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Wo der Himmel liegt
Sein Fang bekannte sich erst zum Verlust seiner Freiheit, als er nicht mehr atmen konnte. Der Wasserspiegel zog die Grenze zwischen Kampf und Kapitulation.
Der geschwächte Fisch wog weniger als die Kraft, die es brauchte, um ihn aus dem Wasser zu ziehen. Er war Fischer, das nötige Zubehör einer Angel. Seine Sinne reichten bis in die eiserne Spitze des Hakens. Der Pulsschlag der Fische setzte sich in seinen Adern fort, der Körper krümmte sich unter ihrem letzten Atemzug, auf dem das Gewicht eines Lebens lag.
Die Augen der Fische waren nackt, an der Luft vor dem Betrachter entblößt. Eine einzige Träne auf der Netzhaut konservierte ihren Ausdruck. Ihr Blick erreichte ihn nicht, starr ins Unendliche gerichtet: Für die Fische war er Gott, der sie in den Himmel zog. Als er den Haken aus den Unterlippen löste, öffneten sich die stummen Mäuler zu einem Schrei. Er konnte ihn hören, hier, wo die Luft feucht genug war, die Stimmen der Fische zu tragen.
„Das ist nicht der Himmel,“ sagte er zu sich selbst und einem toten Fisch. Der Fischer hatte seinen Besitz an das Ufer des großen Teiches getragen, um zu verhandeln: Er bezahlte seinen Fang mit dem Tag. Den Gegenwert seiner Zeit bestimmte entweder Gott oder der Zufall. Er erkannte keine Notwendigkeit, darüber nachzudenken.
Sein Schatten löste sich von den Sohlen, um der Sonne zu folgen. Er hatte nicht gesehen, wie der Tag verging. Es sind die ersten Nächte im Herbst, sie kommen aus einem Hinterhalt und werfen sich über den wachen Tag. Bevor er ging, wusch er sich die Hände in dem Teich.
Er roch nach Fisch, dachte er. Er hatte sich daran gewöhnt, seine Gedanken mit den Lippen zu formen, ohne dabei zu sprechen. Es waren Eigenschaften der Fische, die an ihm haften blieben. Ihr nasser Atem sammelte sich in seiner Lunge, um seine Freiheit zu beschweren. Der Himmel spiegelte sich auf der Oberfläche des Teiches, bis die Sonne unterging.
Der Winter kam mit einer Schaufel Schnee, um das Jahr zu begraben. Dort, wo er herkam, legte sich der Dezember erst weiß auf den Himmel, bevor es zu schneien begann, die Welt schwieg unter seiner Vorherrschaft. Der Fischer fand die Spiegelung des letzten Sommers im Eis. Er blieb davor stehen und regte sich nicht, weil er nicht wusste, wie er den Tag an einer Bewegung fortsetzen sollte. Die Eisschicht verschloss ihm das Wasser, den Fischen bewahrte sie die Freiheit.
Er hörte das Flüstern unter dem Eis und schüttelte darüber den Kopf: Es brachte ihn um den Verstand. Die Kälte verglaste seine Netzhaut, er sah den Himmel aus der Sicht der Fische. „Und so gibt der Winter jedem seinen Raum zum Atmen,“ sagte er und stieg auf das Eis, um zu warten. Er wusste nicht, wie tief der Teich an dieser Stelle war.