heute gehen?

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21.06.2001
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Wohin willst Du heute gehen?

Er hasste den Morgen, und er hasste den Abend, weil darauf der Morgen folgte, den er hasste. Und den Tag hasste er sowieso. Er hasste Idioten, den Kaffee, den ihm Sandra hinstellte, obwohl er ihr schon zum tausendsten Mal gesagt hatte, sie muss nicht extra aufstehen, um ihn zu machen. Sie ließ sich nicht davon abbringen, es war ihr heiliges Ritual oder so was, aber wer wusste schon was in ihrem Köpfchen so abging. Sie soll verdammt noch mal liegen bleiben! Alleine zu sein, war eines der wenigen Sachen, die er immer weniger hasste.
Er hasste den April, April war ein Scheißmonat, nicht Sommer nicht Winter, und er hasste Dinge, die immer Zwischendrin waren. Sie ließ es sich einfach nicht nehmen, immer musste sie in der Küche herumwerkeln, während er duschte und sich anzog. Sprich mit ihr, mein Freund, sag es ihr einfach. Alleine sein, war das zuviel verlangt?
Er hasste den Mai, den März auch, März war zu kalt und Mai war meistens Pfingsten und blöde Besuche bei ihren Scheiß Verwandten. Deshalb hasste er auch Weihnachten und den Winter sowieso. Einfach alleine sein, wenigstens die paar Minuten am Tag. Schlappschwanz, kleiner Schlappschwanz du. Sie wird wieder beleidigt sein, ich werde es ihr sagen, und sie wird beleidigt sein. Passiv-aggressiv beleidigt, wie nur sie es kann. Sprich mein Freund, sprechen löst Probleme. Er hasste sprechen. Laber, laber, endlos und immer weiter, bis übers Ziel hinaus und nicht mal der Himmel ist die Grenze.
Warum lässt sie es nicht einfach? Weibliche Territorialität oder so was. Ich mach deinen Kaffe, also bist du mein! Armes Ding.
Er hasste die U-Bahn, weil er die Menschen hasste, die damit fuhren. Er hasste die Anzugtypen, weil sie so aussahen wie er, und er hasste die Nicht-Anzugtypen, weil man sie einfach hassen musste.
Warum nicht die halbe Stunde? Wenigstens die halbe Stunde könnte sie ihm gönnen. Ich werde sprechen, vielleicht nicht heute, aber wenn, dann werde ich. Ihr sagen es endlich zu lassen, schon am frühen Morgen seinem Arsch
hinterherzulaufen.
Er hasste die U-Bahn wirklich und er hasste die Straße wegen all der Idioten, aber die U-Bahn war schrecklich. Versager, Halbstarke, halbstarke Versager, Schwächlinge, langweilige Gesichter verströmten den Todesgeruch langweiliger Leben.
Gerhard trank seinen Kaffee und Sandra saß ihm gegenüber.
"Du siehst blass aus", sagte sie und schaute besorgt drein.
Laber, laber und immer übers Ziel hinaus. Natürlich seh ich blass aus, mir ist zum Kotzen, Liebling. Weißt du, Sahneschnitte bist du ja keine mehr, wahrscheinlich auch nie gewesen. Er hasste Torte und vor allem die kleine Bräutigamfigur ganz oben. Was einem der Schwanz so alles einbrocken
konnte.
"Mir geht's gut", sagte Gerhard.
Und hau ab, Schätzchen. Bitte hau ab, mach einmal das Richtige. Du bist hier nicht erwünscht, das ist schatzfreie Zone, geschissen auf die Liebe. Was für ein Schwachsinn. Was für ein Schwachsinn geht dir heute bloß wieder durch den Kopf.

Er hasste Ute, weil sie eine Nutte war. Er hasste ihre Lippen und das dicke Rot darauf. Ihr dämliches Lächeln, wenn sie anfing, von ihren Katzen zu erzählen. Katzen hasste er auch. Ja, sie war eindeutig eine Nutte. Natürlich nicht während der Geschäftszeiten, da stand sie artig hinter dem Schalter, nahm Schecks und Zahlungsanweisungen entgegen und lächelte ihr einstudiertes Lächeln. Aber auf Weihnachtsfeiern rannte sie lasziväugig herum und grinste ständig zweideutig durch die Gegend, und ihr Wortschatz erweiterte sich plötzlich um Begriffe, die man ein ganzes Jahr nicht von ihr hörte. Und die Männer grinsten ebenso und lachten und hingen an ihren Blicken, als gäbe es etwas umsonst. Idioten, die hasste er auch, und er war umgeben von ihnen.
Er hasste Alfred, schon allein wegen des beschissenen Namens wegen. Er hasste seine dicken Brillen, seinen ergrauenden Vollbart und die Vermutung, dass er zuhause Gesundheitssandalen trug, grünen Tee trank und wahrscheinlich Grönemeyerlieder hörte. Seine Stimme klang immer so ruhig und gelassen, hatte beinahe etwas Priesterhaftes, kein Lauter Ton, immer nur Danke hier und Danke da. Oh Mann, schaufel dir dein Grab und spring selbst hinein! Kompostier dich, dann haben wenigstens die Würmer was von dir. Seine beiden Kinder hasste er gleich mit.

Gerhard hatte eine Kreditabrechnung vor sich liegen. Erschießen war gut. Peng, peng und dem Engel wuchsen Flügel. Erstechen war auch nicht schlecht, nicht so gut wie erschießen, vielleicht etwas Persönlicher, schließlich konnte man sich noch mal so richtig in die Augen schauen. Erstechen war so etwas wie der handgeschriebene Brief im E-Mail Zeitalter. Man wusste genau von wem es kam, und konnte es noch schön mit Schleifchen dekorieren. Gift, ja war auch eine Möglichkeit, aber trotzdem irgendwie Scheiße. Zu feige, viel zu weibisch.
Er hasste seinen Chef, Mitte Fünfzig und Arschloch par excellence. Lief ständig mit wichtiger Miene herum, bei Kundengesprächen lief ihm der Schleim literweise aus dem Maul und wahrscheinlich las er in seiner Freizeit, oder gar im Urlaub, Bücher mit Titeln wie "100 Tipps für Vorgesetzte" oder "Wie führe ich meine Mitarbeiter richtig?". Vollidiot eben.
Mit dem Auto niedermähen. Das wäre auch nicht schlecht. Volle Kanne aufs Gas getreten und ab in die Lüfte mit dir. Der Traum vom Fliegen, er kann wahr werden, auch für dich.
Gerhard grinste. Ein wenig.

Er hätte in der Mittagspause mit ein paar von den anderen zum Essen gehen können. Aber er hasste die anderen und er hasste auch den Fraß, den sie in dem kleinen Lokal gegenüber in sich hineinstopften. Das Lokal gegenüber hasste er auch und mit ihm den Wirt, der sie immer mit seiner schmalzigen Freundlichkeit begrüßte, so als freute er sich tatsächlich sie zu sehen, und nicht bloß ihre Brieftaschen.
Er saß im Park und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Auf dem Spielplatz nebenan lärmten Kinder. Kinder hasste er auch. Waren eben dauernd am Schreien, die kleinen Scheißer. Und strohdumm. Es gab ohnehin schon genug Idioten auf dieser Welt. Bloß keine Kinder, und schon gar nicht mit Sandra. Mit der ein Kind? Wo sie doch selbst noch eins war, zwar nicht äußerlich, aber im Kopf eben. Wie die meisten Weiber. Strunzdumm gewesen, strohdumm geblieben. Aber er musste sowieso noch mit ihr reden. Nicht nur darüber.
Föhn in der Badewanne war gut, sah immer so schön nach Unfall aus. Die Treppe runterstoßen auch. War aber auch irgendwie feige, wie vergiften eben, weibisch, nicht Manns genug Gegenwehr auszuhalten. Aber was konnte man sich heutzutage schon aussuchen. Die Umstände bestimmten die Mittel.
Er hasste Nadine, und er war sich noch nicht im klaren wen er mehr hasste, Ute oder Nadine. Nadine war keine Nutte, aber eine Emanze. Natürlich zeigte sie das nicht, und schon gar nicht während der Arbeit, aber er wusste ganz genau, dass sie sich nach Feierabend mit ihren anderen kurzhaarigen Freundinnen traf, um mit ihnen zu lamentieren wie böse doch alles sei, und vor allem die Männer. Man brauchte nicht viel Menschenkenntnis um das zu sehen, man erkannte es daran, dass sie aussah wie ein Mann. Männerhasserinnen erkannte man immer daran, dass sie aussahen wie Männer. Seltsam, aber wahr, und wahrscheinlich gab es in der Psychiatrie auch ein schönes Fremdwort für ein derartiges Krankheitsbild. Außerdem war sie bescheuert. Strunzdumm eben, man konnte sie richtiggehend in Kategorien einordnen, die Weiber, jede hatte einen anderen Knacks an der Waffel.
Kehle durchschneiden hatte etwas Ästhetisches, und vielleicht war ‚ästhetisch' das falsche Wort, aber es war doch irgendwie etwas ganz anderes. Kein feiges Herumgemurkse, einfach nur die reine Tat, das was zählte in einem winzig kurzen Augenblick. Es hatte etwas Archaiisches, Wildes. Und so etwas fehlte ohnehin in dieser beschissenen, zähen Eintönigkeit, dass alle Leben nannten. Etwas Wildes.
Die Kinder auf dem Spielplatz kreischten, in seinem Kopf lächelte Nadine ihr verlogenes Lächeln, das sie alle so gut beherrschten. Sie waren so harmlos, das waren sie immer. Aber hinter ihren Unschuldsaugen blitzte der Verrat, das Boshafte in ihnen, das sie nur verbergen, aber nie verheimlichen konnten. Ihre Zeit war der Tag, zu Millionen kamen sie heraus, trippelten über die Straßen, schlichen um die Hauser und während sie Witterung aufnahmen, leuchteten ihre Augen ständig, tasteten ihre Umgebung ab, immer auf der Suche nach Aas, nach totem Leben. Er hatte sie im Nacken, er spürte sie, aber sie waren gewitzt. Sie wussten sich zu verstecken, sie kannten die geheimen Schliche, sich umzudrehen und Ausschau nach ihnen zu halten hatte keinen Sinn, sie würden nie zu sehen sein, denn sie wussten, wie man seinen heimlichen, forschenden Blicken entkam. Und sie waren schon nahe. Es ging nicht sehr schnell, wahrscheinlich hatte er sich deshalb so lange keine Gedanken darüber gemacht, aber jetzt war es schon fast zu spät. Wie lange konnte er noch warten? Er spürte ihre gierigen Schnauzen schon an seinen Fersen, ihren todbringenden heißen Atem auf seiner Haut. Sie zogen ihre Kreise, und sie zogen sie immer enger.
Gerhard spürte die Spannung, die seinen Rücken hinaufkroch, die unangenehme Wärme, die sich gleichzeitig vom Magen her ausbreitete. Seine Lungen schienen plötzlich zum Platzen voll, und sie waren verschlossen. Nicht der kleinste Hauch konnte ihnen entkommen, kein noch so kurzer Atemzug würde sie füllen können. Seine Brust war wie erstarrt, und sein Herz begann von einem Augenblick auf den anderen so heftig und schnell zu schlagen, dass alles was er von diesem Moment an hörte, das laute Rattern seines Körpers war.
Er sprang von seiner Bank auf und fuhr sich mit der zittrigen Hand an den Kragen, zerrte ihn nach unten. Seine Lungen waren immer noch verschlossen. Er zerrte weiter, machte sich keine Sorgen um den obersten Hemdknopf, der widerstandslos abriss, zerrte mit allen vier Fingern seiner rechten Hand das Hemd nach unten, und zog dabei noch die Krawatte beinahe zur Hälfte aus dem Knoten.
Wieder mal. Er hechelte, leise, in winzigsten Zügen, der Park, die Kinder, die Mütter, alles nur Schemen und die Farben greller als zuvor. Wieder mal. Ist ja nichts Neues. Wieder mal. Wieder mal. Er begann zu gehen, ein gehetztes, fiebrig wirkendes Gehen. Ein schneller Schritt nach dem anderen. Wieder mal. Wieder mal. Wieder mal. Wieder mal. Langsam ließ der Druck in seinen Lungen nach. Kleine Sternchen blitzten im Blätterdach des großen Baumes auf, den er mit weit aufgerissenen, ausdruckslosen Augen ansah. Das half immer ein wenig. Gehen, und sich auf etwas konzentrieren. Das half. Sein Hecheln ging in tiefere, schwere Atemzüge über. Die Erleichterung kam, und sie war wie das Ufer eines kristallklaren Sees nach tagelanger Qual in sengender Hitze und staubigem Sand. So war es immer. Jedes mal.
Als er den Park durchquert hatte, und er bemerkte erst, dass er ihn durchquert hatte, als er ihn durchquert hatte, ging sein Atem wieder regelmäßig. Zwar noch etwas schwer und angestrengt, aber auch das war immer so. Kurz danach. Seine zitternden Hände verbarg er in den Hosentaschen, und die Schweißtropfen, die ihm über Rücken und Bauch liefen, konnte man auf die Hitze schieben. Sein Hemd stand offen, und die Krawatte hing lose um seinen Hals. Es kümmerte ihn nicht. Nicht in diesem Moment. Wie viele Leben konnte man eigentlich haben? Wie viele konnte man ertragen?

Als Gerhard am Abend nach Hause kam, war Sandra nicht da. Sie war bei ihrer Freundin Michelle, die er hasste, weil sie noch dümmer war als Sandra, und das wollte schon was heißen. Gott sei Dank kam sie nur selten hier vorbei, anscheinend war ihr der Herr des Hauses nicht sympathisch genug. Gott hasste er auch, weil er ihm damals nichts von dem Kleingedruckten gesagt hatte, aus dem der größte Teil des Vertrages bestand. Oder eigentlich der ganze Vertrag. Er war genauso ein Arschloch wie alle anderen.
Gerhard ging geradewegs ins Schlafzimmer. In der Küche stand wahrscheinlich das Essen, aber was hieß wahrscheinlich? Natürlich stand es da, tat es doch jeden Tag, das ließ sie sich genauso wenig nehmen wie den verdammten Morgenkaffee. Im Schlafzimmer öffnete er den Kleiderschrank, nahm eine schwarze Hose und ein schwarzes Hemd heraus und zog sich um. The king and the ages, they fall by the plan, it's always the tired and the ordinary man, nicht wahr, Schätzchen? Er lief ins Badezimmer und sah sich im Spiegel an, sah sich eine Minute lang selbst in die Augen, und grinste dann. Yeah, Baby, would you take me back to your house which is sainted, with lust and the listless shade. Er zwinkerte sich noch einmal zu und ging zurück in den Flur, wo er sich seine schwarze Lederjacke anzog. Dann verließ er die Wohnung.

Die Tage waren vielleicht schon heiß, aber die Nächte noch immer kalt. Die Kälte drang durch sein Hemd, Gänsehaut lief über seinen Rücken, als er die Straße entlangging. Es machte ihm nichts aus, es tat gut den kühlen Lufthauch auf der Haut zu spüren, wenigstens irgend etwas zu spüren.
Vor die U-Bahn stoßen war sein heutiger Favorit, vielleicht sogar der Favorit der Woche. Die Idee war ihm am Nachmittag gekommen, als er hinter diesem kleinen, mittelalterlichen Verlierer mit Halbglatze gestanden war. Der kleine Schwanzlutscher hatte dabei ständig auf die Uhr gesehen, weil er wahrscheinlich jedem weismachen wollte, wie wichtig er doch war und welch wichtige Termine er demzufolge noch hatte. Seine Aktentasche hatte er fest an sich gedrückt gehalten, als wäre sie sein Rettungsring in den gefährlichen Gewässern der Welt ohne Mami. Er hatte sich seinen Spaß mit ihm gemacht, und den kleinen Schwanzfreak die ganze Zeit von der Seite angestarrt. Es war wie immer. Je länger er starrte, desto mehr wandte der kleine Pimmelkauer das Gesicht von ihm weg, bis er am Ende sich schon beinahe den Hals ausrenkte. Ein kleiner Stoß nur, und ein Verlierer weniger. Zugegeben, auch ein wenig feige, aber sehr effektvoll. Es gäbe dabei wenigstens etwas zu sehen, und nachher konnte man Verliererschwuchtel Nummer 1 als Ragout von den Schienen kratzen. Ein kleiner Stoß, und es wäre was los, das reimt sich sogar, und was sich reimt ist gut.
Die Straße war taghell, schwelgte im Licht der beleuchteten Schaufenster und dümmlicher Leuchtreklamen. Eine junge Frau kam ihm entgegen. Er sah sie an, sie sah an ihm vorbei. Er sah sie weiter an, und sie kam näher. Ein kleines Blickchen nur, Kleine. Na, wie wär's? Nur die Äugelein, nur die Äugelein ... nur kurz mal die Äugelein. Sie war neben ihm und starrte noch immer geradeaus, vorbei. Oh, nicht nett, nicht nett. Eins, zwei oder drei, letzte Chance, vorbei. Dann war sie weg. Er grinste. Ganz und gar nicht nett, wirklich nicht. Aber ich begnadige dich.
Ein Mann mit Hund kam aus einem Hauseingang, kreuzte seinen Weg und lief über die Straße. Das hässliche Vieh sah ihn kurz an, und trottete dann seinem silberhaarigen Greisenherrchen hinterher. Er hasste Hunde, weil sie nur missratene Wölfe waren, kleine unterwürfige Jasager, die bellen, weil sie Angst haben, und nicht um Angst zu machen. Ganz so wie die Verlierer in der U-Bahn. Katzen hasste er, weil Katzen Lesbenviecher waren. Jede Lesbe hatte kurze Haare und eine Katze, das war nun mal so. Die gute Nadine hatte sicher einen ganzen Stall davon. Weil sie so unabhängig und eigensinnig waren, wahrscheinlich gefiel den Lesben das so gut an ihnen. Was die Fräuleins von der Dildofraktion aber vergaßen, war, dass auch für ihre Kätzchen immer wieder die Zeit kam, wo sie nicht anders konnten und ihr Katerchen suchen mussten. Schöne Scheiße, Schwestern, was?
Gerhard ging in die Bar, ohne es richtig zu bemerken. Halbgefüllt, Männer, Frauen, Rauch, schummriges Licht wie im städtischen Puff. Er setzte sich auf einen der freien Barhocker. Der verhinderte Oberbarkeeper kam dienerhaft angerauscht. Ein Schönling vom Dienst, wahrscheinlich schwul wie die Nacht finster, und seine Haare eine einzige Gelplantage. Gerhard bestellte und grinste ihm anzüglich ins Gesicht. Der Keeper ignorierte ihn. Als er das Getränk brachte, grinste Gerhard wieder und zwinkerte ihm verstohlen zu. Der Schönling sah ihn kurz verwirrt an und eilte dann wortlos ans andere Ende des Tresens, wo er begann, mit irgendwelchen Gläsern herumzuhantieren. Na Kleiner, auch nicht nett. Der Kunde ist König, nicht wahr?
Erwürgen war wirklich am besten. Das Richtige, das Wahre. Natürlich nicht die feige Nummer von hinten, vielleicht gar Anschleichen. So etwas musste man von Angesicht zu Angesicht machen, dann war es echt. Dabei in die Augen schauen, die Angst, die Verzweiflung sehen, in sich spüren, das war es schließlich, worum es ging. Es spüren, wie sich der Tod in den Körper schlich, und zu wissen, das man selbst es war, der ihm die Tür geöffnet und ihn rein gebeten hatte. Darum ging es...
Gerhard trank einen Schluck. Das ist kein Jim Beam. Der kleine Gelhase lief immer wieder an ihm vorbei, und vermied es angestrengt, ihn anzusehen. Gerhard lächelte trotzdem jedes Mal wieder anzüglich in seine Richtung. Zwei Frauen setzten auf die freien Hocker neben ihm. Die eine blond, mit Locken wie Farrah Fawcett und Designerblüschen , die typische Heirats- und Beziehungsnutte eben. Gibst du mir deins, zeig ich dir meins. Die andere dunkelhaarig, unscheinbarer. Sie unterhielten sich, nicht wirklich, denn die meiste Zeit redete die Blonde. Sie sprach von irgendeinem Arbeitskollegen, was gesagt oder getan hatte, und lachte dabei dauernd ein wenig abschätzig, aber wahrscheinlich wollte sie nur mit ihm ficken. Das wollten sie immer. Und je souveräner, je frecher und je böser sie waren, desto größer war der Schwanz in ihren Drecksköpfchen, in ihrem Denken. Die Welt war voll von ihnen. Sie brauchten keine Straßen mehr.
Gerhard bestellte noch einen Drink. Eigentlich wollte er gar keinen mehr, nach dem Ersten wollte er nie einen Zweiten, aber man musste sich in dieser Welt zu seinem Glück zwingen. Außerdem hatte er sein Gelhäschen liebgewonnen. Der Kleine hatte Angst vor ihm, das spürte er und dafür liebte er ihn. Als er den zweiten Drink brachte, zwinkerte Gerhard wieder und leckte kaum missverständlich mit der Zunge über seine Oberlippe. Der Kleine erstarrte in gespielter Ahnungslosigkeit.
Gerhard nahm seinen Whisky und nahm die Dunkelhaarige ins Visier. Die Blonde saß mit dem Rücken zu ihm, und das war auch gut so. Die kleine Nuttennovizin hing an den Lippen ihrer Lehrmeisterin, die gerade etwas von Inneneinrichtung faselte. Er starrte, und es dauerte kaum 15 Sekunden, bis sie ihn ansah. Ein kurzer Blick über die Schulter der Lehrmeisterin hinweg, stieß direkt auf den Seinen. Geistlos, leer. Warum wunderte er sich noch immer darüber? Es war immer so, sie waren immer so. Leere, dumme Leben, die ihn voll kotzten. Es hatte wenig Sinn.
Gerhard winkte seinen Gelhasen heran. Er trat ihm gezwungen und emotionslos gegenüber, als wolle er eine Grabrede halten. Gerhard bestellte fünf weiter Whiskys, und der kleine sah ihn verwirrt an. Fünf, wiederholte Gerhard mit sanfter Schlafzimmerstimme und beäugelte ihn mit seinem besten Schlafzimmerblick. Der Kleine verschwand und holte die Gläser. Der Zuckermäuserich war kühl, aber natürlich nur nach außen. Innerlich brodelte sein kleines Herzchen, denn er wollte sie, seine starke Hand. Das wollten sie immer.
Eine Minute später standen fünf volle Whiskygläser vor ihm. Gerhard nahm das erste und nippte daran. Das Schwarzköpfchen gegenüber hing noch an den Lippen der Lehrmeisterin, sah aber immer öfter verstohlen zu ihm hinüber. Ihr Blick fiel vor allem auf die fünf Gläser. Sie war so eine dumme Mistschlampe, und er hasste dumme Mistschlampen. Gerhard nahm das Glas in seiner Hand, trank es aus, stellte es ab und leerte die übrigen vier nacheinander, in einem Zug durch, wie es sein musste. Das dunkle Dummköpfchen sah ihn mit großen Augen an, und wusste anscheinend nicht, ob sie lächeln, grinsen oder angeekelt sein sollte. Gerhard grinste und sie sah wieder weg. Die Blonde war so vertieft in die Schilderung ihrer bescheuerten Erlebnisse, und merkte gar nicht, dass sie hier nicht mehr im Mittelpunkt stand, die dumme Kuh.
Gerhard winkte erneut seinen Gelhasen heran, der seine kleine Trinkperformance ebenfalls verfolgt hatte, um zu zahlen. Der Kleine rechnete hastig und legte ihm die Rechnung vor. Gerhard zahlte und gab die Hälfte der Summe als Trinkgeld dazu. Das Häschen sah verdutzt auf das Geld, obwohl Gerhard ganz ausdrücklich ‚Stimmt so' gesagt hatte. Dann bedankte er sich ein wenig kleinlaut. Sein übriges Barkeepergeschleime schien ihm vergangen zu sein.
Er stand auf und ging rüber zur Dunkelhaarigen. Sie erstarrte ein wenig auf ihrem Hocker und das dumme Geschwätz der Blonden versandete mit einem Mal. Sie sah ihn mit großen Augen an. Er beugte sich nach vorn, kam in die Nähe ihres Ohres. Sie schien noch immer wie erstarrt vor Überraschung.
"Du bist zu hässlich zum Ficken", flüsterte er ihr zu.
Das letzte Wort war kaum ausgesprochen, und er drehte sich um, ging davon in Richtung Ausgang. Er hörte das Gemurmel in seinem Rücken, und die Blonde rief ihm ein böses, böses Schimpfwort nach.
Als er wieder auf der Straße stand, konnte er das Lachen kaum zurückhalten.

Gerhard ging nach Hause. Der Alkohol tat Gott sei Dank seine Wirkung, und manchmal war die Welt doch noch schön. Menschen kamen auf ihn zu, liefen an ihm vorbei. Hässlich, hässlich war die Welt. Die Welt lief vorbei und hässlich, hässlich war die Welt. Immer lief sie nur vorbei, und hässlich war sie. Ihm war übel.
Eine junge Frau stand alleine an der Straßenbahnhaltestelle und sah erwartungsvoll die Straße hinunter, als warte sie sehnsüchtig auf ihren Stecher. Sie warteten immer auf einen Stecher. Sie hatten immer diese Figur und warteten.
Er spürte die Wärme in seinen Händen, die Wärme und den Schweiß in seinen Händen. Er verlangsamte seine Schritte, kam langsam auf sie zu. Ihr Haar, schulterlang, so blond, und immer warteten sie. Der kühle Wind jagte einen Schauer durch seinen Körper. Immer warteten sie. Can you thrill me, really thrill me? Und blau mussten die Augen sein, tiefblau, und Ja mussten sie sagen, denn sie sagten immer Ja. Er schloss kurz die Augen, saugte die kühle Nachtluft ein, und überall war sie. Ihre blonden Haare, ihre blauen Augen, ihr hungriges Lächeln. Und überall war er, seine warmen Hände auf ihrem Hals, sein Mund, der sie küsste, und seine Augen, die offen bleiben würden, während er sie küsste, um ihr Verlangen bis zum Schluss zu sehen.
Drei Jugendliche gingen an ihm vorbei und grölten lautstark. Er war jetzt direkt hinter ihr, bloß noch vier, fünf Schritte, die ihn von ihr trennten. Er betrachtete sie im fahlen Schein der Straßenbeleuchtung. So schön in dieser hässlichen Welt, zu schön für diese hässliche Welt - aber ich begnadige dich! Er fühlte ein letztes Mal ihre Wärme auf seinen Händen und ihr Verlangen, dann wandte er sich ab und ging weiter, nach Hause. An der Ecke sah er noch einmal kurz zurück ...
Ich begnadige dich!

Gerhard schlüpfte zu Sandra ins Bett, die schon geschlafen hatte, aber durch sein lautes Poltern wach geworden war. Er hätte den Whisky doch nicht auf nüchternen Magen trinken sollen. Ihm war noch immer übel.
"Hast du wieder getrunken?" fragte Sandra.
"Ja."
Sie begann zu weinen. Er streckte seine Hand aus, wollte ihr über das Haar streichen, aber sie wehrte ihn ab, heulte weiter leise vor sich hin.
Eine halbe Stunde später lag sie in seinen Armen. Es tat ihm immer leid. Und immer glaubte sie, dass es ihm leid tat.
Gute Nacht.

 

Hallo Martin,

sehr starke Geschichte. Sie lässt einen nicht aus, treibt einen weiter. Das Ende ist vom Feinsten. Habe mit Schlimmerem gerechnet, war jedoch nicht enttäuscht, dass es so kam.
Irgendwie so geschrieben, wie es auch Bukovski getan hätte. Ziemlich kompromisslos, hart und zynisch. Bei den beschriebenen Hassgefühlen musste ich manchmal schmunzeln. Ähnliches habe ich auch schon gefühlt in diversen U-Bahnen und Büroräumen.
Tolle Geschichte.

Grüße - Aqualung

 

Hi Martin,

starke Monologe eines Zynikers, da muss ich Aqualung Recht geben. Doch einen solchen Charakter wie Gerhard zu zeichnen scheint mir sehr schwierig zu sein. Und manchmal musste auch ich lachen, denn nicht immer konnte man deinen Protagonisten ernst nehmen. Ich denke, das hast du nicht beabsichtigt. Ich würde mir einen solchen Zyniker irgendwie gleichgültiger und erhabener vorstellen. Ich finde er legt ein wenig arg viel Leidenschaft in seine Hasstiraden. Aber das ist natürlich nur meine Meinung.
Die ganze Zeit habe ich mich auch gefragt, was ihn eigentlich am Leben erhält. Warum steht er jeden Morgen auf? Am Schluss gibst du die Antwort. Doch richtig klar ist es mir nicht geworden. Ist es die Liebe zu Sandra?

LG

PP

 

Hallo!

Ich finde er legt ein wenig arg viel Leidenschaft in seine Hasstiraden.

Ich hatte schon Angst, er wäre zu soft. :)

Warum steht er jeden Morgen auf? Am Schluss gibst du die Antwort. Doch richtig klar ist es mir nicht geworden. Ist es die Liebe zu Sandra?

Ja, sieht so aus, aber ich analysiere meine Geschichten im nachhinein nie.

Auf jeden Fall Danke fürs Lesen.

Gruß
Martin

 

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