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Wofür wir noch leben
Wofür wir noch leben.
Die Zombies kamen durch das zerbrochene Schaufenster des Ladens gekrochen. Langsam und unbeholfen glitt der Vorderste von ihnen über die einzelnen Zacken übrig gebliebenen Glases.
Eine Scherbe bohrte sich in sein Auge, während er sich durch den Rahmen hiefte. Er gab ein feuchtes Klatschen von sich, als er auf den Boden rutschte.
Laut stöhnend hob er den Kopf und kroch langsam auf mich zu. Seine Hände hinterließen braune Schlieren auf dem Parkett.
Bevor der Kadaver auch nur einen Meter weit kam, sprang Ingolf neben ihn. Zwei kurze dumpfe Schläge mit seinem Hammer verwandelten den Kopf des Zombies in blutigen Brei.
Der Gestank vergammelten Hirns vermischte sich mit dem allgemeinen Geruch nach Moder und schlecht gewordenen Essen in dem Laden.
„Sie kommen! Wir haben alles lass uns abhauen!“
Mit der Schulter stemmte er sich gegen ein Regal und kippte es in Richtung Fenster.
Zwei weitere Zombies waren schon halb durch gekrochen, hinter ihnen waren mindestens noch zehn andere zu sehen, die zielstrebig auf uns zu kamen. Das Regal schlug laut krachend gegen das Fenster und quetschte die zwei Zombies im Rahmen ein.
Ich sah mich in dem Laden um, kein Zombie weit und breit. Alle waren draußen. Der Gedanke der schon seit Tagen an meinem Verstand kratzte, nahm die Oberhand. Ich musste sie einfach holen.
Ingolf würde es schon noch verstehen.
„Wir können noch nicht los.Das wichtigste fehlt.Halt mir noch 2 Minuten den Rücken frei. “
"Was ist denn bitte so verdammt wichtig?"
Ich grinste. „Der Sinn des Lebens, vertrau mir bitte einfach.“
Ingolfs Antwort wurde von einem der Zombies unterbrochen, der es mittlerweile geschafft hatte, an dem Regal vorbei zu greifen.
Ich wendete meine Aufmerksamkeit wieder den Regalen zu. Hinter mir schlug Ingolf fluchend auf die Zombies ein. Jedem Schimpfwort aus seinem Mund folgten mehrere dumpfe Schläge.
Uns blieb nicht mehr viel Zeit.
Der Laden war dunkel. Nur durch die Fensterfronten kam spärliches Tageslicht. Die meisten Regale waren umgeworfen und leer. In den Tiefkühltruhen moderte das Fleisch vor sich hin. Von der anderen Seite des Ladens wehte der süßliche Gestank vergammelnden Obstes herüber.
Ich musste ganz nach hinten in den Laden. Hoffentlich hatte es noch niemand mitgenommen.
Schnell schritt ich die Gänge ab. Über den Tiefkühltruhen mit den Fertigpizzen musste es sein.
Die Packungen waren eingefallen und mit Schimmel überzogen. Der Strahl meiner Taschenlampe glitt kurz darüber. Auf einer der Packungen war das Bild einer goldgelben Salamipizza zu erkennen.
Ich zögerte einen Moment. Gute alte Tiefkühlpizza. Früher war sie ein selbstverständlicher Teil meines sorglosen Studentenlebens gewesen. Jetzt war sie nur noch ein Stück Schimmel, das vor sich hin moderte wie der Rest unserer alten Welt.
Ich riss meinen Blick von ihnen los und untersuchte die Regale darüber.
Da waren sie! Ich unterdrückte einen Luftsprung. Unversehrt und in einer ordentlichen Reihe aufgestellt. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie mitzunehmen. Wieso auch?
Schnell öffnete ich meinen Rucksack und schob die Gläser hinein. Sie purzelten übereinander und gaben ein lautes Klirren von sich.
Das Geräusch der aneinander schlagenden Gläser war wie das Läuten von Kirchenglocken. Rein und erlösend.
Eine Hand packte mich an der Schulter.
Voller Schreck wirbelte ich herum. Ingolf schüttelte mich, die Augen starr und weit aufgerissen. Seine langen, dunklen Haare waren verfilzt und hingen in fettigen Strähnen von seinem Kopf.
Der Hammer in seiner Hand über und über mit Blut und Hirn beschmiert.
Etwas Wildes lag in seinem Blick.
Er sah aus wie ein Vorzeigepsychopath. Wahrscheinlich sah ich nicht viel besser aus.
Das tat niemand mehr. Weder tot noch lebendig.
„Wir haben ein Problem. Es sind zu viele am Fenster und sie haben es geschafft, die Tür aufzubrechen. Wir können vorne nicht mehr heraus. Du hast hier früher eingekauft, bitte sag mir, dass es einen zweiten Ausgang gibt!“
Sein Blick fiel auf den Rucksackinhalt. Dann sah er mich ungläubig an. Seine Stimme überschlug sich.
„Darum ging es dir? Das ist dein Sinn des Lebens? Dafür riskieren wir hier gerade unseren Arsch?!“
„Glaub mir, das ist es wert. Wenn wir hier raus sind, wirst du es verstehen.“
Bevor er sich weiter aufregen oder ich mich rechtfertigen konnte, kamen schon die ersten Zombies um die Ecke geschlurft. An ihrer Spitze lief eine Frau, die früher zweiundzwanzig gewesen sein musste.
Bekleidet war sie in der Lidl Arbeitskleidung. Sie war meine Lieblingskassiererin gewesen. Jedes Mal, wenn ich in dem Laden einkaufen war, stellte ich mich extra an ihre Kasse, nur um sie einmal anlächeln zu können. Als die Dinge noch normal waren, hatte ich mir immer gewünscht, dass sie mich begehrte. Jetzt wollte sie mich sicherlich mehr als jemals zu Lebzeiten. Manchmal ist das Leben ein ironischer kleiner Drecksack.
Ich betrachtete sie genauer.
Ein großes Stück ihres Halses fehlte. Auch an ihrem rechten Arm, den sie gierig nach uns ausstreckte, waren einige Löcher zu erkennen. Den Mund voller blutiger Zähne weit aufgerissen schlurfte sie unerbittlich weiter.
Manchmal ist das Leben auch einfach nur ein mieses Arschloch.
Ihre milchigen Augen fixierten mich und sie stieß ein schauderhaftes Stöhnen aus. Ein Chor aus gierigen Grunzlauten antwortete ihr von allen Seiten.
Wir waren eingekesselt.
„Durchs Lager! Schnell!“ Es war der einzige Weg, der uns noch blieb.
Wir rannten zu der Tür mit der großen Aufschrift „PERSONAL“.
Ich betete, dass sie offen und der Raum leer war. Mit einem Ruck riss Ingolf die Tür weit auf und wir stürzten hindurch. Sobald wir über der Schwelle waren hämmerte er sie schwungvoll zu.
Keine Sekunde nachdem sie sich geschlossen hatte fingen sie von draußen an dagegen zu hämmern. Eine nicht sehr dicke Tür ohne Schlüssel.
Schnell sahen wir uns in dem Raum um. Bis auf einige leere Lagerregale und verstreute Kisten war er leer. Das Lieferantentor war geschlossen.
Keine Zeit es von Hand aufzumachen. Die Tür gab ein besorgniserregendes Knarren von sich.
Ingolf knurrte“ Ich werde ganz sicher nicht in dem Lagerraum eines alten Lidls sterben. Zur Not schlagen wir ihnen die Köpfe ein, wenn sie durch die Tür kommen. Einem nach dem anderen...und danach schlage ich dir den Kopf ein, dafür dass du uns wegen diesem Scheiß in Gefahr gebracht hast!“ Panik schwang in seiner Stimme mit.
„Jaja“ antwortete ich abwesend. Durch einige kleine Fenster fiel schwaches Licht.
Das war unser Ausweg!
„Oder du hörst auf zu lamentieren, hilfst mir die Kisten unter das Fenster zu schieben und ich erkläre dir alles wenn wir in Sicherheit sind.“
Ingolf hielt inne, dann schüttelte er nur ungläubig den Kopf.
„Ich sehe es kommen - am Ende hast du mich wieder so weit, dass ich es wirklich für eine gute Idee hielt.“
Gemeinsam schoben wir die Kisten unter ein Fenster, Ingolf kletterte zuerst hinaus und zwängte sich durch den Rahmen. Die Tür knarrte erneut, diesmal begleitet von einem lauten Knacken.
Scheiße!
„Fang den Rucksack!“
Ich warf den Rucksack durch das Fenster und zog mich am Rahmen hoch.
Hinter mir flog die Tür mit einem Knall aus ihrem Rahmen. Das Stöhnen erfüllte den Raum.
Schnell zog ich mich durch das Fenster. Gerade als ich meine Beine nachziehen wollte, packte jemand meinen Fuß.
Nein!
Draußen stand Ingolf, 2 Meter unter mir. Sofort erkannte er die Panik in meinem Blick.
Keine Fragen, kein Zögern. Er packte meine Hände und zog mit aller Kraft. Doch die Hand wollte mich nicht freigeben. Ich spürte einen Druck an meinem Fuß.
Stumpfe Zähne versuchten sich gierig durch das Leder meiner Schuhe zu bohren.
Ich drehte vollkommen durch. „SIE HABEN MICH! SIE VERSUCHEN MICH ZU BEIßEN!“
Ingolf verdoppelte seine Anstrengungen. Einen Fuß gegen die Mauer des Ladens gestemmt und das Gesicht rot angelaufen zog er mit aller Kraft.
Ich zappelte wild, trat um mich. Meine Füße schlugen gegen weiches Fleisch, stießen es fort. Egal wohin nur weg von mir. Das Stöhnen dröhnte immer lauter in meinen Ohren. Der Druck auf meinen Fuß ließ nicht nach. Vor meinem inneren Auge sah ich meinen blutigen Körper, um den sich die Untoten drängten und mich auffraßen.
Nein, nein, NEIN!
Ingolf sah hoch zu mir. Seine Augen schienen Funken zu sprühen. Die Zähne gefletscht stieß er ein Knurren aus „Ganz sicher nicht so!“ Er sprang, stemmte beide Füße gegen die Mauer und warf sich mit all seiner Kraft nach hinten. Es fühlte sich an als würde er mir die Arme aus reißen.
Es gab einen Ruck, ich fiel aus dem Fenster und zusammen mit Ingolf auf den Boden. Mein Fuß war heil, ich konnte nichts spüren. Der Biss war nicht durch das Leder gedrungen.
Ich hielt einen Moment inne und dankte allen existierenden und nicht existierenden Göttern für diese wundervollen Lederstiefel.
Langsam stand ich auf. Ingolf gab mir den Rucksack zurück, dann wurden seine Augen groß und ein breites Grinsen bildete sich auf seinem Gesicht.
Langsam hob er eine Hand vor den Mund um nicht laut loszulachen. Stattdessen grunzte er geräuschvoll.
Verwirrt sah ich mich um. Aus dem Fenster hinter mir drang das enttäuschte Stöhnen der Zombies. Im Rahmen war nichts zu sehen. Der Parklatz war auch leer. Anscheinend hatten sich alle der kleinen Feier im Lagerraum angeschlossen.
Dann sah ich an mir herunter. An meinem linken Fuß hing immer noch die Hand die mich gepackt hatte, samt einem Stück Arm. Angewidert trat ich den Arm von meinem Knöchel.
Was war daran so lustig?
Ingolf sah mich an. In seinen Augenwinkeln hatten sich Lachtränen gebildet.
Er atmete einmal tief ein. „Manche Leute können einfach nicht loslassen.“
Einen Augenblick waren wir vollkommen still. Dann prusteten wir los. Fast wären wir drauf gegangen. Ein kleiner Fehler und unser Leben wäre beendet gewesen und jetzt standen wir hier auf dem Parkplatz und lachten über den mit Abstand schlechtesten Witz aller Zeiten.
Doch es war das erste Mal seit einer Woche, dass wir überhaupt lachten.
All die Angst und Panik brachen in einem fast hysterischem Anfall aus mir heraus. So standen wir da auf unsere Knie gestützt, die Köpfe rot , bis wir kaum noch Atmen konnten.
Für diesen Moment war alles andere vergessen. Als wir uns wieder beruhigt hatten, schlugen wir uns in ein angrenzendes Wäldchen und hin zu unserem Versteckt.
Die Küche war recht spärlich ausgestattet. Der Elektroherd funktionierte schon seit Monaten nicht mehr. Deshalb hatten wir auf ihm einen Campingkocher aufgestellt. Darauf ruhte eine beschichtete Bratpfanne in der das Essen vor sich hinbrutzelte. Auf der Anrichte neben dem Herd lagen ein leeres Kartoffelnetz, Zwiebeln, eine Flasche Sonnenblumenöl und 3 kleine Gewürzgläschen mit Rosmarin, Paprika und Thymian.
Der Duft der bratenden Kartoffeln und Gewürze der die Küche füllte war wundervoll.
Ich nahm langsam eine Kartoffel aus der Pfanne. Betrachtete sie prüfend. Auf ihrer vom Öl glänzenden, gebackenen Oberfläche lagen die Gewürze wie Schnee auf einem Feld.
Genüsslich steckte ich sie mir in den Mund und kaute langsam. Sie war perfekt. So wie früher. Ich hatte es nicht verlernt.
Schnell schaufelte ich zwei Portionen auf die Teller und ging mit ihnen aus der Küche auf den Balkon.
Dort war ein kleiner Klapptisch an dem zwei Stühle standen. Auf einem saß Ingolf und betrachtete nachdenklich die Bäume des angrenzenden Wäldchens.
Ich stellte den Teller vor ihn und setzte mich hin. Skeptisch sah er mich an.
„Jetzt erklär mir warum wir unser Leben für ein paar Gläser Gewürze riskiert haben.“
Nachdenklich lehnte ich mich zurück. „Erinnerst du dich noch daran als wir letztens hier gesessen und uns nach dem Sinn von alledem gefragt haben? Wir beide wussten nicht warum wir eigentlich weitermachen sollten. Es war klar dass wir nicht einfach aufgeben und sterben werden, nur wollten wir trotzdem eine Antwort.
Nun das hier ist die Antwort. Wir hätten auch einfach die Kartoffeln kochen und essen können. Aber das wäre nicht im Ansatz so lecker gewesen wie dieses unglaublich tolle Gericht. Übrigens das erste Gericht das ich gelernt habe.
Ein Tier erlegt seine Beute oder frisst das Gras ohne sich groß Mühe zu machen, es schmackhafter oder speziell zu gestalten. Aber ein Mensch kombiniert die Geschmäcker, würzt und verändert das Essen um es immer besser zu machen. Dadurch machen wir aus einem einfachen Trieb etwas ganz Besonderes. Aus essen um uns am Leben zu halten wird Essen zum Genießen. Es wird zu einer Kunst. So lange wir uns immer noch unser eigenes Essen kochen und Rezepte kreieren, wissen wir, dass wir nicht nur am Leben sind, sondern auch dass wir immer noch Menschen sind. Wir stehen auf und fragen uns warum machen wir weiter? Was ist dieser Überlebenskampf eigentlich wert? Wofür lohnt es sich zu leben?“
Ich hob den Teller hoch und sog noch einmal den wundervollen Duft der Kartoffeln ein.
„Dafür lohnt es sich zu leben. Für dieses unglaubliche Essen. Es mag nicht die perfekte Antwort sein, aber mir genügt sie vollkommen. Deshalb sind wir dieses Risiko für ein paar Gewürze eingegangen...das ist es wert.“
Grinsend schob ich mir eine Gabel voller Kartoffeln in den Mund. Schloss die Augen und kaute langsam. Kostete jeden einzelnen Bissen voll aus.
Wundervoll.
Zum ersten Mal seit die Welt den Bach runtergegangen war, hatte ich wieder meine geliebten Bratkartoffeln.
Nachdenklich schob Ingolf sich auch eine Gabel in den Mund, kaute und seufzte dann laut.
„Ich wusste nicht wie sehr ich das vermisst habe.“
Still saßen wir auf dem Balkon und aßen. Die Sonne begann über den Bäumen unterzugehen und tauchte den Balkon in orangenes Licht.
„Weißt du, ich habe in dem Laden noch ein paar andere Sachen gesehen, die ich wirklich dringend brauche.“, sagte Ingolf plötzlich belustigt.
„Wofür?"
„Morgen bin ich mit Kochen dran und mir schwebt da etwas ganz Besonders vor.“
„Also gehen wir morgen nochmal in den Laden?“
Ingolfs Augen blitzten schelmisch. Ein breites Grinsen zierte sein Gesicht. „Glaub mir das ist es wert.“
Wir lachten gemeinsam leise vor uns hin. Es war ein ehrliches Lachen. Ein Lachen wie früher als wir auf dem Balkon saßen, rauchten und dumme Witze erzählten. Ein Lachen aus einer anderen Welt die wohl für immer verloren war.
Gemeinsam aßen wir und betrachteten den Sonnenuntergang, der die Welt in blutiges Licht tauchte, während unten auf der Straße die Untoten einsam umherschlurften und stöhnten.