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Wohin die Zikaden fliegen
Etwas Zeit bleibt ihr. Margaux dreht am Hahn, das Wasser so heiß, wie sie es gerade ertragen kann, reibt die Seife über den Handballen, zwischen den Fingern, verschränkt sie, als wollte sie beten, verteilt Creme, wartet, bis sie eingezogen ist. Es riecht nach Lavendel. Wenn doch der Sommer bald käme. Drei Minuten. Die Gummihandschuhe liegen eng an, eine zweite Haut. Margaux öffnet die Haustür, besprüht die Klinke außen, innen, reißt ein Stück von der Papierrolle ab. Dann schließt sie alle Türen, die vom Flur abgehen, steckt das Kabel des Luftreinigers in die Steckdose und stellt das Gerät auf höchste Stufe. Auf der Kommode steht das gerahmte Bild von Bruno. Vor ihrem inneren Auge sieht sie sich selbst dabei zu, wie sie über das borstige Fell streichelt, wie er sich ihr entgegenstreckt, sie mit Terrierblick anschaut, auf das Leckerli wartet, das sie ihm auf den Boden legen wird, wenn er den Trick zeigt, sich auf den Rücken legt und auf dem Boden wälzt. Wenn es nicht so kompliziert wäre, zum Tierheim zu gehen.
Als das Sirenensignal der Klingel ertönt, nimmt sie den Hörer: „Vierter Stock. Maske nicht vergessen!“ Schwere Schritte hallen durch das Treppenhaus, verklingen, nachdem sie ihr Ziel erreicht haben. Ein junger Mann steht vor ihr, dunkle Hautfarbe, Bartansatz, einer, der schlecht
Deutsch spricht, Augen, die vorsichtig in die Wohnung blicken, über ihren Körper hinweg wandern. Margaux spürt die Hitze. Er trägt Jeans mit Knöpfen vorne. Sie starrt direkt darauf, aber er wendet den Blick ab. „Ihre Lieferung. Bitte prüfen Sie, ob alles da ist. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und hoffe, Sie sind zufrieden mit dem Service.“ Nach Weihrauch duftet er. Margaux wirft einen flüchtigen Blick in die Tüten, hält den Fünfer zwischen Daumen und Zeigefinger und reicht ihn dem Mann. Wie weit er wohl gereist ist, um nach Deutschland zu kommen? Er bedankt sich und geht. Seine Jacke ist viel zu groß. Auf dem Rücken erkennt sie einen weißen Fleck, als ob er an einer Mauer entlang geschrammt wäre. Die Schritte klingen langsamer.
Nachdem sie die Einkäufe ins Bad gebracht, das Verpackungsmaterial entfernt hat, desinfiziert sie den Eingangsbereich, sprüht und wischt. Die Mülltüte trägt sie zum Container. Draußen regnet es, aber so sanft, als hätten sich die Wolken bald ausgegossen. Zurück in der Wohnung trinkt sie ein Glas Wasser, danach Riesling. Säure füllt den Gaumen, kitzelt auf der Zunge, als wär’s ein Kuss. Im alten Rom soll Wein billiger als Wasser gewesen sein. Sie schmeckt Sommerfrüchte. Dieser Winter dauert schon sehr lange. Während sie Nudeln isst, schaut sie Nachrichten, sieht die besorgten Gesichter der PolitikerInnen, hört Appelle an die Bevölkerung. Ihr Fernseher ist mit Mikrofonen und Kameras ausgestattet und beobachtet Margaux. Irgendwo da draußen sitzen welche in einem saalartigen Raum, genießen den Rundumblick auf die Wohnzimmer des Landes und spitzen Ohren und Augen, warten auf die Show, die Worte, die man an sie richtet. Sie stellt sich vor, mit dem Hintern zu wackeln und einen Vortrag zu halten:
„Ich bin’s, Margaux. Ich wohne in Frankfurt, Nähe Berger Straße. Wisst ihr bestimmt. Ich muss euch was erzählen. Auf dem Friedhof habe ich eine Judensaufigur gefunden. So eine, die einen Juden zeigt, der in den Arsch eines Schweins kriecht. Hat einer heimlich aufgestellt, neben dem Eingang, am Tor. Hakenkreuzgeile Sauerei. Aber das interessiert euch nicht, ihr Deppen. Ihr glotzt den Mädels lieber unter die Röcke. In die Luft gejagt gehört ihr, mm? Ich baue ein hübsches, kleines Bömbchen für euch. Die Anleitung habe ich mir gerade runtergeladen. Ist ganz einfach. Bin ja gespannt, ob ihr Penner die Stichworte rausfiltert und euch bei mir meldet.“
Sie fühlt sich besser danach.
Margaux wartet, bis die Dämmerung anbricht, ein rosa Lichtstreifen zwischen den Wolken erscheint. Im Treppenhaus ist es dunkel. Zum Glück. Sie zieht feste Schuhe an, wenn sie die Gesellschaft von Wesen sucht, die sich auf dem Friedhof angesiedelt haben. Unter den Sohlen schmatzt das Laub, herabgefallene Äste knacken, als sie den Weg abkürzt und durch das vergessene, hinter einem Busch versteckte Tor, den Friedhof betritt. Im Schimmer der letzten Lichtstrahlen geht sie den Weg entlang, an den Gräbern vorbei zu dem Bänkchen, das von einer Platane vor Nässe geschützt ist, breitet das Polster auf ihrem Lieblingsplatz aus. Es ist wichtig anzukommen, Gemeinschaft zu suchen, wenn die Menschen sich aus dem Weg gehen müssen. Wer jetzt alleine ist, wird’s lange bleiben, fällt ihr ein. Nein, sie hat sich kein Haus gebaut, nirgendwo. Margaux wandert auf ihren Alleen, vertraut der Einsamkeit.
Ihr Weg führt am Grab des Professors vorbei. Anfangs war es hübsch hergerichtet, eine Engelsstatue blitzte im Sonnenschein, frische Rosen standen in einer Vase, rot und weiß. Seit die Zeiten sich geändert haben, fehlen die Blumen, der Engel setzt Moos an. Die Gedanken an den Mann, den sie hätte lieben können, verlieren sich. Er starb, bevor er den Zenit seines Schaffens erreicht, sein Buchwissen sich so weit verdichtete hatte, dass er die Ernte einfahren konnte, Relevanz, Berühmtheit. Jetzt lag er da und vermoderte einsam, ohne Bücher, ohne Familie. Was musste er auch bremsen, als der Kater über die Straße lief, der danach in den Büschen verschwand, ohne sich um das Wrack des Wagens zu kümmern, das qualmend, zerquetscht, neben der Eiche zum Stehen kam, der Eiche, die vieles erlebt hatte, dreihundert Jahre, viele Menschenleben.
„Da bist du ja“ hört sie ihn rufen. „Margaux, lass uns reden, ein paar Worte nur. Ich fürchte mich vor Geistern.“
„Ich komme später bei dir vorbei.“
Unter den Bäumen haben die Schwingungen der Smartphones keine Macht, die in den Straßen, Wohnungen, den Gedanken der Menschen hausen, die sich im Rhythmus der Wellen bewegen, als wären sie fremdgesteuert. Seit sie das Gerät auseinandergenommen, die Festplatte mit dem Hammer bearbeitet hat, an der Eingangstür, an den Fenstern Goldfolie angebracht hat, um fernzuhalten, was das Hirn verklebt, Einheitsmeinungsbrei erschafft, seither atmet Margaux freier.
Winzige Regentröpfchen streicheln Kleidung und Haut. Leise rauschen die Äste. Sie lehnt sich an, setzt die Kapuze auf, schließt die Augen. Um die Stimmen zu hören, muss man filtern, was man wahrnimmt, den Straßenlärm verbannen, die Geräusche der fallenden Blätter, die Bewegungen von Mäusen, Kaninchen und Eichhörnchen, die über die Wege rennen.
Stimmen schweben in der Luft, Geister versammeln sich, erzählen ihre Geschichten, sprechen von Sehnsucht, zärtlich und wütend, je nachdem. Manche hört Margaux jedes Mal, wenn sie herkommt, andere dringen durch, ein kaum verständliches Flüstern aus fernen Vergangenheiten. Was einzelne zu sagen haben, Dialoge, die überdauert haben, Streit, Zärtlichkeiten, das, was sie bei sich tragen, ungelöste Rätsel des Daseins, die sich in den Herzen angesammelt haben, Ungesagtes, nie Verziehenes, stets Verschwiegenes. Wer unglücklich stirbt, nimmt das Leid mit ins Grab, keiner findet Frieden im Tod. Sie hört den Carmens zu, den Heikes, ihren Männern, ihren Liebhabern, den Frauen, die sich lösen, um ein eigenes Leben zu führen, arme Opfer der misogynen Gesellschaft, der Margaux zum Glück nie angehört hat. Sie hört die Wütenden, die Verzweifelten, diejenigen, deren Glück groß war, die niemals Glück kannten, Stimmen, die vom täglichen Leben, von besonderen Momenten erzählen, alles durcheinander, ohne Zusammenhang.
Alles in allem habe ich ein gutes Leben gehabt. Alles in allem war ich dumm. Wenn ich nur zu den Bergen schauen, einmal noch die Gipfel sehen könnte. Ach, den Blick in den Grand Canyon, den behalte ich für immer bei mir. Er hat mich geschlagen und ich habe mich geschämt, weil ich fett und hässlich geworden bin. Ich musste, ich musste, ich musste. Sie hat mich wahnsinnig gemacht. Sterben war leicht, eine Erlösung. Und doch: ein paar Tage noch, ein paar Stunden, einige Momente. Warum ist ein Ende ein Ende, warum ist die Zeit begrenzt? Ich möchte die Augen meiner Kinder, die Enkel wachsen sehen. Ich verlange es, will Gerechtigkeit, fordere sie. Ach, welcher Gott hat den einen Glück, den anderen Unglück gebracht. Ich habe die Sicherheit geliebt, das gefüllte Bankkonto, das eigene Haus, ich habe den Becher bis zum Rand gefüllt, doch warum hat mich der Hauch des Moders getroffen? Eine Unverschämtheit, ja, jemand wie ich wird gebraucht. Ich hätte mehr lesen, mehr Musik hören, öfter den Schmetterlingen zuschauen sollen. Aber ach, wie sollen die Zeitenläufte weitergehen ohne mich. Ich werde gutes tun, mich zu ändern, zurückgeben, ja, das werde ich, in Zukunft ein guter Mensch sein, einer, auf den man stolz ist. Ich bin erstickt, die Luft wurde mir genommen, noch bevor ich etwas sagen konnte. Ich schreie und schreie und schreie und keiner bemerkt mich, niemand sieht mich, der Schleier wird dichter, so dicht, dass ich darin verschwinde. Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn in der Engel Ordnungen. Götter, Engel, wo seid ihr?
Als Margaux sich umdreht, flüstern diejenigen, die frisch dazugekommen sind, die Erstickten, dahingerafft von einem Gegner, der sich für Seelen nicht interessiert, greift, was er bekommt, ganz so wie es mancher Mensch hält, der sich nimmt, was er braucht oder haben will, Geld, Macht, Dinge. Margaux nimmt Alptraumbilder wahr, herabstürzende Berge, Explosionen, Wassermassen, erdrückend, allumfassende Zerstörung. Sie wendet sich ab.
Der Regen lässt nach, aber die Feuchtigkeit hat die Poren der Blätter geöffnet, der Duft nach Chlorophyll, frischer Minze, einem Bad mit Fichtenextrakt liegt in der Luft. Margaux beugt den Oberkörper, stützt den Kopf ab, nimmt die Pose des Rodin'schen Denkers ein. Bis sie aufsteht, dringt nichts mehr zu ihr. Sie biegt in die Gräberreihe ab, links, rechts, links. Das Grab befindet sich an der Mauer, ein guter Platz. Die Pflanzen sind bis zur Unkenntlichkeit entstellt, Halme, schlaff, kraftlos wie Hungernde.
„Wie schön, dass du gekommen bist, Margaux.“
„Warum?“
„Weil ich mich freue.“
„Ich muss dich was fragen.“
„Was denn?“
„Ich will, dass du ein Rätsel löst.“
„Wenn ich es kann.“
„Bist doch Professor.“
„War ich, Margaux, jetzt nicht mehr.“
„Folgendes: Du weißt, was Zikaden sind?“
„Sie überleben in der Erde, graben sich nach Jahren ans Licht, verpuppen sich und fliegen davon, wenn sie nicht gefressen werden.“
„Gut. Dann überleg dir, wohin die Zikaden fliegen.“
„Das ist dein Rätsel?“
„Ja. Lass dir Zeit für die Antwort, eine Ewigkeit oder einen Tag. Wenn du es bis morgen nicht löst, sehen wir uns nie wieder.“
„Ohne Recherche?“
„Du hast genug Bücher gelesen. Adieu, Professor.“
„Du gehst?“
„Lös das Rätsel, Professor.“
Zu Hause angekommen, wirft sie alles ab, die Maske, den Schutz, die Kleidung. Der Barometer auf der Terrasse zeigt 12 Grad. Sie fröstelt nur von außen.
Irgendwann sieht sie den Schatten, der über die Dächer schleicht. Der Kater nähert sich, ein großes Tier, glühende Augen, getigertes Fell, braun, schwarz, weiß. Er streicht an Margaux entlang und springt auf den Stuhl, den sie für ihn bereitgestellt hat.
„Bei 18 Grad schlüpfen die Zikaden.“
„Mm.“
„Und dann fliege ich bis zu den Sternen.“