Wir wachsen
„Gebt endlich mal Ruhe! Das ist ja schlimmer als im Kindergarten.“ Die Narzissen waren genervt von dem ständigen Gejohle der Schneeglöckchen und dem Gekreische der Krokusse. Die drängelten und schubsten sich unter der Erdoberfläche. Jeder wollte der erste sein und einen guten Platz auf dem Rasen, der über ihnen lag, ergattern.
Seit dem Morgen schien die Sonne und der Boden erwärmte sich langsam. „Der Frühling kommt“, sangen alle kleinen Blumenzwiebeln, während die Tulpen und Hyazinthen weise ihre Häupter schüttelten. „Gewiss nicht. Gleich kommt wieder ein Schneeschauer.“
Und so war es dann auch. Kaum schauten die ersten zarten Spitzen aus der Erde, wurden sie wieder von zahlreichen Schneeflocken zugedeckt. „Hoffentlich bleibt der Schnee liegen“, meinten die älteren Krokusse. „dann wird es nachts nicht so kalt, wenn wir gut zugedeckt sind.“
„Es ist Frühling, was kann schon geschehen“, jubelten einige Primeln, die sich mit den Winterlingen zusammengetan hatten und schon ihre Blüten über der Schneedecke entfalteten.
Es wurde schnell wieder dunkel. Die Tage waren noch kurz und die Winterlinge schlossen ihre gelben Blüten, als die Dämmerung hereinbrach. Aber die Primeln waren so übermütig, dass sie mit offenen Kelchen den vollen Mond bestaunten, der über ihnen über den Himmel zog. Niemand hatte ihnen erzählt, dass in klaren Nächten der Frost übers Land streifte und so wurden sie überrascht, als er über ihre Blüten hinwegstrich und sie erfrieren ließ.
„Ja, ja“, grummelten die Narzissen, als sie einige Tage später zaghaft ihre Triebe in die laue Luft schoben. „Wer nicht hören will, muss eben leiden.“
Als auch die Tulpen gerade zum Vorschein kamen, ging ein Raunen durch die Blumenschar. „Die Bienen kommen!“ Und alle öffneten weit ihre Blüten und winkten im sanften Wind, um die Bienen anzulocken. Und bald herrschte ein heftiges Gedrängel auf dem Rasen. Die Narzissen, die Hyazinthen und die Tulpen zwängten sich zwischen Krokusse und Schneeglöckchen und breiteten ihre großen Blätter aus. Das gab manches böse Wort.
„Ihr nehmt uns die ganze Sonne weg.“
„Wachst doch woanders.“
„Wir waren zuerst hier.“
Irgendwie schafften es die verschiedenen Blumen dann doch, sich so zu arrangieren, dass alle etwas von der wärmenden Frühlingssonne abbekamen.
„So macht das Leben Freude“, summten die Blumen, als der Tag wieder zu Ende ging. Der schmelzende Schnee hatte die Erde gut durchfeuchtet, so dass sie alle genug Wasser in ihren Zwiebeln speichern konnten. Der Sonnenschein regte sie an, zu wachsen und ihre schönsten Blüten zu entfalten. Eine wahre Farbenpracht überflutete den Rasen. Und wie jedes Jahr meckerten einige Tulpen, weil die Bienen so gerne zu den Schneeglöckchen und Gänseblümchen flogen. „Wir haben die schönsten großen roten Blüten und diese kleinen Gänseblümchen sind doch nur unscheinbar weiß. Warum also fliegen die Bienen zu ihnen?“
Da es auf dem ganzen Rasen keine Pflanzenschule gab, konnten die Tulpen auch nicht einmal ahnen, dass die Bienen das Weiß viel deutlicher vor den grünen Blättern und dem ebenso grünen Rasen sahen, als Rot, das ihnen nur Schwarz erschien. Nur gut, dass es hier keine Ampeln gab. Die Bienen hätten das rote Männchen gar nicht sehen können und wären einfach weitergeflogen.
Weil es auf dem Rasen keine Schule gab, hatten die Blumen auch nie erfahren, warum sie die Bienen so freudig willkommen hießen. „Das war schon immer so gewesen“, murmelten die Hyazinthen, wenn ein vorwitziger kleiner Krokus danach fragte.
Aber dann begannen die Linden zu blühen und die bunte Pracht auf dem Rasen verging. Die Blüten verwelkten und fielen ab. Die Pflanzen holten sich neue Kräfte aus dem Boden und von der Sonne, um ihre Früchte reifen zu lassen. Außerdem speicherten sie alle verfügbaren Nährstoffe in ihren Knollen für den nächsten Frühling.
Schon kam der Sommer. Die Blätter der Frühlingsblumen verwelkten, ihre Fruchtstände vertrockneten und platzten auf. Sie verstreuten ihre Samen so weit wie möglich, um im kommenden Jahr viel Nachwuchs zu haben. Dabei war es auf dem Rasen jetzt schon ziemlich eng.
Dann begann der Herbst und die Tage wurden wieder kürzer. Die Luft kühlte merklich ab. Bevor sie endgültig im Boden verschwanden, verabschiedeten sich die Pflanzen voneinander: „Angenehmen Winter und guten Schlaf. Bis zum nächsten Frühling.“