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"Wo sind wir?"
„Keine Ahnung, was siehst du?“
„Nichts“
„Wie, nichts, alles schwarz oder was?“
„Nein, nichts eben. Weder schwarz noch irgendetwas.“
„Aber immerhin können wir uns unterhalten, also auch denken.“
„Ich denke, also bin ich ...“
„Das macht mir Angst, ich sollte nicht mehr sein, das fühle ich.“
„Aber du bist. Eindeutig. Was ist deine früheste Erinnerung?“
„Du fragtest mich, wo wir sind.“
„ … scheisse! DU fragtest MICH, wo wir sind! Wir haben uns verwechselt.“
„Lass mich nachdenken, entweder sind wir eins, dann wäre es okay, dass unsere Erinnerungen identisch sind; oder aber wir sind zwei, und die Frage,wo wir sind, stellte ein dritter.“
„Aber wenn wir eins sind, dann bräuchte ich dich nichts fragen, oder?“
„Ja, doch, stell dir vor, im Traum begleitest du jemanden in ein Wirtshaus.“
„ … und dann?“
„Plötzlich stellst du fest, du bist alleine, schaust dich um und siehst den Wirt hinter einer Theke, der gelangweilt ein Glas putzt.“
„Ja, und? Weiter!“
„Ich frage ihn, wo meine Begleitung hingegangen ist, er deutet auf die Treppe.“
„Du gehst hoch! Erzähl!“
„... dort ist eine Tür. Was erwartet mich dahinter?“
„Sieh' bitte sofort nach!“
„Es muss jemand Regie führen.“
„Verstehe ich nicht.“
„Ein Teil meines Hirns steht im Traum unwissend vor der Tür. Das bin ich. Der andere Teil hat den Raum dahinter schon fertig eingerichtet, das ist mein Unterbewusstsein. Also auch ich … hm."
„Und was ist mit mir? Am Ende gibt’s mich gar nicht. Mach jetzt endlich die Tür auf und sieh' nach ob ich da irgendwo bin.“
„Reiss dich zusammen. Sagen wir mal, es ist ein einfaches Zimmer mit altem Holztisch, Stuhl und Fenster auf den Hof. Nehmen wir weiterhin an, auf dem Tisch steht eine Vase mit Blumen. Wer hat sie dort hingestellt?“
„Also, das ist mir doch ganz egal. Ich sitze auf dem Stuhl, richtig?“
„Nein!“
„Ooouuhh!“
„Du stehst am Fenster und siehst hinunter auf einen alten, verwahrlosten Friedhof.“
„ … das gefällt mir jetzt aber auch nicht. Na, ja, ich bin. Wie sehe ich denn aus?“
„Also, bitte … geh' mal ein Stück zur Seite, ich möchte auch was sehen. Ah, da kommt so eine altertümliche Pferdekutsche. Auf dem Bock sitzt ein dürrer Mann im schwarzen Anzug.“
„Oh, nein! Ein Totengräber! Die Sache ist mir unheimlich. Auf der Ladefläche ist ein Sarg. Und da hinten!! Eine offene Grabstelle!“
„Sehr richtig, EINE.“
„Du kannst es ruhig zugeben, dir ist auch nicht wohl dabei.“
„Der Wirt kommt raus und geht auf den schwarzen Mann zu … sie unterhalten sich … der Wirt zeigt in unsere Richtung ... jetzt schauen sie beide hoch. Ihre Mienen sind wahrhaft finster.“
„Hast du das gesehen? Der Dürre winkt uns, zu kommen! Ha! Da hat er sich aber geschnitten. Ich werde nicht freiwillig ins kühle Grab springen.“
„Jetzt stemmt der Wirt die Fäuste in die Hüften und stapft zurück ins Haus, der wird doch nicht etwa hochkommen? Du, ich glaube der holt uns. Das ist ein kräftiges Kerlchen.“
„Hast du das Knarren gehört? Das war die Treppe.“
„Wir müssen sofort weg hier!“
„Zu spät, er ist schon hinter der Tür.“
„Aus dem Fenster! Guck mal, hier ist ein Vordach, SPRING!“
„AUA! Mein Knöchel …“
„Zur Seite, ich komme!“
„Der Totengräber winkt uns immer noch, was grinst der jetzt so blöde?“
„Wir können nur über den Friedhof entkommen. Am schnellsten ist es wohl, wir rennen einfach quer rüber. An dem ausgehobenen Grab vorbei und weg sind wir.“
„Da oben, am Fenster steht der Wirt und schwingt die Fäuste.“
„Was wollen die von uns?“
„Bestimmt nichts Gutes. Los, weg hier!“
„Die Erde ist so komisch weich über den Gräbern. HILFE!! Ich bin eingesunken! SIE HOLEN MICH!! HILFE!!“
„Quatsch nicht, hier nimm meine Hand, ich zieh' dich raus.“
„Ooh, das war knapp. Ich habe total müde Beine, ich kann nicht mehr. Sieh dir nur mal an, wie tief die unser Grab ausgehoben haben.“
„DEIN Grab.“
„He, was ... aaaahh! Warum hast du mich hinuntergestoßen?“
„Es musste sein."
„Um Himmels Willen, was ist das für ein Geräusch?"
„Ein Bulldozer, oder denkst du ich schaufel mir hier Blasen?“
„Bitte nicht, warum machst du das? Hol' mich wieder raus!“
„Füge dich in dein Schicksal, aber beeile dich ... “
„Armin?“ Die Frauenstimme scheint vom Himmel zu kommen.
„Ich heiße Armin“, flüstert er.
„Und das seit neununddreißig Jahren.“
„Wie geht es Ihnen, Herr Schlüter?“ Der Chirurg sieht freundlich aus und nickt aufmunternd.
„Durst.“ Die Pupillen des Mannes fliegen unkontrolliert hin und her, bis sie bei einem Rollstuhl am Fenster zur Ruhe kommen.
„Das hast du ganz tapfer überstanden, deine erste OP, ich bin stolz auf dich.“ Die Frau küsst ihn auf die Stirn.
„Ich will zurück ...“
„Warum denn das?“
„Ich war in einer schrecklichen Welt, in der ich Beine hatte.“