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Wirtschaftswunder

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03.05.2003
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Wirtschaftswunder

Ich schlenderte nichtsahnend die Straße hinunter, als neben mir ein großer roter Sportwagen mit offenem Verdeck anhielt und ein nachdrückliches Gehupe anstimmte. Darin saß eine gutaussehende Frau mit langen Haaren und Sonnenbrille und winkte. Ich sah mich nach allen Seiten um, um herauszufinden, wer der Adressat des Winkens sei, aber es reagierte niemand darauf, und sie winkte genau in meine Richtung. Zögernd ging ich auf sie zu. Sie kam mir nicht bekannt vor.
„Hallo Jürgen“, begrüßte sie mich fast überschwänglich. Ich hieß tatsächlich Jürgen. Sie nahm die Sonnenbrille ab.
„Ich bin’s“, sagte sie.
„Das sehe ich. Aber wer sind Sie?“
Ein Hauch von Enttäuschung mischte sich in ihren Gesichtsausdruck.
„Ramona Sauer. Die Praline habt ihr mich damals, glaube ich, genannt. Sag bloß, du hast mich so schnell vergessen, du Spitzbube.“
Ich hatte mal eine Ramona Sauer gekannt. Ich war mit ihr zusammen zur Schule gegangen. Sie hatte es sogar auf mich abgesehen gehabt. Aber die Ramona Sauer, die ich gekannt hatte, war nicht schlank, sondern eher großzügig dimensioniert gewesen, und ihr Gesicht nicht hübsch und optimistisch, sondern missmutig und pausbäckig, weshalb ihre Annäherungsversuche auch erfolglos geblieben waren. Und doch… Wenn man genau hinsah, konnte man in den Gesichtszügen eine gewisse Ähnlichkeit entdecken.
„Bist du’s wirklich?“ fragte ich.
„Und wie. Hast du Zeit? Steig ein, ich nehm’ dich ein Stück mit.“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich sank tief in einen weichen Ledersitz, und der Wagen schwebte davon. Dieses Auto gehörte gewiss keinem Armen.
„Und – wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen?“ fragte mich Ramona und musterte mich mit einem Seitenblick von oben bis unten. Sie war frisiert und parfümiert, geschminkt und geschmückt, die Nägel in demselben Rot lackiert wie der Wagen, und sie trug ein goldschimmerndes Kleid. Ich erzählte ihr die durchschnittlich ruhmreiche Geschichte meiner Karriere und meiner Ehe.
„Du siehst gut aus“, sagte ich schließlich. „Es scheint fast, als hättest du es zu etwas gebracht.“
Sie zuckte die Achseln.
„Zuerst nicht. Aber mit trockenem Mund redet es sich so schlecht. Wie wär’s? Gehen wir was trinken? Ich gebe einen aus.“
Sie ging mit mir ins Tropical, dessen Fußboden ganz mit Sand bedeckt war und so die Illusion eines Strandes erzeugte. Überall standen Palmen, Kakteen und andere exotische Pflanzen. Auf einer winzigen Bühne in der Ecke produzierten schwitzende Schwarze in bunten Hemden Calypso-Klänge.
Ramona bestellte einen alkoholfreien, aber wundervoll bunten Cocktail, aus dem weißer Nebel rauchte. Ich hatte Durst und bekam ein Bier in einer winzigen kondenswasserbeperlten Flasche, das Produkt einer mexikanischen Brauerei.
„Ein paar Jahre lang“, setzte Ramona das Gespräch fort, „habe ich als Sekretärin gearbeitet und bin jeden Morgen ins Büro gefahren, um mich für meinen Chef als freundliche Jasagerin und Kopfnickerin zu betätigen. Und nachdem auch du mich nicht haben wolltest, habe ich eben lange Zeit allein gelebt.
Du weißt ja, wir haben ja hinsichtlich der Toleranz in unserer Gesellschaft während der letzten Jahre und Jahrzehnte erhebliche Fortschritte gemacht. Ganz selten trifft man natürlich immer noch auf Anzeichen von Frauenfeindlichkeit, Kinderfeindlichkeit, Altenfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit, Behindertenfeindlichkeit, und wen man eben sonst noch so zum Feind haben kann, aber die sind zum Glück so gleichmäßig und gerecht über unsere Gesellschaft verteilt, dass jeder gut versorgt ist und niemand sich ungerecht behandelt zu fühlen braucht.
Auch Dicke dürfen heute nicht mehr diskriminiert werden. Dicke sind heute auch nicht mehr dick, korpulent oder übergewichtig. Sie sind inzwischen mollig, füllig, vollschlank oder rundlich geworden. Das ist vielleicht gut fürs Selbstwertgefühl, ändert aber nichts an der Tatsache, dass vollschlanke Frauen nicht wesentlich begehrter sind als übergewichtige.
Die Diäten, die ich gemacht habe, waren alle für die Katz. Eine Zeit lang war ich die bestgekleidete Frau in der Firma und habe gehofft, auf diese Weise irgendwann einen Mann kennen zu lernen, der sich nicht dem Diktat der normierten Schönheit beugen wollte. Schönheit ist im Wesentlichen eine Frage der Gestaltung, sagte ich mir. Schließlich sieht jede Frau, wenn sie an einem Montagmorgen im Dezember mit wirrem Haar und missmutigem Gesicht vom Wecker aus dem Bett gejagt wird, nicht besonders vorteilhaft aus, und jede Frau kann in einem schönen Ballkleid und dem ganzen Drumherum Glanz und Glitzer verbreiten. Die Männer wollten meine Ansicht aber leider nicht teilen.
Eines Abends aber, als ich vor dem Fernseher saß, einen schnulzigen Liebesfilm guckte und dazu Konfekt knusperte, kam mir aus heiterem Himmel eine Idee, die mein Leben nachhaltig verändern sollte. Ich hatte eine Idee für eine verkaufsträchtige Erfindung.“
„Tatsächlich? Was hast du denn erfunden?“
„Ich habe einen Dildo erfunden.“
„Na und? Das ist doch nichts Neues. Es war vermutlich die erste Erfindung, die je von Menschen gemacht wurde.“
„Ja, aber meiner kann auf Knopfdruck einen Orgasmus simulieren. Den Mechanismus habe ich mir patentieren lassen. Aber das ist nicht das Besondere daran.“
„Nicht?“
„Nein. Das Besondere ist, dass alle Modelle in meiner Kollektion nach den Originalen prominenter und berühmter Männer angefertigt wurden. Mit Echtheitszertifikat übrigens.“
„Ach!“ Jetzt war ich wirklich überrascht. „Wie viele Modelle umfasst denn deine Kollektion?“
„Über fünfzig“, sagte sie stolz. „Am Anfang kam mir die Idee selbst komisch vor. Aber ich nutzte meine Freizeit, um Hunderte von Briefen zu schreiben und endlose Telefonate zu führen, ich fuhr mit dem Auto von Pontius bis Pilatus. Natürlich brauchte ich das geeignete Startkapital, aber das war kein Problem. Ich hatte ja keine Gelegenheit, mein Geld für Kinder und Familie auszugeben, und so hatte ich etwas auf der Kante. Und die Investition hat sich ausgezahlt.“
„Wirklich? Zu so was geben sich reiche und berühmte Männer her?“
„Du würdest dich wundern. Außerdem sind nicht alle von ihnen reich. Lohnend ist es in jedem Fall. Jeder bekommt fünfzehn Prozent vom Erlös eines verkauften Exemplars, und du würdest gar nicht glauben, wie groß die Nachfrage ist. Leider hat sich einer unserer Originalträger erhängt, als er erfuhr, dass sein Modell ein Ladenhüter war. Aber im Geschäftsleben kann man sich nun mal keine Sentimentalitäten erlauben. Und die Kopien sind in mancher Hinsicht besser als die Originale. Sie können immer und so oft man will und hängen nie durch. Es gibt sogar Luxusausführungen für reiche Spinnerinnen, die nicht wissen, was sie mit ihrem Geld sonst anfangen sollen, Glücksbringer aus Bernstein, aus Jade und sogar aus Gold, letztere mit integrierter Heizung, damit sie sich nicht so kalt anfühlen.“
Ramona rührte verträumt mit dem Strohhalm in ihrem Glas.
„Wie du siehst, wurde ich zu einer wohlhabenden Frau. Und plötzlich begannen sich auch Männer für mich zu interessieren. Vielleicht weniger, weil ich Kohle hatte, sondern eher, weil ich mich von einer langweiligen Sekretärin zu einer erfolgreichen und etwas ungewöhnlichen Geschäftsfrau gemausert hatte.“
Sie deutete auf den wertvoll aussehenden Ring an ihrem Finger. „Und dann lernte ich Tino kennen. Dadurch habe ich zwanzig Kilo abgenommen.“
„Wie ist denn dieses Wunder zustande gekommen?“
„Ganz einfach. Ich musste meine Glückshormone nicht mehr aus Schokolade beziehen. Außerdem habe ich viel Nachtsport betrieben.“
Sie seufzte.
„Jetzt bin ich nicht nur wohlhabend, sondern auch noch attraktiv. Zum Glück kommt mich meine Mutter nie im Büro besuchen. Sie würde sicher ohnmächtig werden, wenn sie sehen würde, dass die Modelle wie Orgelpfeifen aufgereiht in den Regalen stehen, nachdem sie mir früher immer eingeschärft hat, mich anständig zu benehmen. Aber manchmal ist es einfach der falsche Zeitpunkt, um anständig zu sein.“
Ramonas smaragdgrüne Augen ruhten auf meinem Gesicht, tasteten mich beinahe liebevoll ab.
„Wenn ich damals schon die Frau gewesen wäre, die ich heute bin“, wollte sie wissen, „hättest du mich dann auch abblitzen lassen?“
Ich schluckte schwer. Die ehrliche Antwort wäre ‚nein‘ gewesen, aber manchmal ist es einfach der falsche Zeitpunkt, um ehrlich zu sein. Bevor ich jedoch antworten konnte, sah Ramona auf die Uhr und wurde hektisch.
„Mein Gott, ich sitze hier und quatsche“, sagte sie, „und hätte fast vergessen, dass ich einen wichtigen Geschäftstermin habe.“
Sie stand auf und küsste mich zum Abschied auf die Wange.
„Ich muss los. Bezahlt ist schon. Vielleicht sehen wir uns mal wieder“, rief sie mir noch zu. Mit raschen Schritten war sie zur Tür hinaus, das Echo ihres Parfums in der Luft zurücklassend. Ich blieb noch eine Weile sitzen und hatte einen längeren Disput mit dem heiteren Himmel.

 

Hallo filechecker,

nachdem Deine Kritik im ersten Teil noch recht forsch und selbstsicher ist, geht sie im zweiten Teil in einen eher unsicheren Wechsel von Ausrufe- und Fragezeichen über, und am Schluss, als Du gar nicht mehr weiterweißt, versuchst Du zusätzlich noch, eine weitere Verfehlung in meine Geschichte hineinzuschmuggeln:

Du hättest vielleicht vorher recherchieren sollen!

Welcher Stelle im Text hast Du denn entnommen, dass ich nicht recherchiert habe, wenn es denn schon „vielleicht“ meine Aufgabe gewesen sein sollte? Und von welcher Bedeutung ist es für die Geschichte,

dass die Geschäftsidee mit dem Dildo nicht unbedingt originell ist.

Soweit ich mich erinnere, geht es eher um den Zusammenhang zwischen einer Idee an der Grenze des guten Geschmacks und dem geschäftlichen Erfolg.

Hier übrigens noch eine kurze Definition des Begriffs ‚Satire‘, abgeschrieben aus dem erstbesten Lexikon, das mir in die Hand gefallen ist. Es ist ‚Das große illustrierte Lexikon‘

ein literar. Werk (beliebiger Gattung), das Mißstände oder bestimmte Anschauungen kritisiert, indem es sie lächerlich macht.

Es steht nichts davon dabei, dass das Kritisieren oder Lächerlichmachen auf plumpe oder vordergründige Weise erfolgen muss.

Gruß
Qwertz (mit ‚w‘ und ‚t‘)

 

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