Wir werden ihn alle vermissen
"Zu den Tagesmeldungen: Es ist ein trauriger Tag - Am frühen Abend, ist Herr Dr. Franz Niederhauser, unser von wohl allen geschätzter Bundeskanzler, seinen Verletzungen erlegen die er nach dem Autounfall vor 2 Tagen davongetragen hatte. Wir sollten uns alle an sein Engagment und seinen Willen etwas in diesem Land für alle zu verbessern, erinnern. Selbst seine größten Gegner zeigten sich geschockt in Anbetracht der Tatsache seines Ablebens. Erste Trauerbotschaften, auch aus dem Ausland, sind bereits eingetroffen. Am Mittwoch, wird sein Begräbnis stattfinden, es wird einen Trauerzug durch die Stadt geben, sein Leichnam wird am Zentralfriedhof beigesetzt. Wir werden ihn alle vermiss..."
Jemand drehte den Apparat ab.
Jonas saß auf dem Sofa und sah zu Tom, der auf dem Boden vor dem Fernsehapparat lag. Er griff sich an den Kopf, er schmerzte höllisch. Er hatte wohl schon wieder zu viel getrunken. Köter, der kleine dicke Mischlingshund von Tom, leckte Jonas über die Hand, bis er von ihm mit dem Fuß weggekickt wurde. Als er sich zu Tom rüber lehnte, bemerkte er daß er nicht atmete. Wortlos schüttelte er ihn. Dann zog er ihm die Spritze aus dem Arm. Keine Reaktion. Überdosis ? Jonas schüttelte ihn noch mehr, "Wach auf Alter ... komm schon." Immer noch keine Reaktion. Seine Lippen schienen bläulich zu sein. "Scheiße" flüsterte Jonas lautlos in sich hinein. Kotze lag neben Tom auf dem Teppichboden, das bemerkte er erst jetzt. "Dieser verdammte Junkie", dann testete er noch einmal seinen Puls. Nichts. Lautlos verließ er das Zimmer. Tom wird niemand vermissen, niemand, dachte sich Jonas. Er hatte keine Familie mehr, seine Mutter war tot und sein Vater vor 3 Jahren, als er volljährig wurde, abgehauen. Und er hatte auch keine Freunde, seine Junkiefreunde vielleicht, aber eigentlich auch die nicht, die kamen nur wegen dem einen oder anderen Schuß zu ihm. Nein, ihn würde niemand vermissen. Nicht mal ich werde ihn vermissen, dachte sich Jonas. Er war eigentlich ein Arschloch. Zumindest seit dem er so tief in diese Junkie Scheiße reingekommen war. Jonas hat es nie so weit kommen lassen. Er trank nur Alkohol, sonst nahm er nichts, aber das in Unmengen, sonst hätte er Tom's Todeskampf vermutlich mitbekommen, vielleicht sogar helfen können, aber nachdem, was er heute getrunken hatte. Keine Chance. Früher war Tom ein guter Junge gewesen, schüchtern, irgendwie immer traurig, tief in Gedanken versunken, aber immer ein guter hilfsbereiter Junge, dachte sich Jonas als er die Stufen von Tom's kleiner Mietwohnung hinabstieg. Ja, früher, da hatte er noch irgendetwas an sich. Ihn würde niemand vermissen. Jonas würde morgen anonym von irgendeiner Telefonzeller die Polizei anrufen, wenn er wieder nüchtern war. Dann würde Tom sein letztes Taxi bekommen und geradewegs ins Vergessen fahren. Jonas wankte leicht gebückt über den Gehsteig, als "Köter" in der Wohnung wieder aus der Niesche hervorkroch, in die Jonas ihn gerade geschmissen hatte. Der Hund saß vor seinem totem Herrchen und zerrte ein paar Mal an seinem Arm. "Köter" wurde von Tom mal gefunden, vor einigen Jahren, auf der Straße, im späten Herbst, als es nass und kalt war, als es jeden Tag regnete und der auch jetzt nicht allzu große Hund noch ein Welpe war. "Köter" war Tom's ganzer Stolz. Er erzählte auch jedem diese Geschichte, als er "Köter" auf der Straße aufgelesen hatte, der Welpe war völlig geschwächt, halb tot, er war unterkühlt und ausgehungert. Irgendwer sah Tom als er den kleinen Hund aufgehoben hatte, "Lass den hässlichen Köter doch sterben, der krepiert so oder so, den kannst du gleich da liegen lassen, haben wenigstens die Ratten noch was davon". Tom aber beharrte darauf daß er ihn noch brauchen würde, daß er kein hässlicher Hund sei und er sicher überleben würde wenn er ihn zu sich nahm und pflegte. Er drückte den Kleinen ganz sanft an sich und steckte ihn in seine zerschlissene Jacke um ihn wenigstens ein bißchen zu wärmen. Wegen dem Typ der den Hund herablassend Köter nannte, nannte Tom den Hund fortan auch Köter. Nur nicht so herablassend. Wohl sein seltsames Verständnis für Humor und ein Zeichen für mangelnde Kreativität. Das war die Geschichte. Nun, eigentlich nicht die ganze. Tom erzählte nie daß er Köter den Tag darauf eine Hundekette mit einer Marke besorgte, in die Tom selbst das Wort "Freund" eingravierte. Seltsamerweise sah zwar jeder die Kette, aber noch nie hatte jemand die Marke genauer angesehen. "Köter" lag bis zum späten Nachmittag am nächsten Tag neben Tom, mit seinem Kopf auf Tom's Bauch, und wimmerte leise, kaum hörbar. Als die Polizisten und die Sanitäter den Raum betraten, verließ "Köter" ohne daß es die plötzlichen Eindringlinge überhaupt merkten, die Mietswohnung.