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Wir rauchen Pfeife in Valhalla
Mit einem leisen Quietschen schließt die Tür des Busses hinter mir, als ich hinaus auf den Gehweg trete. Gegenüber ist das kleine Cafés, in dem ich frühstücke, seit ich zu Semesterbeginn wieder nach Osnabrück gezogen bin. Um diese Uhrzeit sind noch nicht viele Menschen unterwegs in der Stadt. Ich war fast allein im Bus, wie immer der einzige, der hier aussteigt. In ein paar Stunden wird es von Studenten wimmeln, mein Café ist nur zwei Haltestellen von der Uni entfernt.
Noch stehe nur ich auf dem Gehweg, kann die Einsamkeit des kalten Morgens genießen. Ich schließe die obersten Knöpfe meines Regenmantels, sodass er fast mein ganzes Gesicht bedeckt. Es ist windig und der Wind ist kalt. Aprilwetter. Wer die Sonne mag, kommt Mittags bereits auf seine Kosten; wer wie ich früh aufsteht, muss sich noch immer in einen Mantel hüllen.
Wenigstens regnet es nicht. Die letzten Wochen des März waren schrecklich verregnet. Ich schaue zum Himmel. Es ist noch dunkel, aber klar. Vereinzelte Wolken werden vom schwach leuchtenden Mond zum Schimmern gebracht und am Horizont sind bereits die ersten Vorboten des Sonnenaufgangs zu erkennen. Ein Romantiker würde diese Stimmung wohl als romantisch verstehen. Ich bin kein Romantiker. Für mich ist es ein Morgen wie jeder andere und das ist gut, denn er ist ruhig. Ich liebe die Ruhe.
Meine Armbanduhr, ein Erbstück meines Großvaters, zeigt zwölf nach sechs. Der Bus ist pünktlich, wie meistens. Pünktlichkeit ist wichtig. Sie ermöglicht sichere Planung. Nicht, dass ich viel zu planen hätte, aber es ist mir wichtig, das, was ich zu tun habe, richtig zu planen.
Sorgsam beobachte ich den Straßenverkehr. Mein Café liegt auf der anderen Seite der Straße. Es ist eher eine kleine Bäckerei, die sich nun Café nennt, seit sie den schlechten Automatenkaffee auch „zum hier trinken“ verkauft, wie ein kleines Schild vor der Tür anpreist. Der Fehler auf dem Schild stört mich. Ich hasse Fehler. Trotzdem habe ich nichts gesagt. Menschen mögen es nicht, korrigiert zu werden.
Die Ampel springt auf Rot und ich überquere die zweispurige Fahrbahn, den grasbewachsenen Mittelstreifen und dann wieder zweispurige Fahrbahn. Vier Spuren sind einfach zu viel; zu viele Autos, zu viel Verkehr, zu gefährlich. Warum können nicht alle Menschen Bus fahren oder Straßenbahn, so wie ich? Viel zu wenige Menschen fahren mit der Straßenbahn. Dabei ist diese doch ...
Mir fällt ein, dass Osnabrück keine Straßenbahn hat. Die letzte Linie wurde 1960 eingestellt, lange vor meiner Geburt. Es scheint, als sei mein Körper zwar hier, nicht aber meine Gedanken. Mein Geist hat Berlin noch nicht verlassen, hängt fest im Misserfolg der Hauptstadt, im erfolglosen Studium, erfolglosen Schreiben, erfolgloser Liebe. Berlin hat eine Straßenbahn, trotzdem fahren dort Autos, mehr Autos als in Osnabrück.
Was Svenja wohl gerade macht? Ob sie in ihrem Auto im morgendlichen Verkehr feststeckt, anstatt die Straßenbahn zu benutzen? In meine Gedanken mischen sich wehmütige Erinnerungen an meine erste echte Liebe, die ich im Streit zurückgelassen habe. Svenja ist ganz anders als ich. Sie mag alles, was ich hasse, und hasst die Ruhe, die ich liebe. Und trotzdem liebte ich sie, liebte sie mehr als die Ruhe, die ich für ihre Gegenwart oft aufgeben musste, liebe sie noch immer. Nur sie liebt mich nicht mehr. Hat mich vielleicht nie geliebt. Wer weiß das schon. Ich möchte nicht darüber nachdenken, möchte nicht riskieren auch die letzten schönen Erinnerungen an Berlin an meinen Pessimismus zu verlieren.
Ich entfliehe meinen Gedanken gerade noch rechtzeitig und betrete das Café. Von der zufallenden Tür ertönt ein leises Klingeln. Die Verkäuferin schaut zu mir auf. „Guten Morgen“, flötet sie mit lächerlich großem Ambitus in ihrer Stimme. „Morgen.“ Ich setze mich an einen der drei kleinen, runden Tische, die am Fenster stehen. Von hier kann man gut beobachten, was außerhalb passiert.
„So, 'n großer schwarzer Kaffee und 'ne Tageszeitung. Vorsicht heiß! Der Kaffee natürlich, nich die Zeitung.“ Die Verkäuferin schenkt mir ein breites Lächeln, als sie meine übliche Bestellung mit dem üblichen Witz serviert. Ich lache nicht. Ich habe noch nie darüber gelacht.
„Was darf ick Ihnen denn heute Schönes bringen?“ Ich schaue reflexhaft zu den frischen Backwaren, ohne sie wirklich zu sehen, und bestelle das erstbeste, was mir in den Sinn kommt: „Zwei Croissants.“ Hunger habe ich keinen.
Ohne einen Blick auf die Titelseite stecke ich die Zeitung in meine graue Umhängetasche und lehne mich zurück. Seit Semesterbeginn frühstücke ich hier. Ich könnte auch in meiner Wohnung frühstücken. Es wäre günstiger, der Kaffee wäre besser. Aber ich tue es nicht. Ich sitze gern morgens auf meinem Platz im Café und beobachte die Straße. Wieso, kann ich mir nicht erklären. Sicher nicht der Gesellschaft wegen. Ich bin doch eigentlich gern allein.
Die Verkäuferin stellt einen Teller mit zwei dampfenden Croissants vor mich. „Juten Appetit!“
Ich bedanke mich nicht. Ich halte nichts von Floskeln.
Wovon ich viel halte, das ist der Morgen. Der Morgen ist meine liebste Tageszeit. An einem Ort, wo so viele Menschen auf so engem Raum leben, die einzige Zeit, zu der man wirklich allein sein kann. Fast allein. Wirklich allein wäre ich in meiner Wohnung. Ich frage mich, ob man allein steigern kann. Hier bin ich ein bisschen allein. In meiner Wohnung wäre ich alleiner. Wo wäre ich dann am alleinsten? Nur mit mir selbst, ungestört, ganz und gar allein. Will ich das überhaupt? Egal.
Die Verkäuferin hatte anfangs versucht, sich mit mir zu unterhalten, mein Alleinsein zu verringern. Doch sie merkte schnell, dass der Versuch wenig Erfolg hatte. Freundlich blieb sie trotzdem. Das wundert mich. Wenige Menschen bleiben lange freundlich zu mir. Vermutlich will sie nur keinen guten Kunden verlieren.
Der Grund, warum ich ausgerechnet hierher komme, ist die Stille. Es läuft keine Musik im Café, kein Radio. Nur das Klingeln der Tür kündigt gelegentlich Kunden an, andere Frühaufsteher, die Brötchen kaufen auf dem Weg zur Arbeit. Sie kommen herein, bestellen, bezahlen und gehen wieder, ohne unnötige Worte zu verlieren. Nie versucht jemand, mich in ein Gespräch zu verwickeln.
Ich reiße mich los von meinen Gedanken, vom regelmäßigen Fluss des Verkehrs und seinem unregelmäßigen Rauschen, das durch die Fensterscheibe zu mir dringt. Es lohnt sich jedes Mal, so früh aufzustehen. Der Morgen ist die beste Tageszeit zum Denken und das sollte ich jetzt nutzen. Ich hole meinen Block aus der Tasche und schlage ihn auf, überfliege zunächst das Kapitel, das ich gestern geschrieben habe.
Tirza kehrt darin zum dritten Mal zu Lucifer zurück. Für einen kurzen Moment habe ich das Bild der echten Tirza vor Augen, die ich vor Ewigkeiten einmal kannte, die die Vorlage für die Figur in meinem Buch ist. Ein Engel in der Geschichte wie im wahren Leben; ein Engel, den ich immer nur von Weitem anhimmeln konnte, wie sich das für Engel gehört, die ein Bild perfektionistischer Einbildung sind und keine Wesen der Realität. Doch ich mag diese Einbildung. Widme ihr gerne meine Zeit, zu gerne, lieber als meiner Geschichte.
Deren Handlung dreht sich im Kreis. Ich sollte am besten ein neues Buch anfangen, aber ich habe dem Verlag eine Trilogie versprochen. Zumindest rede ich mir das ein, wenn ich aufhören will, weiter zu schreiben. Vertraglich wurde das nie festgehalten. Vielleicht habe ich in Wahrheit bloß keine Ideen mehr, die ich sonst noch thematisieren könnte. Und das nach nur einem Buch.
Wenn mir nicht bald etwas einfällt, kann ich mein Studium nicht mehr finanzieren. Das Geld, das ich für „Erwachen“ bekam, ist fast aufgebraucht. Eigentlich sollte ich nach fünf Jahren meinen Master machen, einen gut bezahlten Job finden, Erfolg haben. Erfolg, wie ihn mein Vater hat. Erfolg, wie ihn alle in der Familie haben außer mir, der sich entschieden hat, einen Traum zu leben, der für immer ein Traum bleiben wird.
Nach dem anfänglichen Höhenflug, als ich mein erstes Buch verkaufte, kam die Ernüchterung, das Gefühl schreiben zu müssen, sich endgültig für das Schreiben entschieden zu haben. Ein Jahr lang habe ich mich nur darauf konzentriert, alles daran gesetzt, den zweiten Teil zu Papier zu bringen. Er sollte mein Durchbruch werden. Er wurde nicht mein Durchbruch. Das Manuskript zurückgewiesen. Ich sollte es doch bitte komplett überarbeiten. Ob ich denn erwarte, dass das die Leser begeistert.
Also habe ich es überarbeitet. Erst einmal, dann nochmal und dann immer wieder. Nie hat mich zufrieden gestellt, was ich geschrieben habe. Nie habe ich eine der überarbeiteten Versionen an den Verlag geschickt. Wie sollte ich es denn jemand anderem geben, wenn ich selbst nicht zufrieden damit war?
Mit der Zeit musste ich auf Druck meines Vaters das Studium wieder aufnehmen. „Wir werden dir doch nicht dein Leben lang die Miete bezahlen, während du nichts tust. Weißt du eigentlich, wie teuer Berlin ist?“, hatte er damals versucht, mich in die Realität zurückzuholen, wie er meiner Mutter danach stolz berichtete. Während ich nichts tue. Nichts. Schreiben ist für meinen Vater keine echte Arbeit, Philologie kein echtes Studienfach, keins, für das man seinen Sohn finanziell unterstützt. Für ihn waren nicht einmal Psychologie oder Politikwissenschaft echte Studienfächer. Wirtschaft sollte ich studieren oder irgendwas mit Technik. „Damit kann man gutes Geld verdienen.“
Also habe ich Wirtschaft studiert, zwei Jahre lang, und dann irgendwas mit Technik, ein Jahr lang, und dann wieder Wirtschaft, weil Technik noch schlimmer ist als Wirtschaft. Keins von beidem hatte mich je interessiert, aber damit kann man scheinbar gutes Geld verdienen. Zumindest wenn man es durchhält. Wer vier Jahre studiert und immer noch keinen Abschluss hat, verdient kein Geld. Maximal ein paar Euro durch Kellnern oder was man sonst so während des Studiums macht. Doch ich bin Autor und kein Kellner. Also verdiene ich gar kein Geld, solange ich nichts zu Ende schreibe.
Inzwischen studiere ich Philosophie, denn auch mein Vater hat eingesehen, dass irgendein Abschluss besser ist als keiner und mit Philosophie kann man immerhin auch in der Wirtschaft arbeiten als Berater, und sowieso, dieses Studium schafft ja wohl jeder. Nachdenken und Rumkritzeln hätte ich doch immer schon gekonnt.
Wie die Zeit vergeht, wenn man sich in seinen Gedanken verliert. Der Kaffee ist kalt geworden, die Croissants dampfen schon lange nicht mehr und auf meinem Block steht noch immer kein einziges Wort. Jetzt lohnt es sich auch nicht mehr anzufangen. Ich nehme die Zeitung aus der Tasche und werfe einen Blick auf die Titelseite.
„Deutschland trauert um Günter Grass - Nobelpreisträger im Alter von 87 Jahren gestorben - Vaterfigur für das Denken der Bundesrepublik“
Günter Grass ist tot. „Günter Grass ist tot“ ist der einzige Gedanke, den ich fassen kann. „Günter Grass ist tot“ das Einzige, was ich sage, erst leise zu mir selbst, dann lauter, auffordernd zur Verkäuferin. Die mustert mich, als sei ihr erst jetzt aufgefallen, dass ich noch da bin.
„Ick wees“, antwortet sie nur. „Ham se jestern nich fern jesehn? Menschen sterben nunmal.“
Ohne ein Wort verlasse ich das Café, laufe weg vor der Titelseite der Zeitung, laufe weg vor meiner Einsamkeit, laufe weg vor meiner Ruhe, weg vor meinen Gedanken, weg vor diesem einen Gedanken. Was werden sie über mich sagen, wenn ich sterbe? „Menschen sterben nunmal.“ Das klingt wie etwas, das ich sagen würde. Menschen sterben. Das ist ganz normal. Auch berühmte Menschen, auch Günter Grass. Alle Menschen sind im Tode gleich, sagt man, hofft man. Aber es stimmt nicht.
Große Menschen hinterlassen ein großes Erbe, weise Menschen hinterlassen Wissen, Eltern hinterlassen Kinder, warmherzige Menschen hinterlassen trauernde Freunde. Was hinterlassen erfolglose, einsame Träumer?
Ich habe nicht darauf geachtet, wohin ich laufe. Meine Beine habe sich wie von allein bewegt. Als ich stehen bleibe, befinde ich mich im Innenhof des Schlosses. Ich setze mich auf eine Bank und nehme meinen Block aus der Tasche, schlage irgendeine Seite auf, weit weg von dem, was ich zuvor geschrieben habe.
Auf dieser Seite beginne ich einen Geisterdialog zu schreiben. Das Schreiben hat mir schon immer geholfen, meine Gedanken zu ordnen, damals, als es mir noch Spaß gemacht hat zu schreiben und zu denken. Seite für Seite beschreibe ich meinen Block, ohne auf Rechtschreibung, auf Wortwahl oder Zeichensetzung zu achten, schreibe einfach drauf los, wie ich es früher getan habe. Schreibe vielleicht das Beste, was ich jemals geschrieben habe, vielleicht das Schlechteste. Es interessiert mich heute nicht. Geisterdialoge habe ich oft geschrieben. Einfach Schreibübungen, gut geeignet, um mein Denken zu sortieren, grobe Entwürfe für spätere Geschichten.
In meinem Kopf bin ich dann in Valhalla und treffe die Helden meiner Geschichten, die mir von ihrem Leben erzählen, oder die Helden fremder Geschichten, die über das zu berichten wissen, was in den Büchern über sie fehlt, oder die Helden des echten Lebens, die von uns gegangen sind.
Heute treffe ich Günter Grass. Lasse mir vom Gewissen der Nation die Fragen stellen, die ich mich nicht traue, mir selbst zu stellen. Erzähle ihm, wieso mich sein Tod so schockiert. Dass ich immer davon geträumt habe, mich eines Tages literarisch mit ihm zu messen. In seinem Wohnzimmer mit ihm Pfeife zu rauchen, nachdem ich meine ersten Bestseller geschrieben habe. Mit ihm die Politik zu diskutieren. Dass er die Laudatio hält, wenn ich meinen Literatur-Nobelpreis erhalte. - Ob ich das ernst meine? - Nein, das letzte vermutlich nicht. Sein Tod habe mich wohl einfach daran erinnert, wie viel Zeit vergangen ist und wie fern ich meinem Ziel noch bin.
Nun rauchen wir Pfeife in Valhalla und er zwingt mich, über mein Leben nachzudenken, über meine Einsamkeit, darüber, dass ich keine echten Freunde mehr habe. Nicht in Berlin und nicht in Osnabrück. - Es sei halt nicht jeder zum Schreiben geboren, ob mich denn nichts anderes begeistern würde. - Ich möchte doch ein Held sein, ein Held der Worte, ein großer Mann mit einem großen Erbe, über das andere noch streiten, wenn ich schon lange tot bin. Niemand, der vergessen wird, der nunmal stirbt, wie Menschen nunmal sterben. Und dann in siebzig oder achtzig Jahren treffen wir uns wirklich in Valhalla und rauchen Pfeife und diskutieren unsere Werke.
Da beginnt Grass mich auszulachen: Du in Valhalla. Nach Valhalla kommen nur die heldenhaften Krieger. - Wir sind doch Krieger. Krieger, die mit Worten kämpfen. - Nicht wir, nicht du, ich. Du wirst nie ein Krieger sein und schon gar kein Held, du bist ein erfolgloser Träumer und wirst es immer bleiben. Glaubst du wirklich, dass du jemals ...
Bevor ich den Satz vollenden kann, mich selbst mit den Worten, die ich einem anderen in den Mund lege, in den Abgrund stoßen kann, nimmt mir jemand erst den Stift und dann den Block aus der Hand. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich nicht mehr allein auf der Bank sitze, dass die zierliche, blonde Frau neben mir jedes Wort mitgelesen hat, jeden meiner Gedanken, die ich nie einem anderen Menschen anvertraut hätte. Ich will ihr den Stift aus der Hand reißen, sie anschreien, wie sie es wagen könnte, meine Privatsphäre so zu verletzen. Doch als ich aufschaue, blicke ich in zwei große, leuchtende Smaragde, die ich schon viel zu lange nicht mehr gesehen habe.
„Schreib doch lieber wieder über mich, wie in deinem ersten Buch. Und wenn du reden willst, dann besser nicht mit deinem Papier. Das ist so kaltherzig. Das bist nicht du“, flüstert Tirza mir ins Ohr und umarmt mich. Und zum ersten Mal seit Jahren beginne ich zu weinen.