Wir Menschen
Die Holzlehne des alten Schaukelstuhls knarrte verdächtig. Mit jedem Schwung wollte das Holz erbarmungslos unter der Last des Lesers zu zerknirschen. Aber wieder, und immer wieder, richtete sich die Lehne auf, um der Bürde erneut Widerstand zu leisten. Die Füße, fein und sorgfältig in selbst gestrickte Wollsocken verpackt, stützten sich auf dem staubigen Boden. Eine schwere Wandleuchte warf einen breiten Lichtkegel durch das Kämmerchen. Massenhaft winzige Staubflöckchen tanzten vor den vergilbten Seiten ohne sich je zu berühren.
Ein tiefer Schlag ertönte aus der Wanduhr, zerschnitt die Stille des Knarrens. Weitere elf betrübende Gongs folgten in einsamen und bedrückten Intervallen. Als der Letzte von ihnen verstummte, ließ er seine Hand über den Rand des Papiers gleiten, ein Lesezeichen vermerkte die letztgelesene Seite. Das Buch schob er auf den massiven Tisch neben ihm. Seine Hände waren gefaltet und formten ein kleines Dach. So saß er nun. Schweigend in seine Gedanken vertieft. Nach gut vier Minuten erhob er sich aus dem Stuhl um schweren Schrittes zum Fenster zu gehen.
„Jemand hier ?“, fragte er.
Von Alter und Schwäche war seine Stimme nie geprägt. Wie ein junger Bursch konnte er noch rufen, hätte er es gewollt.
„Du weißt, dass ich hier bin. Wieso fragst du dann?“, antwortete ihm eine rätselhafte Stimme.
Zwei gelbe Füßchen krallten sich an dem verbogenen Fensterbrett fest. Ein Schnabel hämmerte an die Fensterscheibe. Es war nicht wie das Hämmern eines Spechtes, es war weder penetrant noch laut, es erinnerte mehr an ein höfliches Anklopfen.
„Bist du also doch gekommen.“, sagte der Mann. Sein Gesicht war in Dunkelheit gehüllt. Er öffnete das Fenster. Eine klirrende Kälte zog in den Raum, breitete sich aus. Sein Atem war zu sehen. Der Rabe sprang ohne einen Flügel zu bewegen in den warmen Raum und drehte seinen Kopf mit ruckartigen Bewegungen.
„Es hat sich nichts geändert hier.“, krächzte der Rabe nach einer kleinen Inspektion.
„Ich weiß.“, resignierte der Mann im grauen Bademantel.
Mit behutsamen Schritten ging der Mann wieder auf den Schaukelstuhl zu. Als er sich hinsetzte flatterte der Rabe durch den Lichtkegel in die gegenüberliegende Ecke des Zimmers. An der Decke, hinter Bildern des Riesenrads, hing ein vergoldeter Käfig. Das Türchen stand halboffen. Der Vogel begab sich lautlos in den Käfig und stellte sich auf die kleine Holzstange die auf halber Höhe montiert war.
„Hast du meine Ratschläge befolgt?“, fragte der Vogel.
„Ja - - Nein..“
„Wie meinst du?“
„Ich habe es versucht, aber es funktioniert nicht.“, antwortete der Mann und begann im Schaukelstuhl leise zu wippen.
„Ihr Menschen habt es wirklich nicht einfach, aber leichter als wir.“, krächzte es aus dem Käfig.
„Aber ich habe mich gebessert!“. Die Stimme erhob sich gegen Ende das Satzes.
„Ich weiß.“, flüsterte Vogel und schien mit dem Kopf zu nicken.
„Aber...“, der Mann hielt inne, „... wir Menschen sind nun mal so. Wir leben von Geld, wir brauchen es. Wir haben Wünsche; fast alle sind materialistischer Natur. Ich denke, wenn man Mensch ist, ist man automatisch in der Sucht des Wollens gefangen. Wir wollen die Besten sein, und es allen zeigen.“
„Ich weiß.“ , flüsterte der Vogel und schien mit dem Kopf zu nicken. „Du kannst so sein wie alle Tiere dieser Welt, du brauchst nicht Mensch sein. Komm mit mir. Komm zu mir“.
„Mehr als einen Sommer hattest du Zeit mein Angebot zu überdenken. Bist du einverstanden mit dem Pakt?“, setzte der Rabe nach.
„Es gibt keinen andren Ausweg.“
Und so war es, dass der Rabe aus dem Käfig geflogen kam, und sich vor dem Mann aufplusterte. Am kalten Boden berührten sich die kleinen gelben Füßchen mit den Wollsocken. Der gelbe Schnabel pickte in die kleine Zehe und der Rabe trank einen Tropfen Blut aus dem menschlichen Fuß. Die Seelen beider begannen deren Körper zu tauschen. Der Schnabel tief in der kleinen Zehe gebohrt, wurden Menschenaugen glasig und Rabenaugen grünlich. Das Knarren des Holzes verschwand, die Staubkörnchen begannen zu wirbeln. Kein Ton war zu vernehmen. Gut eine Minute mag vergangen sein, da zog der Rabe den Schnabel aus dem Fuß.
„Ich halte meine Versprechen“, sagte der Mann, der nun der Rabe war.
„Ich weiß.“ , flüsterte der Vogel und schien mit dem Kopf zu nicken.
„Danke“, sagte der Rabe und flog aus dem offenen Fenster.