- Beitritt
- 08.11.2001
- Beiträge
- 2.833
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Wir sind da
"Wir sind da." Zu keinem Ort hätte dieser Satz weniger gepasst, als zu dieser heruntergekommenen Straße. Zwischen Lagerhallen aus Fertigbetonplatten und hohen Bretterzäunen mit einer Krone aus Stacheldraht. Aber jetzt, im Rückblick, sagt dieser Satz viel. Zu viel vielleicht.
Ben war stehengeblieben und sah sich um. In einer Strasse, die aussah, wie all die vorherigen, durch die ich nicht hatte gehen wollen. Es war kalt geworden und meine Jacke war zu dünn. Vom Wasser wehte ein eisiger Wind herauf und ich konnte meine Ohren nicht mehr fühlen. Aber ich hatte die Hände darüber gelegt – von Zeit zu Zeit – und sie waren noch genau dort, wo sie immer waren. Fühlten sich nur nicht mehr an, wie ein Teil von mir. Ich wollte weitergehen, denn solange ich stand, begann die Kälte durch meine Hosenbeine hinaufzukriechen. Aber Ben blieb einfach stehen. Und ohne ihn wollte ich keinen Meter gehen.
Aus einem Gullideckel weiter hinten stieg weißer Nebel auf und wurde in Fetzen über die Strasse gesogen. Das schwache Licht der Laternen drang nicht hindurch und daher zogen Schatten über den Boden. Die Formen unscharf und zerrissen. Elf Uhr. Ich hätte längst zuhause sein sollen. Schon seit neun Uhr. Wir hätten niemals weggehen sollen. Aber Mutter war nicht da.
Ich sah mich ebenfalls um, weil ich wissen wollte, was diesen Platz von den vorherigen Strassen unterschied. Aber nichts war anders. Dasselbe gesichtslose Straßengewirr, das uns bis hierher geführt hatte, setzte sich vor uns fort. Dieselben Schmierereien bedeckten die Wände. Nicht wirklich Graffiti, sondern nur Schriftzüge. Tausendmal nebeneinander auf derselben Wand, um sich auf der anderen Straßenseite zu wiederholen.
Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es hier bei Tageslicht aussah, aber alles, was meine Vorstellung zustandebrachte, war ein dunkler Regentag, an dem die Wolken tief hängen und der Beton nass und dunkelgrau ist.
Ich sah zu Ben hinauf, der damals mit seinen 16 Jahren fast zwei Köpfe größer war, als ich. Aber er sagte nichts. Vorhin hatte er mir auch nichts erklären wollen. "Halt die Klappe und dann komm halt mit. Muss was erledigen." Hatte für mich spannend geklungen. Und erwachsen. Mit zwölf hat man nie "was zu erledigen". Außerdem wollte ich nicht allein im Haus bleiben. Es machte mir Angst. Nicht schon immer, aber seit Papa nicht mehr da war.
Jetzt wünschte ich mir, ich wäre zuhause geblieben, hätte den Fernseher laufen lassen und ganz allein eine Tüte Chips vertilgt. Ben hätte mich nicht verraten können. Denn er sollte mich ja nicht alleinlassen. Hatte Mama gesagt, bevor sie ging.
Stattdessen stand ich jetzt also hier, fror und wollte nach Hause. Wir waren soweit gelaufen, dass wir nicht einmal die Autos hören konnten. Nicht eines. Was immer du zu erledigen hast, bring es hinter dich und wir verschwinden, wollte ich sagen. Aber das hätte ihn wütend gemacht. Seit ein paar Monaten machte ihn alles wütend. Und ich hatte gelernt, dass es besser war, wenn ich nicht der Grund für seine Wut war. Dann bekam ich meist nichts davon ab. Nur selten jedenfalls. Früher, bevor das bei uns alles passiert ist, war er anders. Aber daran ist vermutlich niemand schuld. Das ist eben so.
Ein metallisches Klappern ließ mich zusammenfahren. Wie in Zeitlupe öffnete sich nur Meter von uns entfernt eine Eisenluke im Boden, direkt an der Hallenwand, die ich vorher nicht gesehen hatte. Ich erwartete, dass jemand herausklettern würde und stand sprungbereit.
Aber nur eine Hand erschien, hielt die Luke hoch und Ben ging hinüber. Er übernahm die Luke wortlos, die Hand verschwand und er stieg eine Treppe hinunter. Ich kann dieses Bild noch heute vor mir sehen, wie mein Bruder Stück für Stück unter der Luke verschwand, während ich wie angewurzelt dastand. Als kaum mehr seine Schultern zu sehen waren, sah er zu mir herüber. "Nun komm schon", zischte er, und das Geräusch schien vom Beton widerzuhallen, "oder wolltest hier blieben?"
Ich wollte nicht in dieses Loch steigen. Aber allein auf dieser Straße zu warten, auf was auch immer zu warten, schien schlimmer. Also schlüpfte ich neben ihm unter die Luke und tastete mit den Füßen nach den Stufen. Auf der Treppe war es eng. Wir hatten kaum nebeneinander Platz und Ben bedeutete mir, dass ich die Luke selbst hochhalten sollte, bis ich unten war. Aber sie schien zu schwer für mich. Also zwängte ich mich wortlos an ihm vorbei, bevor er protestieren konnte und stieß am unteren Ende der Treppe gegen eine Wand. Seit Ben die Klappe geschlossen hatte, war es hier stockfinster. Ich schrie auf. Ben zischte hinter mir, ich sollte leise sein. Also hielt ich den Atem an.
Er drückte sich an mir vorbei, griff nach meinem Ärmel und zog mich einen schmalen Gang hinunter, der um mehrere Ecken führte. Ohne Licht konnte ich nicht ausmachen, ob es nur ein verwinkelter Gang war, oder ob wir in einem Gewirr von Gängen immer wieder abbogen. Ich fürchtete, er könnte plötzlich loslassen und ich würde allein bleiben. In einem Keller, von dem ich nur wusste, dass er weit unten im Hafen war. In einer Straße, die aussah, wie alle. Und wie keine, die ich kannte. Außerdem fürchtete ich, Ben würde nicht mehr wissen, wo er war. Und wir würden nie wieder hinausfinden.
Aber schließlich stieß er unvermittelt eine Stahltür auf und wir standen in einem kleinen Raum, der mit Matratzen und Decken vollgestopft war. Nach der Dunkelheit des Ganges blendete sogar das diffuse Licht in meinen Augen. Aus einem einzelnen Lautsprecher in der Ecke drang Musik. Nur Schlagzeug und Gitarre.
Ben zeigte in eine Ecke. "Du wartest hier." Ich war hin und hergerissen. Ich wollte auch hier nicht allein bleiben. In keinem Fall wollte ich noch tiefer in diesen Keller hinein. Aber er war mein Bruder. Und wenn er ging, würde ich auch gehen. Und dieser Abend war schon schlimm genug. Begonnen damit, dass Mama wegging. Wenigstens war es hier warm. Ich wusste nur nicht, ob es zu warm war. Oder ob es an mir lag. Ich wollte Ben zurückhalten. Wollte nach Hause. Wollte etwas sagen, wollte nicht allein bleiben. Aber es war Ben. Und es würde nicht gut gehen, wenn ich jetzt etwas sagte. Und das letzte, was ich jetzt brauchen konnte, war, dass er wütend wurde. Also nickte ich und setzte mich direkt neben der Tür, durch die wir gekommen waren, auf den Boden. Ben schlüpfte durch die gegenüberliegende Tür und verschwand.
Ben ist gleich zurück und wir gehen. Eine Weile starrte ich nur auf meine Turnschuhe. Einer von ihnen hatte einen Fleck auf der Spitze und weil ich nichts besseres zu tun hatte, fixierte ich diesen Fleck, bis mich ein Husten aus meinen Gedanken riss. Ich starrte in die Ecke, aus der das Geräusch gekommen war. Ein Typ, unrasiert und mit ziemlich wirren Haaren hatte sich halb aufgerichtet und sah zu mir herüber. Ich hatte ihn vorher nicht bemerkt, denn er lag in einem Haufen aus unordentlichen Decken und Pappkartons in der hintersten Ecke des Raumes.
"Hey, Kleiner!" – "Hey." Ich fühlte mich unwohl. Noch unwohler, als vorher. Ich wäre gern aufgestanden und gegangen. Aber ich konnte weder vor noch zurück. Er sah immer noch zu mir herüber, aber in dem trüben Licht hatte ich den Eindruck, er würde abwechselnd an mir vorbei und durch mich hindurch sehen. "Hey, Kleiner!", wiederholte er. "Hey", sagte ich wieder.
Er schob sich weiter an der Wand hoch und kam letztlich auf die Füße. Bleib, wo Du bist, wollte ich sagen. Aber das fand ich dann nicht klug. Also sagte ich nichts. Vorerst blieb er dort, wo er war. Gegen die Wand gelehnt, die Arme hinter seinem Rücken.
"Was machst Du hier?", seine Stimme klag verwaschen. Ich zuckte die Schultern. Es schien mir die beste Antwort. Weil mir nichts zu sagen einfiel. Weil ich nichts zu sagen hatte. Weil es die Wahrheit war, dass ich nicht wusste, was ich hier tat. Bleib, wo Du bist, wiederholte ich in meinen Gedanken. Er stöhnte auf – auf seiner Seite des Zimmers – wie jemand, der eine schwere Kiste abgesetzt hat und jetzt seinen Rücken streckt. Dabei ließ er seine Handflächen über den rauen Beton streichen, bis beide Arme gerade von ihm weggestreckt waren. Er stand so, wie gekreuzigt und ich betrachtete ihn näher. Jetzt, wo er den Kopf hängen ließ, und mich nicht ansah.
Er wirkte, als habe er seit Tagen hier gelegen. Unter seinem abgetragenen, fleckigen Parka trug er nichts, seine Brust war blass und ein wenig haarig. Anstelle einer Hose trug er nur karierte Boxershorts und dazu hohe Schnürstiefel, die nicht zugebunden waren. Sein Alter konnte ich nicht schätzen. Älter als Ben. Bleib, wo Du bist. Aber als hätte ich das nicht denken sollen, stieß er sich von der Wand ab, und kam auf unsicheren Beinen zu mir herüber. Direkt neben mir ließ er sich wieder an der Wand hinabgleiten. Langsam. Etwa so, wie jemand, der von einem Steg Stück für Stück ins kalte Wasser taucht.
"Bist’n bisschen jung, mh?" Ich wollte nicht antworten. Er ließ immer wieder Pausen eintreten. Aber eigentlich schien er nicht wirklich auf eine Antwort von mir zu warten. "Musst nicht längst schlafen?" Natürlich. Es musste nach Mitternacht sein. "Wie alt bist Du?" Ich beschloss, dass es besser wäre, wenigstens ab und zu zu antworten. Wie bei Ben. Oder Papa. "Zwölf." – "Ah, mh, zwölf also", ich fragte mich, ob er betrunken war. Wahrscheinlich wirkte er deshalb so abwesend.
Mit einer Hand fuhr er mir durchs Haar. Ich hätte ihn gern abgeschüttelt, aber ich fürchtete, er könnte es mir übelnehmen. Also hielt ich still. Ben sollte längst zurück sein. Komm schon! Ich will hier weg. Ohne Anlass fuhr er mir wieder über den Kopf. Ließ seine Hand auf meiner Schulter liegen. Nimm sie weg.
"Welchen Tag ham wir?", Samstag, aber bevor ich antworten konnte, nuschelte er weiter. "Egal. Ist ein guter Tag. Ein langer. Und jetzt bist ja hier." Ich schwieg vorsichtshalber. "Diesmal hat Tom aber’n Süßen rübergeschickt. Hatte ihn gar nicht drum gebeten. Sorgt eben gut für mich, der Tom." Ich verstand ihn nicht. Aber ich wollte immer noch, dass er seine Hand wegnahm. "Muss ich Dich überreden, oder machst Du es sofort,hä?" Was auch immer, ich schwieg.
Seine andere Hand legte sich auf mein Knie. Nimm sie weg. "Also? Was ist?", sein Gesicht war an meinem Ohr, sein Atem roch nicht nach Alkohol. Er war zu nah. Viel zu nah. Die Hand wanderte aufwärts. Innen an meinem Bein. Ben! Lass mich hier nicht allein. Ich will hier raus. Ich versuchte, wegzurutschen. Zentimeter für Zentimeter. Seine eine Hand immer an meinem Bein. Bring mich hier raus.
"Zwölf ist ganz schön jung." Ben! Die Hand öffnete einen Knopf meiner Jeans und ich wollte schreien. Aber niemand würde mich hören. Also war es besser, nicht zu schreien. Aber ich konnte ihn nicht einfach weitermachen lassen. "Hör auf!" Er sah mich kaum an. "Spiel keine Spielchen. Hab dadrauf keinen Bock."
Ich wollte aufstehen. Aber ich wollte ihn nicht wütend machen. ‚Reize niemals einen Betrunkenen.’ Mama hatte das tausendmal gesagt. Also saß ich stocksteif. Er nahm meine Hand, legte sie auf sein Bein. So wie seine andere Hand auf meinem Bein lag. Nur dass er keine Hosen trug. Ich konnte mich kaum noch beherrschen, aufzuspringen. In diesem Moment wurde die Tür gegenüber aufgestoßen und Ben kam mit einem schlaksigen Typen herein. Im Gehen stopfte er eine Plastiktüte vor in seinen Hosenbund. "Komm schon, wir ha’ms eilig", er sah nur kurz zu mir herüber. Dann stand er schon an der Tür zum Gang.
Ich sprang auf, um ihm nachzulaufen, aber der Typ neben mir hielt mein Handgelenk fest. "Ey, Mann, ich bin noch nicht fertig! So geht das nicht!" Ben würdigte ihn keines Blickes. "Finger weg von meinem kleine Bruder!", zischte er, während er die Tür aufstieß. Ich war ich niemals wieder so dankbar, wie in diesem Augenblick. Als die Tür hinter uns ins Schloss fiel, folgte ich ihm so dicht, dass ich ein paar Mal gegen ihn stieß. Schließlich stemmte er die Luke hoch und wir suchten uns den Weg zurück durch das Straßengewirr. Ich wich nicht von seiner Seite und er schien es eilig zu haben. Ich war auch dafür dankbar.
Ein paar Mal war ich drauf und dran, ihn zu fragen, was er gemacht hatte. Warum wir dort gewesen waren. Wo wir gewesen waren. Wer die Typen waren. Was in der Tüte war. Aber ich kannte Ben zu gut. Ich schwieg. auf dem Rückweg spürte ich die Kälte nicht.
An der Ecke vor unserem Haus blieb er stehen. Ich wollte an ihm vorbei und zur Haustür laufen, aber er deutete auf die Einfahrt. Mamas Auto stand da. Und dahinter ein weiteres. "Glück gehabt", murmelte er. Und dabei klang seine Stimme hart, als läge Hass in seinen Worten. Genauso. Ich verstand nicht. Aber er zog mich zur Hintertür und die hintere Treppe hinauf. Auf Zehenspitzen. Einen Finger auf den Lippen. Als wären wir leiser, mit dem Finger dort. Er schubste mich im Dunkeln in mein Zimmer. Hielt die Hand über den Schalter, als ich danach griff. "Kein Licht! Und kein Wort, verstanden?" Irgendwas in seinen Worten blieb in meinem Gedächtnis. Als ich mich im Dunkeln auszog, bemerkte ich, dass der Knopf an meiner Hose noch offen war und in der Dunkelheit war ich für Sekunden zurück in diesem Keller. Ich zwang mich, die Kleider in den Wäschekorb zu stopfen und mich ins Bett zu legen. Auch, wenn ich in dieser Nacht nicht schlief.
Um sechs Uhr morgens fuhr das Auto in der Auffahrt weg. Kurz nachdem die Haustür leise geschlossen worden war. Und um halb neun roch es nach Rührei. Mama hatte kein Rührei mehr zum Frühstück gemacht, seit Papa ... seit Monaten eben.
Ich stand auf, zog eine andere Hose und einen frischen Pullover aus dem Schrank und zog mich an. Sie stand in der Küche und lächelte herüber, als ich durch die Tür trat. "Morgen, Schatz! Gut geschlafen?" Sie hatte nicht gelächelt, seit... Ich nickte. "Wie war der Abend allein?" Ich nickte. "Hey, hat’s Dir die Sprache verschlagen? Erzähl schon, was habt ihr zwei so gemacht?" Sie räumte Dinge herum. "Monopoly gespielt. Hab gewonnen." Es war leichter, zu lügen, wenn sie mich nicht ansah. "Fein", sagte sie beiläufig, während sie den Tisch deckte, nur für drei, wie seit Monaten. "Ich war ein bisschen in Sorge, wegen euch zwei. Wird jetzt öfter mal so sein." Ich nickte. "Aber ihr seid ja auch schon groß."
Ich fühlte den feindseligen, bohrenden Blick von Ben in meinem Rücken und schrumpfte in mir zusammen. Aber als ich vorsichtig einen Blick über meine Schulter warf, sah ich, dass er Mama anstarrte.