"Wir"
Die Autoschlange wälzte sich in einem geschwungenen Bogen an dem Hügel und dem See vorbei. Ein Ende war nicht in Sicht, und der frische Morgennebel vermischte sich mit den stinkenden Ausdünstungen der Fahrzeuge. In den Fahrzeugen saßen verschlafene Männer und Frauen in zerknitterten Anzügen und Röcken. Da der Verkehr mittlerweile völlig zum Erliegen gekommen war, nutzte ich die Gelegenheit um eines der von Blechpanzern umhüllten Subjekte genauer zu betrachten: Es war die Frau in dem Wagen hinter mir, die meine Aufmerksamkeit erregte. Mein Blick fiel über den Rückspiegel durch eine verschmierte Heck- und eine beschlagene Windschutzscheibe auf ein fein geschnittenes Gesicht, das von sich sanft wellenden Locken eingerahmt wurde. Die dunklen Augen strahlten mich an – voller Lebensfreude, welche mir in einer Umgebung aus Blech und Benzin recht befremdlich erschien. Mit einiger Schwierigkeit löste ich meine Augen vom Rückspiegel und schloss die zehn Meter, die zwischen mir und meinem Vordermann entstanden waren, durch einen hektischen Druck auf das Gaspedal auf. In solch einer Situation ist es nämlich äußerst wichtig keine größeren Lücken entstehen zu lassen, denn wir sind eine einzige Masse, eine in die Länge gezogene, zusammenhängende Masse in der Landschaft. Und wenn ich „wir“ sage, bedeutet dies, dass ich ein Teil dieser Masse bin, denn „ich“ ist ein Teil von „wir“ – also, bloß keine größeren Lücken entstehen lassen, sonst zerstöre ich die Einheit und mich selbst.
Langsam setzten sich die Autos wieder in Bewegung. Die Stauung hatte sich aufgelöst und wir passierten mit wachsendem Tempo weitere Hügel und Seen und überzogen sie mit stinkendem Qualm. Wir hingen nicht mehr eng zusammen, dennoch waren wir eins – wir alle, vereinigt in Trübsaal, vereinigt in Qual. Doch als wir kurz darauf wieder zum Stehen kamen, musste ich erneut in den Spiegel blicken. Ich wünschte mir sehr nicht die Frau mit den Locken zu sehen, doch sie war hinter mir, und der Blick ihrer lachenden Augen bohrte sich in mein Hirn. Es ging weiter – sie war hinter mir. Wir stoppten – sie war hinter mir. Verfolgte sie mich? Ich versuchte ihr zu entkommen. Ich fuhr schnell an Stellen, an denen ich es nicht durfte und überholte, auch wenn es gefährlich war, doch jedes Mal wenn ich zurückblickte blickte ich in zwei Augen voller Freude, umrahmt von sanften Locken. Und sie lächelte – ein offenes, freundliches Lächeln, das nur mir galt.
Ich fuhr schneller; sie mir nach. Hoffentlich baut sie einen Unfall. Ich will, dass ihr das Lächeln von scharfen, verbogenen Blechkanten aus dem Gesicht geschnitten wird, dass ihre Locken, von ausgetretenem Benzin durchtränkt, in Flammen aufgehen. Sie zerstörte die Einheit; sie riss ein Loch hinein, und ich befürchtete hinausgesogen zu werden. Ich trat mit voller Kraft auf die Bremse. Ich war nicht so schnell gewesen und verursachte nur einen harmlosen Auffahrunfall. Ich stieg aus und näherte mich langsam dem Auto, das mich gerammt hatte. Die Kühlerhaube hatte eine große Delle. Noch bevor ich das Auto erreicht hatte, ging die Fahrertür auf und ein großer, dicker Mann mit wutverzerrtem Gesicht stieg aus. Er stürzte auf mich zu, packte mich am Kragen und brüllte: „Sind Sie total bescheuert, Sie durchgeknalltes Arschloch?“
„Und Sie?“, brüllte ich zurück, „Schon mal was von Abstand halten gehört?“
„Scheiße, es gab verdammtnochmal keinen beschissenen Grund so auf die Bremse zu latschen, du Vollidiot.“
Von „Sie“ zu „du“, aber beides ist „wir“.
„Da war ein Reh, du Arsch!“
„Fick dein Reh, da war überhaupt nichts. Ich ruf die Bullen, und die reißen dir den Arsch auf!“
„Ja, ruf nur die Bullen, wir werden ja sehen wem sie den Arsch aufreißen!“
Zorn, Hass, Trübsaal, Einheit – Ich hatte die Frau endlich abgehängt!