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Wo ist Miller?
Wo ist Miller?
Die letzten Häuser der Stadt habe ich längst hinter mir gelassen und die zunehmende Dunkelheit macht mir Sorge. Wie weit mag es noch sein? Meine Weisung lautet, mich genau an den Straßenverlauf zu halten.
Der Weg wird allmählich holperig und die Asphaltdecke weist riesige Löcher auf, aus denen sich Schotter und Steine an die Oberfläche drücken. Es gibt keine Laternen hier, schon längst keine Bürgersteige mehr, und rechts und links von der Strasse ducken sich verwilderte Industriebrachen, verfallene Gemäuer, in deren Ruinen Disteln und Brennnesseln wachsen. Die Straße wird enger, der Belag verschwindet endgültig und ich gehe weiter auf einem steinigen Erdweg. Was soll ich tun, wenn auch der plötzlich endet?
Fragen habe ich nicht zu stellen. Meine Aufgabe ist, Miller zu treffen und das Kästchen entgegenzunehmen. Was darin ist, weiß ich nicht, geht mich auch nichts an. Ich muss es einfach nur zurückbringen, möglichst unauffällig, geräuschlos und unsichtbar, deshalb auch keine Taschenlampe. Wahrscheinlich wird Miller mich zuerst entdecken. Ich hoffe, dass er auf mich wartet, wo immer das auch sein mag. Vor mir macht der Weg eine scharfe Rechtskurve und danach taucht wie aus dem Nichts eine Mauer auf. Verdammt! Was soll ich tun? Ich spüre, wie mir der Schweiß aus den Poren dringt. Eine endlos gerade Mauer, die den Weg einfach abschneidet. Es ist schon fast dunkel und ich kann weder ein Ende, noch eine Öffnung erkennen. Ob das eine Falle ist? Verflucht, was habe ich übersehen? Von einer Mauer war nie die Rede, nur von der Strasse. Bleib immer auf der Strasse, lautete die Anweisung. In meine Angst mischt sich die Gier nach der Belohnung. Wenn ich das Päckchen zurückbringe, werde ich fürstlich entlohnt. Wenn ich es nicht schaffe, werden sie sich einen anderen suchen, daran besteht kein Zweifel. Miller scheint ein regelmäßiger Lieferant zu sein. Hier ist richtig was zu holen und ich habe ein Erfolgserlebnis bitter nötig!
In letzter Zeit ist mir so ziemlich alles daneben gegangen. Mir ist auch völlig egal, was in dem Päckchen ist, ich bin ja nur der Überbringer, der Abholer und Zurückbringer. Und ich will das unbedingt schaffen!
Bellen, ich höre Hundegebell. Es kommt näher und es sind mehrere. Wütendes Kläffen, dazwischen tiefes Knurren. Lieber Gott, hilf mir! Sie kommen da hinten an der Mauer entlang gerannt, halten genau auf mich zu. Ich schätze, es sind höchstens noch hundert Meter. Selbst wenn ich zurück renne, habe ich keine Chance. Ich erkenne drei massige Tiere, kurze, gedrungene Leiber und gekrümmte, stämmige Beine. Ich gehe drei Schritte zurück und stürze mich auf die Mauer. Irgendwie habe ich es nach oben geschafft, in allerletzter Sekunde. Schon sind sie unter mir, springen voller Wut an den bröckeligen Steinen hoch und der Sabber tropft von ihren Lefzen. Sie schaffen es nicht, ich bin erst einmal in Sicherheit. Vorsichtig lasse ich mich auf der Rückseite hinab und springe auf ein Stück Beton, dass wohl einmal zu einem Fundament gehört hat. Vor mir ragt etwas ungeheuer Großes, Schwarzes in den Nachthimmel auf, daneben verfallene, langgestreckte Ruinen. Mein Herz schlägt wie verrückt, ich drücke mich gegen die Mauer und überlege. Das Kläffen der Hunde ist verstummt, Gott sei Dank. Bin ich hier richtig? Ich habe die Strasse verlassen und befinde mich offenbar in einem alten Hüttenwerk. Der schwarze Riese könnte ein Hochofen sein. Niemand hatte mich vor den Hunden gewarnt, ich hätte nicht anders handeln können, sie hätten mich zerfleischt. Doch was ist, wenn Miller ganz woanders auf mich wartet? Ich suche das Gelände mit den Augen ab, mittlerweile verschwimmt alles zu einem schwarzbraunen Brei, ein sicheres Zeichen dafür, dass meine Zeit abläuft.
Angenommen, Miller ist hier, würde er mich nicht schon längst bemerkt haben? Er konnte unmöglich die geifernden Hunde überhören. Wo ist Miller? Ich will gerade ein paar Schritte ins Gelände wagen, als ein ohrenbetäubender Knall mich erstarren lässt…
Die Tür fliegt auf und kracht gegen die Wand. Jasper kommt schwanzwedelnd ins Zimmer gestürmt, springt begeistert an mir hoch, während mein kleiner Bruder hinter ihm herhechelt und atemlos sagt: „Max, mach den Computer aus und komm endlich essen.“