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Woher der Regen wirklich kam

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15.02.2003
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Woher der Regen wirklich kam

Begleitet von den spitzen Schreien der Möwen folgten wir, die Überlebenden, der Straße und ließen die bunte Häuserfassade des Dorfes hinter uns. Und als die Straße zu Ende war, überquerten wir den Hügelkamm, liefen über die Wiesen und trotteten an den Drahtzäunen entlang durch knöcheltiefen Matsch. Der letzte Regen lastete schwer auf den Weidenbüschen. Ihre Zweige ragten über die Pfade und wir streiften die nassen Blätter mit unseren Beinen, während wir in einer losen Reihe durch die Weiden stapften. Wie eine Entenfamilie mit schwarzem Gefieder und gesenkten Häuptern.

Hohe aufgequollene Wolken trieben nach Osten, während übers Meer immer neue nachkamen. Und wenn sich endlich einmal eine Lücke auftat, brach das Licht hindurch, dass die weiße Robe des Predigers aufleuchtete und die Wiesen in strahlendem Grün erglühten. Gleich darauf schloss sich die Lücke wieder und die Schatten nahmen das Land erneut in Besitz. Nur das strahlende Weiß der Robe hatte sich für eine Weile in unseren Augen festgesetzt.
„So weiß wie die Robe des Predigers“, sagten die Leute im Dorf manchmal, und die Kinder nannten ihn Schneewittchen.
Die Gesichter der Träger waren gerötet von der Anstrengung und in den Furchen ihrer Stirnen sammelte sich glänzender Schweiß. Ihre Arme waren steif und schwer vom Gewicht des Sarges, der wie ein schwarzes Kanu zwischen den vier Hüften schaukelte.

Ich konzentrierte mich auf den Hinterkopf des Predigers, um nicht unentwegt auf den Sarg zu starren, und als er durch die breiten Rücken der Träger verdeckt wurde, tat ich es meiner Schwester gleich und blickte beim Laufen auf die schlammverkrusteten Spitzen meiner Schuhe. Der Prediger murmelte irgendwelche Psalmen, aber keiner hörte ihm zu, die Leute lauschten auf das schmatzende Geräusch, mit dem die feuchte Erde auf jeden unserer Schritte antwortete. Wir drei gingen in einigem Abstand zu den Männern mit dem Sarg. Eigentlich lief Mutter bei solchen Anlässen immer vor uns. Genau da, wo jetzt die Lücke war.

Maria schlurfte neben mir durch das kniehohe Gras und ihr langer schwarzer Rock strich durch die Gräser und schlackerte im Wind. Sie hielt den Kopf gesenkt, so weit, dass sie mit dem Kinn beinahe an ihre Brust stieß. Das Haar war ihr ins Gesicht gerutscht, es bedeckte ihre Stirn, ihre Wangen, ihre Augen, sodass man die dunklen Ränder darunter nicht sah. Ich kannte sie lange genug, um zu wissen, dass dies auch der einzige Grund für ihre Haltung war, dass sie ihre Tränen verbergen wollte. Die Ränder würden verschwinden und sie würde den Kopf heben und sehen, dass eigentlich alles beim Alten geblieben war, dass sich nichts verändert hatte. So war es bei Vaters Tod gewesen und so würde es auch jetzt sein, so musste es einfach auch jetzt sein.

Tommy war etwas zurückgefallen und der Motorölgeruch, der immer von ihm ausging, hatte sich gleichermaßen verflüchtigt, denn wir hatten Gegenwind. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er die Beine bei jedem Schritt weit hob. Er ging wie ein Storch, damit sich seine Hose nicht mit Wasser vollsaugte. Er machte einen abwesenden Eindruck und auf seiner Stirn standen winzige Sorgenfalten. Am Morgen hatte er noch gesagt, er wolle auf keinen Fall mit zur Beerdigung. Wir sagten, sie war unsere Mutter und er sagte, er habe keine Zeit, die Autowerkstatt liefe nicht von selbst. Nun war er schrecklich nervös, die ganze Zeit fingerte er an seinen Jackentaschen herum, er machte sie auf und schloss sie wieder, und der Klettverschluss knisterte im Sekundenabstand.

Dann erreichten wir die letzte Hügelkuppe und das Land fiel sanft zum Meer hin ab und die Landzunge mit dem Friedhof war im Nebel nicht zu sehen. Die Klippe war ein verwaschener Fleck, umwabert von Nebelschwaden. Die Klippe, an der alles begonnen hatte. Hinter uns stieß jemand einen langen Seufzer aus. Tommy wandte den Kopf, kniff die Augen zusammen und blickte misstrauisch in die Runde. Ihm waren schon die paar wenigen Trauergäste lästig, die außer uns gekommen waren. Der Wind drückte die Grashalme zu Boden und trieb den Salzgeruch auf die Hänge. Über dem Meer lagen dunkle Wolken, und ihre Schatten trieben wie ein dunkler Teppich auf dem Wasser und dahinter war nur noch dichter Nebel wie eine Mauer, die den Horizont abschirmte.

Als die alten Steinmauern des Friedhofs in Sicht kamen, beschleunigten die Träger ihre Schritte, sie taumelten über die Weide auf das kleine Holztor zu, das im Sommer die Schafe abhielt. Maria fasste den Kragen ihres Mantels mit beiden Händen und zog ihn sich bis über die Ohren, vielleicht gegen den Wind.
Tommy hatte unwillkürlich begonnen, leise vor sich hin zu summen, die Melodie kam mir bekannt vor, aber ich brauchte eine Weile bis ich sie als als das Lied aus Mutters Spieluhr identifiziert hatte. Auch sie war inzwischen kaputt gegangen, auch die Uhr. Als wir ans Tor gelangten, verstummte das Gesumme und einer der Dorfbewohner konnte nicht umhin zu flüstern: Da wären wir also.

Wir überquerten den alten Teil mit seinen Steinkreuzen und runenverzierten Grabplatten und der Prediger warf einen nervösen Blick hinauf in die Wolken, die tief und bedrohlich über dem Friedhof schwebten und sich bewegten, als hingen sie an dünnen Seilen. Ich hoffte, dass Maria einen Schirm eingesteckt hatte. Der Boden zwischen den Kreuzen war bedeckt mit den weißen Blüten der Gänseblümchen, die hier nach jedem kleinen Regen aus der Erde schossen.
Als der Prediger im Gehen mit dem Finger auf das neuangelegte Grab deutete, stöhnten die Träger leise und erleichtert auf und wischten sich den Schweiß mit den Ärmeln von den Gesichtern.
Sie setzten den Sarg ab und nahmen darauf Platz. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, beugten sie sich nach vorn und gähnten oder spuckten zwischen ihre Beine in die Gänseblümchen. Sie wussten nicht, wohin sie schauen sollten, ihre Blicke sprangen rastlos zwischen den Wolkenbergen am Himmel und dem Prediger hin und her. Schließlich blieben sie an den Wolken haften und ihre Gesichter verfinsterten sich, als sie sahen, dass der Regen nur eine Frage der Zeit war.

Der Prediger trat heran und tippte mit der Fußspitze an den Sargdeckel, zum Zeichen, dass der Sarg nun herabgelassen werden könne. Die Arbeiter schauten sich gegenseitig an, dann sprangen sie mit einem Male alle auf und machten sich am Sarg zu schaffen, wickelten zwei Taue um ihn herum und zogen sie an den oberen Enden straff. Jeder packte eines der Enden und sie hoben den Sarg in das Loch. Ab und zu stießen sie dabei gegen die Seitenwände, sodass es dumpf krachte und Erde von den Rändern bröckelte. Niemand bemerkte es.
Alle hatten den Blick gespannt nach oben gerichtet und jeder schien in verkrampfter Haltung darauf zu warten, gleich dem ersten Tropfen ausweichen zu müssen. Einen Schirm hatte offenbar keiner dabei.

Ich warf einen Blick in die Runde. Außer uns waren etwa ein Dutzend Leute aus dem Dorf anwesend, grauhaarige Frauen mit Schleiern und Männer mit Glatzen, wir kannten sie alle mehr oder weniger gut, wie das eben so ist. Auch der alte Donnally war da, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was er mit Mutter zu schaffen hatte. Er stand etwas abseits und bewegte die Lippen, ohne jemanden anzusehen. Er stand da wie ein altes Kaninchen, das an seiner unsichtbaren Möhre mümmelt und sich doch nicht dazu durchringen kann, einen kräftigen Biss hineinzutun. Und zwischen den Lippen war seine Zunge, seine alte verrunzelte Zunge, und sie war so groß, dass es keinen Platz mehr für richtige Worte gab. Ich fragte Maria nach ihm. „Weiß auch nich“, murmelte sie, „Der ist doch bei jeder Beerdigung dabei, ganz egal, um wen es geht.“
Tommy kicherte leise. „Der übt schon für seine eigene“, witzelte er, „Versteht ihr, für seine eigene Beerdigung, na?“
„Halt´s Maul“, sagte Maria gelassen.

Die Dorfbewohner versammelten sich im Halbkreis um das Loch im Boden, und am Kopf des Grabes ließen sie eine Lücke für uns drei. „Kommt schon“, rief sie uns zu, „Wir wollen doch vor dem Regen fertig werden.“
Da erhob der Prediger seine Stimme und alles verstummte, nur nicht das Meer und die Gräser, die nur ganz selten, nur durch eine dicke Schneeschicht zum Schweigen gebracht werden.
Er säuselte seine Psalmen mit ruhiger Stimme und während er sprach, bauschte sich seine weiße Robe im Wind und immer wieder strich er sie glatt, und sie blieb glatt bis zur nächsten Böe. Einzelne Strähnen seines glänzenden schwarzen Haares standen vom Kopf ab und die Leute kicherten und sagten: Schneewittchen hat wohl kein Kämmchen.

Maria hatte sich erneut tief in ihrem Mantel vergraben, sodass ich nicht erkennen konnte, ob sie weinte oder fror. Und als die ersten Tropfen fielen, streckten die Arbeiter ihre Hände aus, wendeten sie ein paar Mal, sahen sich gegenseitig an und zuckten die Schultern. Tommy trat unruhig von einem Bein auf das andere, die Absätze seiner Schuhe bohrten sich tief in den Matsch und es ertönte jedesmal ein feuchtes Schmatzen, wenn er sie wieder herauszog. „So´n Mist“, brummelte er, „Wenn´s jetzt auch noch zu schiffen anfängt, hau ich ab.“ Wie zur Bekräftigung stieß er einen kehligen Grunzlaut aus.
„Blödsinn“, sagte ich, „Du bleibst hier. Kannst doch nich einfach verschwinden. War doch nich irgendwer, war doch deine Mutter.“
Sein Gesicht verzerrte sich zu einem Grinsen und über seiner krummen Nase berührten sich beinahe die Augenbrauen, die, schwarz und buschig, zwei behaarten Raupen ähnelten, sobald sie sich bewegten.

„Das da“, er zeigte mit dem Finger auf das Grab, „Is nich Mutter, das da war nich Mutter. Mutter is gestorben, als wir hier gestanden haben und Vater beerdigt worden is. Wahrscheinlich noch eher, als wir Vater unter der Klippe gefunden haben. Und das weißt du verdammt nochmal genauso gut wie ich!“
Beunruhigt blickte ich zu Maria, aber sie hatte sich wie ein scheues Tier in ihre Mantelkragenhöhle zurückgezogen und ich konnte nicht erkennen, ob sie uns zuhörte, ob sie überhaupt etwas hörte, ob da überhaupt etwas von ihr in ihrem Mantel steckte.
Unterdessen hatten die Dorfbewohner begonnen, vielsagende Blicke zu tauschen und sie raunten und lästerten und ihre Lästereien klangen wie Beschwörungsformeln. Sie benutzten die vergessene Sprache, sodass wir Jungen nicht verstanden, was sie sagten.
„Red doch nich so“, zischte ich, „Gerade du sagst das. Du hättest dich ruhig mehr um sie kümmern können, sie hat dich ja kaum noch gesehn. Verkrochen hast du dich in deine gottverdammte Werkstatt, wie ne Schnecke in ihr olles Schneckenhaus.“
Tommy lachte hässlich. Der Prediger hob kurz den Blick vom Gebetsbuch, räusperte sich und las weiter und sein Gesäusel wurde sofort eins mit dem Wind.

„Pah“, rief Tommy, so laut, dass es alle hören konnten, „Du kapierst es einfach nich. Mutter is nich erst gestern gestorben. Das ganze letzte halbe Jahr is sie gestorben, nach und nach. Ihr wolltet es nur nich wahrhaben. Der Kummer hat sie umgebracht. Hat doch gar nix mehr gemerkt zum Schluss. War doch gar nich mehr unsre Mutter.“ Ich schloss die Augen, um die Blicke der anderen nicht ertragen zu müssen, aber selbst durch die geschlossenen Lider konnte ich sie sehen, ihre hellen traurigen Gesichter, und durch die geschlossenen Lider starrten sie mich alle an.
Ich fühlte die Tropfen auf dem Kopf und auf der Nasenspitze, kalt und nass und völlig leer, wenn sie zerplatzten.
Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich die langen Regenfäden, die sich immer wieder wellenförmig an den Wind schmiegten. Und der Prediger erbleichte und die Arbeiter stützten sich ratlos auf ihre Schaufeln und die Tropfen wurden immer mehr und mehr und mehr.
Tommy wandte sich um. Ich fasste ihn am Ärmel und sah ihm ins Gesicht. „Hör mal“, sagte ich, „Bleib doch. Wenn nich für Mutter, dann für uns. Für die Familie. Komm!“

Er blickte mich mit seinen blassen grauen Augen an, und die Augen waren groß und leer wie die eines Kindes, das nicht versteht, was man ihm sagt. Und dann war da noch etwas, etwas wie Mitleid. Seine Taschen klappten auf und zu und der Klettverschluss knisterte. Ich wollte Maria um Hilfe bitten, wollte, dass sie mir Tommy überzeugen half, nach einem kurzen Seitenblick ließ ich es jedoch sein. Mit Mantelkragen kann man ja doch nicht sprechen. Tommy riss sich los und lief geduckt durch den Regen Richtung Tor. Die ersten anderen Trauergäste folgten seinem Beispiel, drehten sich murrend um und verließen die Zeremonie mit geduckten Köpfen und eingezogenen Hälsen. Sie verließen den Friedhof, wurden zu geknickten Schemen und verschwanden im Regengestöber.
Der Prediger beugte sich über sein Buch, um es wie ein Schirm vor dem Regen zu schützen und die Arbeiter hielten sich ihre Schaufeln über die Köpfe.

Die Dorfbewohner machten sich einer nach dem anderen davon, bis am Ende nur noch der alte Donnally dastand. Er kam nicht näher heran, sondern brabbelte weiterhin seinen Kauderwelsch vor sich hin und schien sich nicht daran zu stören, dass ihm keiner zuhörte. Auch als das Geprassel immer lauter wurde, sprach er weiter, er machte einfach weiter, als wolle er gegen den Regen anreden.
Der Wind trieb das Wasser in langen Wellen vor sich her, er zerrte an den Ligusterhecken und peitschte gegen die Steinmauern. Die Robe des Predigers verfärbte sich gräulich, wurde schwer und legte sich dicht an seinen Körper, sodass man die Umrisse seiner Beine erkennen konnte. Er warf uns einen unsicheren Blick zu. „Ich kann unmöglich weiterlesen“, brüllte er durch den Regen, „Die Seiten sind ja schon ganz nass. Geht einfach nicht mehr.“ Ich nickte. „Ach Schneewittchen“, sagte ich, „Red noch ein bisschen. Das ist dein Job.“ Er hielt die Hand ans Ohr und sah mich fragend an.

„Alle sind sie gegangen“, flüsterte es neben mir, „Keiner is mehr da. Nur wir.“
Maria´s Kopf schob sich langsam aus dem Mantelkragen, wie bei einer Schildkröte, die in ihrem Panzer steckte, und ihre Haare waren an den Seiten plattgedrückt vom Stoff.
„Nee“, sagte ich zu Maria gewandt, „Schau mal, der Prediger is auch noch geblieben und die...“
„Das mein ich nich“, fiel sie mir ins Wort, „Das mein ich doch gar nich.“
Sie drückte sich an mich und schlang die Arme um meinen Hals. Sie zitterte wie ein Blatt, als wäre sie ein Blatt, als läge es am Wind. Ich fühlte ihre Nase spitz und warm an der Schulter, ich fühlte ihre Fingerspitzen, die sich immer wieder fest in meinen Rücken krallten, sich im nächsten Augenblick wieder lockerten und gleich wieder zupackten, als hätte sie Angst, dass ich einfach weglaufe und sie hier stehenlasse, einfach so mitten im Regen. Und hätte sie nicht geschluchzt und wären ihren Tränen nicht wärmer als der Regen, hätte ich vermutlich gar nicht gemerkt, dass sie weinte.

Ich neigte meinen Kopf, streifte ihre nassen Haare beiseite und flüsterte in ihr Ohr: „Haben wir den Schirm dabei?“
Ohne ihren Griff um meinen Hals zu lockern, öffnete sie den Reißverschluss ihrer Tasche und förderte den kleinen Schirm zutage. Ich half ihr, den Schirm aufzuspannen. Anschließend betrachteten wir beide von unten den Schirmstoff, ein rosa Blumenmuster auf hellgrünem Grund.
„Wir hatten keinen Schwarzen“, hörte ich Maria´s Stimme ganz nah an meinem Ohr wispern. „Schon gut“, sagte ich leise, „Wer konnte denn wissen, dass es gleich so regnet. Konnte ja niemand wissen. Is schon gut.“ Ich hob ihre kalten Hände vorsichtig von meinem Hals und betrachtete sie. Sie waren gerötet und klein wie die Hände von Kindern. Ich dachte an Mutters Hände, die auch so klein gewesen waren und erst zum Schluss durch die Krankheit dick und aufgedunsen wurden, aber ich sagte nichts. Dann nahm ich Maria´s linke Hand und schob sie in die linke Seitentasche ihres Mantels. Und ich nahm ihre rechte Hand und schob sie in die rechte Tasche des Mantels.

Der alte Donnally sah zu uns herüber, er brabbelte nicht mehr, aber seine welken Lippen bebten und er blinzelte unentwegt, während er stumm in unsere Richtung starrte.
„Guck mal“, sagte ich, „Was macht der denn? Is der bescheuert? Warum zwinkert der uns zu?“
Maria wandte den Kopf soweit, dass sie sehen konnte, wen ich meinte. Sie schniefte und erwiderte matt: „Quatsch, das is´n Tick. Sag bloß, das is dir noch nich aufgefallen?“
„Was glaubst du, was der hier noch macht, wo die andern doch alle längst weg sind?“
„Ich weiß nich, vielleicht merkt er den Regen gar nich mehr. Oder ihm is langweilig.“
Ich schüttelte den Kopf. „Unsinn“, sagte ich, „Wie soll man denn nich merken, ob es regnet. Is doch alles nass. Muss man doch nur mal an die Füße schaun, überall Wasser.“

Der Wind fuhr in die Zweige der Weiden und sie brachen und knackten, Böen fegten über die Gräser hinweg, sodass die Halme unablässig zitterten und rauschten, während das Wasser dumpf auf unser Schirmdach trommelte. Das Schirmdach, unsere kleine Insel, auf der wir uns schlotternd aneinanderdrängten und wo wir uns sicher fühlten vor dem Wasser. So viel Wasser so nah bei uns.
„Hörst du den Prediger auch? Ich glaub, der liest immer noch. Macht ihm sicher auch keinen Spaß bei dem Wetter.“
„Ja“, erwiderte ich, „aber er muss es halt machen. Der kann doch nich einfach gehn.“
„Versprich mir, dass wir auch noch nich gleich gehn“, flüsterte sie, „Ich will noch n´ bisschen bleiben und nachdenken über das, was Tommy gesagt hat. Vielleicht hat er ja Recht.“
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, und so starrte ich stumm in den Nebel, der die Hänge vom Meer heraufkam und durch den Regen immer dichter wurde.

Die Weiden wurden zu Schatten, die Kreuze und der Prediger und die ganze Landzunge bis hin zur Klippe. Die Klippe, an der alles geendet hatte und an deren Fuß der Ozean begann.

 

Hallo Wolkenkind,
eine wirklich gelungene Geschichte hast du da geschrieben.
Durch die vielen Naturaufnahmen fühlte ich mich fast am Grabe anwesend. Auch dieses oft geheuchelte Beileid, habe ich gut in den Dorfbewohnern wiedergefunden, es ist schrecklich, habe ich selbst schon erlebt.
Alles in allem eine gelungene Geschichte, finde ich, die zum Nachdenken anregt.
Liebe Grüße
WibiB

 

Danke für deine Antwort, WibiB :)
Freut mich, dass dich die vielen Naturbeschreibungen offenbar nicht stören, ich denke auch, dass sie wichtig für die Stimmung sind.

Liebe Grüße
wolkenkind

 
Zuletzt bearbeitet:

Klasse Geschichte. Sehr dicht geschrieben. Sowohl die Landschaft, als auch die Charaktere und ihre Beziehungen zueinander sind toll beschreiben. Es gibt viele kleine charakterisierende Stellen, wie die hier etwa:

Und zwischen den Lippen war seine Zunge, seine alte verrunzelte Zunge, und sie war so groß, dass es keinen Platz mehr für richtige Worte gab.

Super. Ich konte mir das alles sehr gut vorstellen, es war wirklich bildhaft. Zuerst hatte ich gedacht, es gäbe da irgendwelche religiösen Bezüge. Am Anfang hatte das sowas. Und da ich von Religion keine Ahung habe hätte ich das auch nicht erkannt, wenn es denn so ist.

Achso, und du schreibst immer nich statt nicht. Hat das einen Grund?

 

Hallo Wolkenkind,

ich finde die Geschichte auch perfekt. Die Adjektive und Vergleiche sind absolut passend und gleichzeitig unspektakulär, was wesentlich zu der Gesamtstimmung der Geschichte beiträgt. Es ist eine ruhige und doch sehr tiefe Geschichte ohne künstliche Aufgeregtheit.
Ich habe es absolut genossen, in Deiner Geschichte zu sein und mich von den Worten forttragen zu lassen.

Liebe Grüße

Joh

 

Hallo Joh und Salinger

Danke für eure Antworten, freut mich, dass die Vergleiche nicht überzogen erscheinen.
Natürlich kam es mir vor allem um die Beziehungen der Charaktere an und um die Geschichte hinter der Geschichte, die hier nur angedeutet wird.

@Salinger
In der wörtlichen Rede hab ich das umgangssprachliche "nich" verwendet, genau wie "is" anstatt "ist", eigentlich wollte ich noch mehr Dialekt einbauen, aber dann hätten vielleicht speziell die norddeutschen Leser Probleme bekommen ;)

Liebe Grüße
wolkenkind

 

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