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Wir Menschen

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13.10.2002
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Wir Menschen

Die Holzlehne des alten Schaukelstuhls knarrte verdächtig. Mit jedem Schwung wollte das Holz erbarmungslos unter der Last des Lesers zu zerknirschen. Aber wieder, und immer wieder, richtete sich die Lehne auf, um der Bürde erneut Widerstand zu leisten. Die Füße, fein und sorgfältig in selbst gestrickte Wollsocken verpackt, stützten sich auf dem staubigen Boden. Eine schwere Wandleuchte warf einen breiten Lichtkegel durch das Kämmerchen. Massenhaft winzige Staubflöckchen tanzten vor den vergilbten Seiten ohne sich je zu berühren.

Ein tiefer Schlag ertönte aus der Wanduhr, zerschnitt die Stille des Knarrens. Weitere elf betrübende Gongs folgten in einsamen und bedrückten Intervallen. Als der Letzte von ihnen verstummte, ließ er seine Hand über den Rand des Papiers gleiten, ein Lesezeichen vermerkte die letztgelesene Seite. Das Buch schob er auf den massiven Tisch neben ihm. Seine Hände waren gefaltet und formten ein kleines Dach. So saß er nun. Schweigend in seine Gedanken vertieft. Nach gut vier Minuten erhob er sich aus dem Stuhl um schweren Schrittes zum Fenster zu gehen.

„Jemand hier ?“, fragte er.
Von Alter und Schwäche war seine Stimme nie geprägt. Wie ein junger Bursch konnte er noch rufen, hätte er es gewollt.
„Du weißt, dass ich hier bin. Wieso fragst du dann?“, antwortete ihm eine rätselhafte Stimme.

Zwei gelbe Füßchen krallten sich an dem verbogenen Fensterbrett fest. Ein Schnabel hämmerte an die Fensterscheibe. Es war nicht wie das Hämmern eines Spechtes, es war weder penetrant noch laut, es erinnerte mehr an ein höfliches Anklopfen.

„Bist du also doch gekommen.“, sagte der Mann. Sein Gesicht war in Dunkelheit gehüllt. Er öffnete das Fenster. Eine klirrende Kälte zog in den Raum, breitete sich aus. Sein Atem war zu sehen. Der Rabe sprang ohne einen Flügel zu bewegen in den warmen Raum und drehte seinen Kopf mit ruckartigen Bewegungen.
„Es hat sich nichts geändert hier.“, krächzte der Rabe nach einer kleinen Inspektion.
„Ich weiß.“, resignierte der Mann im grauen Bademantel.

Mit behutsamen Schritten ging der Mann wieder auf den Schaukelstuhl zu. Als er sich hinsetzte flatterte der Rabe durch den Lichtkegel in die gegenüberliegende Ecke des Zimmers. An der Decke, hinter Bildern des Riesenrads, hing ein vergoldeter Käfig. Das Türchen stand halboffen. Der Vogel begab sich lautlos in den Käfig und stellte sich auf die kleine Holzstange die auf halber Höhe montiert war.

„Hast du meine Ratschläge befolgt?“, fragte der Vogel.
„Ja - - Nein..“
„Wie meinst du?“
„Ich habe es versucht, aber es funktioniert nicht.“, antwortete der Mann und begann im Schaukelstuhl leise zu wippen.
„Ihr Menschen habt es wirklich nicht einfach, aber leichter als wir.“, krächzte es aus dem Käfig.
„Aber ich habe mich gebessert!“. Die Stimme erhob sich gegen Ende das Satzes.
„Ich weiß.“, flüsterte Vogel und schien mit dem Kopf zu nicken.

„Aber...“, der Mann hielt inne, „... wir Menschen sind nun mal so. Wir leben von Geld, wir brauchen es. Wir haben Wünsche; fast alle sind materialistischer Natur. Ich denke, wenn man Mensch ist, ist man automatisch in der Sucht des Wollens gefangen. Wir wollen die Besten sein, und es allen zeigen.“

„Ich weiß.“ , flüsterte der Vogel und schien mit dem Kopf zu nicken. „Du kannst so sein wie alle Tiere dieser Welt, du brauchst nicht Mensch sein. Komm mit mir. Komm zu mir“.
„Mehr als einen Sommer hattest du Zeit mein Angebot zu überdenken. Bist du einverstanden mit dem Pakt?“, setzte der Rabe nach.
„Es gibt keinen andren Ausweg.“

Und so war es, dass der Rabe aus dem Käfig geflogen kam, und sich vor dem Mann aufplusterte. Am kalten Boden berührten sich die kleinen gelben Füßchen mit den Wollsocken. Der gelbe Schnabel pickte in die kleine Zehe und der Rabe trank einen Tropfen Blut aus dem menschlichen Fuß. Die Seelen beider begannen deren Körper zu tauschen. Der Schnabel tief in der kleinen Zehe gebohrt, wurden Menschenaugen glasig und Rabenaugen grünlich. Das Knarren des Holzes verschwand, die Staubkörnchen begannen zu wirbeln. Kein Ton war zu vernehmen. Gut eine Minute mag vergangen sein, da zog der Rabe den Schnabel aus dem Fuß.
„Ich halte meine Versprechen“, sagte der Mann, der nun der Rabe war.

„Ich weiß.“ , flüsterte der Vogel und schien mit dem Kopf zu nicken.
„Danke“, sagte der Rabe und flog aus dem offenen Fenster.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi,

interessante Geschichte. Aber bevor ich zum Inhaltlichen komme, habe ich noch ein paar stilistische Anmerkungen:

Mit jedem Schwung wollte das Holz erbarmungslos unter der Last des Lesers zu zerknirschen.

"Zu" ist hier überflüssig.

Aber wieder, und immer wieder, richtete sich die Lehne auf, um der Bürde erneut Widerstand zu leisten.

", und immer wieder," würde ich hier rausnehmen. Klingt nicht flüssig. Wenn schon, dann "immer" hinter "aber" setzen.

Massenhaft winzige Staubflöckchen tanzten vor den vergilbten Seiten ohne sich je zu berühren.

Klingt komisch, da sich in dieser Satzstellung das "massenhaft" auf "winzig" bezieht und das nicht passt, denn eigentlich müßte es eine Aufzählung sein.

Ein tiefer Schlag ertönte aus der Wanduhr, zerschnitt die Stille des Knarrens.

Klingt auch komisch. "Schlag" wirkt unpassend, genauso wie "die Stille des Knarrens". Entweder herrscht Stille oder irgendwas knarrt.

Weitere elf betrübende Gongs folgten in einsamen und bedrückten Intervallen.

Hier versuchst du mit dem Vorschlaghammer eine bestimmte Stimmung zu konstruieren. Aber es ist zu viel des Guten.

Als der Letzte von ihnen verstummte, ließ er seine Hand über den Rand des Papiers gleiten, ein Lesezeichen vermerkte die letztgelesene Seite.

der letzte; großgeschrieben nur, wenn es alleine steht. Hier bezieht es sich aber auf die Gongs, deshalb klein geschrieben.

Das Buch schob er auf den massiven Tisch neben ihm.

Hm. Er hat das Buch doch in der Hand, oder? Hat er es mit der anderen von der Handfläche runter auf den Tisch geschoben? Wohl eher nicht. Müßte also hier "legen" heißen.

Nach gut vier Minuten erhob er sich aus dem Stuhl, um schweren Schrittes zum Fenster zu gehen.

„Du weißt, dass ich hier bin. Wieso fragst du dann?“, antwortete ihm eine rätselhafte Stimme.

Warum ist die Stimme rätselhaft? Anscheinend kennt der Protagonist die Stimme. Demnach kann sie für ihn nicht rätselhaft sein. Also für wen ist sie dann rätselhaft? Für den Leser? Wenn ja, beschreib die Stimme so, daß sie für den Leser rätselhaft wirkt, aber sag dem Leser nicht, wie er irgend etwas empfinden soll.

Es war nicht wie das Hämmern eines Spechtes, es war weder penetrant noch laut, es erinnerte mehr an ein höfliches Anklopfen.

Hier solltest du das Ganze in drei Sätze aufteilen. Aneinander gereihte Hauptsätze sind nicht sehr schön. Außerdem kommt dreimal "es" darin vor. Wenn du aus dem Gebilde eine Aufzählung machst, kannst du das Hauptsatzproblem und die WW vermeiden.

Sein Gesicht war in Dunkelheit gehüllt.

Ich denke, das Zimmer ist hellerleuchtet? Selbst wenn sein Gesicht "draußen" ist, weil er es aus dem Fenster hält, ist das Licht immer noch so stark, daß das Gesicht nicht in Dunkelheit gehüllt sein kann.

Eine klirrende Kälte zog in den Raum, breitete sich aus.

Ich würde ein "und" einfügen, macht das ganze flüssiger. Abgesehen davon strömt nicht plötzlich eine klirrende Kälte in den Raum. Wenn schon dann ein Luftzug und bis sich die Kälte ausbreitet, dauert es schon ein bißchen.

Der Rabe sprang, ohne einen Flügel zu bewegen, in den warmen Raum und drehte seinen Kopf mit ruckartigen Bewegungen.

Eben sagtest du noch, daß sich klirrende Kälte in dem Raum ausbreitet und jetzt ist es wieder warm?

„Ich weiß.“, resignierte der Mann im grauen Bademantel.

"resignierte" ist hier äußerst unglücklich gewählt. Das geht nicht.

Als er sich hinsetzte, flatterte der Rabe durch den Lichtkegel in die gegenüberliegende Ecke des Zimmers.

Hier würde ich "in" durch ""zur" ersetzen.

Der Vogel begab sich lautlos in den Käfig und stellte sich auf die kleine Holzstange, die auf halber Höhe montiert war.

Die Stimme erhob sich gegen Ende das Satzes.

Wie jetzt? Die Stimme ist aufgestanden? "Die Stimme hob sich..."

„Ihr Menschen habt es wirklich nicht einfach, aber leichter als wir.“, krächzte es aus dem Käfig.

Klingt auch komisch. Du versucht fast zwanghaft, besondere Formulierungen zu finden. Aber manche Sachen passen eben einfach nicht. und stören mehr als daß sie nützen.

„Aber...“, der Mann hielt inne, „... wir Menschen sind nun mal so. Wir leben von Geld, wir brauchen es. Wir haben Wünsche; fast alle sind materialistischer Natur

"Aber..." Der Mann hielt inne. "Wir..."

"vom" statt "von"

Nach "Geld" würde ich einen Punkt machen, ebenso nach "Wünsche"

„Ich weiß.“ , flüsterte der Vogel und schien mit dem Kopf zu nicken.

Hast du weiter oben schon benutzt. "flüsterte" und "kopf nicken" sind WW.

„Du kannst so sein wie alle Tiere dieser Welt, du brauchst nicht Mensch sein. Komm mit mir. Komm zu mir“.

Nach "Welt" nen Punkt machen.

„Mehr als einen Sommer hattest du Zeit, mein Angebot zu überdenken.

Hier gefällt mir die Satzstellung nicht. "Du hattest mehr als einen Sommer Zeit, mein..."

Bist du einverstanden mit dem Pakt?“, setzte der Rabe nach.

"setzte nach" passt nicht. "fügte hinzu" wäre hier besser.

„Es gibt keinen andren Ausweg.“

"anderen". Der Rabe spricht die ganze Zeit hochdeutsch.

Und so war es, dass der Rabe aus dem Käfig geflogen kam, und sich vor dem Mann aufplusterte.

Vor "und" kein Komma. "Und" als Satzanfang möglischst vermeiden.

Am kalten Boden berührten sich die kleinen gelben Füßchen mit den Wollsocken.

"Und" statt "mit"

Die Seelen beider begannen deren Körper zu tauschen.

"die" od. "ihre" statt "deren"

Der Schnabel tief in der kleinen Zehe gebohrt, wurden Menschenaugen glasig und Rabenaugen grünlich.

"Den Schnabel tief in die Zehe gebohrt..."

Gut eine Minute mag vergangen sein, da zog der Rabe den Schnabel aus dem Fuß.

"als" statt "da"
Den Ausdruck am Anfang hast du oben schon bei den 4 Minuten verwendet.
Außerdem hat sich hier ein Zeitfehler eingeschlichen. "Mochte" statt "mag".

„Ich weiß.“ , flüsterte der Vogel und schien mit dem Kopf zu nicken.

Wieder die gleiche WW wie oben.

Soviel zum Stil. Deine Geschichte ist wie gesagt recht interesant, allerdings ist mir etwas unklar. Der Vogel will, daß der Mensch so ist wie er. Der Vogel sagt: "Komm zu mir." Ist ja gut und schön. Aber wieso tauschen sie dann die Körper? Ich denke, der Vogel wll, daß sie auf dem gleichen "Level" sind? Bei einem Körpertausch ist das aber nicht der Fall. Das Problem scheint mir dadurch nicht gelöst.

Liebe Grüße, Pan

 

Hi,

Pandoras Kritik ist kaum etwas hinzuzufügen, an einer Stelle bin ich jedoch nicht einverstanden:

"Ich weiß", resignierte er.

Das finde ich in Ordnung, wenn nicht sogar sprachlich brillant, weil es den Tonfall perfekt beschreibt. Dass "resignieren" eigentlich kein anderes Wort für "sagen" ist, finde ich nicht weiter schlimm.

Eins noch:

Wir haben Wünsche; fast alle sind materialistischer Natur

Hab gerade kein Fremdwörterbuch zur Hand - geht nicht auch "materieller Natur"? Das liest sich besser.

Nun zum inhaltlichen Aspekt: Der "Rollentausch" ist schön beschrieben, allerdings finde ich die Flucht vor dem Materialismus hier stark vereinfachend. Man fragt sich unwillkürlich nach den Hinter- und Beweggründen, dazu erfahren wir aber nichts. Schon gar nicht, warum der Vogel denn Mensch werden will, denn das ist ja der Preis, den er bezahlt.

Fazit: sprachlich recht brauchbar aber inhaltlich etwas oberflächlich.

Uwe

 

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