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Wir könnten Freunde sein
"Mama, komm jetzt endlich !", rief Manuela von unten. Heute ist der erste Kindergartentag nach den großen Ferien und nun gehört Manuela schon zu den Vorschulkindern. Kein Wunder, dass sie es kaum erwarten kann in den Kindergarten zu kommen.
Endlich ist Mama fertig und kommt die Treppe herunter. Manuela hüpft von einem Bein auf das andere: "Beeil dich doch Mama! Deine Tasche habe ich schon." Mama nahm ihre Tasche, schloss die Tür hinter sich ab und sie machten sich gemeinsam auf den Weg.
Etwa auf halben Weg sah Manuela an der großen Kreuzung wie ein Kind weinte und von seiner Mutter über die Straße gezerrt wurde. Das war für Manuela ja nichts ungewöhnliches, aber sie konnte den Blick nicht von dem Kind und seiner Mutter abwenden, denn sie hatten beide eine schwarze Hautfarbe. So etwas hatte Manuela noch nie bei ihnen in der Stadt gesehen.
Da wurde die Ampel grün und Manuelas Mutter zog sie weiter. Schon hatte Manuela das Kind mit der schwarzen Hautfarbe wieder vergessen und freute sich auf Silvia, ihre beste Freundin. Sie hatte sie die ganzen Ferien über nicht gesehen. Silvia hatte sie nämlich mit der ganzen Familie in der Türkei verbracht.
Als Manuela endlich im Kindergarten ist, gibt sie der Mutter nur einen flüchtigen Abschiedskuss und ist im nächsten Moment auch schon neben Silvia, um ihr das Erlebte zu erzählen. Die beiden Mädchen gehen Arm in Arm in die Gruppe, setzen sich an einen Tisch und Silvia erzählt von ihren Ferien in der Türkei.
Aber auch Manuela hat eine ganze Menge zu berichten, obwohl sie in kein fernes Land gefahren ist. Schön war es aber trotzdem, denn sie war auf dem Bauernhof ihrer Oma und hat jeden Tag mitgeholfen die Kühe zu melken.
Noch sind die Mädchen nicht fertig mit ihren Berichten, als Frau Zeiller, die Erzieherin in einen Stuhlkreis ruft.
Manuela und Silvia waren bis jetzt so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie gar nicht gemerkt haben, dass ein paar neue Gesichter dabei sind.
Zuerst durfte jedes Kind erzählen, was es in den Ferien gemacht hat und Frau Zeiller erzählte von ihrem Urlaub. Dann sagte sie: "Wie einige von euch wissen, fängt jetzt ein neues Kindergartenjahr und auch ein neues Schuljahr an. Vor den Ferien haben wir einige Kinder verabschiedet, die heute ihren ersten Schultag haben. Deshalb sind jetzt auch wieder ein paar neue Kinder bei uns.
Das hier ist Sven. Sven, wie alt bist du denn?" "Drei!" kam es laut und deutlich aus ihm heraus. "Aber ich werde bald vier." "Und wie heißt du?" fragte Frau Zeiller ein kleines Mädchen. "Franziska" piepste sie leise. Franziska war ein schüchternes Mädchen und wäre am liebsten auf Frau Zeillers Schoß gesessen, aber selbst das traute sie sich nicht.
So ging es noch mit vier anderen Kindern weiter. Manche waren etwas ängstlich und schüchtern, andere sogar etwas vorlaut und bestimmend.
Aber da saß ein Kind, das sich noch nicht vorgestellt hat und Manuela war es auch noch gar nicht aufgefallen, weil sie sich die anderen neuen Kinder angeschaut hatte. Jetzt entdeckte sie das Kind und...was war denn das? Dieses Kind hatte sie doch schon einmal gesehen.
Da fiel es ihr wieder ein. Heute morgen an der Kreuzung. Das Kind, das heulend von seiner Mutter über die Straße gezerrt wurde und von dem Manuela ihren Blick nicht abwenden konnte, weil es so eine dunkle Hautfarbe hatte und überhaupt anders aussah wie sie.
Jetzt konnte Manuela es nicht mehr abwarten, bis Frau Zeiller das Mädchen vorstellte und so kam sie ihr zuvor: "Wie heißt du? Ich habe dich heute früh an der großen Kreuzung gesehen."
Das Kind aber sagte nichts, sondern blickte nur auf den Boden.
Auch Sven, einer der Neuen fragte jetzt: "Na, wie heißt du denn? Traust du dich etwa nicht mit uns zu reden?" und er stupste das Kind an, da er direkt neben dem Kind saß. Dieses aber blieb stumm und starrte nur auf den Boden.
"Das ist Elif", erklärte Frau Zeiller den Kindern, "sie kommt aus Afrika und kann fast kein Deutsch, weil sie erst vor drei Wochen mit ihren Eltern nach Deutschland gezogen ist. Also seid bitte nett zu ihr und helft ihr, wenn sie etwas nicht kann."
"Warum ist sie denn so schmutzig im Gesicht?" fragte Daniel, ein vierjähriger Junge.
"Elif ist nicht schmutzig, ihre Haut ist so dunkel. Da wo sie herkommt haben alle Menschen so eine schwarze Haut, genauso wie unsere weiß ist" erklärte Frau Zeiller.
"Ich habe eine Bitte an euch" sagte sie in die Runde. "Ich möchte, dass ein Vorschulkind die Patenschaft für Elif übernimmt. Das heißt, der Pate zeigt ihr alles, spielt mit ihr, lernt mit ihr deutsch und kümmert sich um sie. Selbstverständlich helfen wir alle mit, aber ein Kind sollte sich ganz besonders um Elif kümmern."
Da meldete sich Manuela und erklärte sich sofort bereit, die Patenschaft für Elif zu übernehmen.
Manuela zeigte ihr auch gleich den Waschraum und die Toiletten, weil Elif die Beine so zusammenkniff. Da sie aber kein Deutsch sprechen konnte, verstand sie auch keiner. Nur Frau Zeiller erkannte, was Sache ist und erklärte Manuela, was sie zu tun hatte. So ging der erste Kindergartentag zu Ende.
Natürlich erzählte Manuela am Mittagstisch alles ihrer Mutter und war mächtig Stolz auf ihre neue Aufgabe.
Mit der Zeit lernte Elif die deutsche Sprache und konnte schon bald sagen, was sie wollte. Auch mit den anderen Kindern kam sie gut zurecht, aber besonders gern spielte sie mit Manuela und Silvia. Aus der Patenschaft ist eine richtige Freundschaft entstanden und so spielten die drei meistens zusammen.
Frau Zeiller beobachtete das mit Freude und so kam sie auf eine großartige Idee. Die wollte sie aber noch für sich behalten.
Die Wochen vergingen und die neuen Kinder hatten sich gut eingelebt. Frau Zeiller hatte von dem Spielgeld eine Negerpuppe gekauft, die jetzt in der Puppenecke lag. Die Kinder liebten diese Puppe und hatten sie einstimmig "Elif" getauft, weil sie genauso eine schwarze Hautfarbe hatte, wie "ihre" Elif.
Elif freute sich sehr darüber und spielte besonders gern mit ihr.
Elifs vierter Geburtstag stand vor der Tür und als Elif an diesem Tag die Gruppe betrat, war der ganze Raum geschmückt und alle Kinder hatten andere Kleider an als sonst. Die einen trugen Lederhosen, die anderen ein Kopftuch oder einen Turban. Manche hatten Holzschuhe oder weite Kimonos an.
Frau Zeiller hatte die Idee gehabt, ein Nationalitätenfest zu feiern und die Kinder heimlich darauf vorbereitet, um Elif an ihrem Geburtstag zu überraschen. Da es auch französische und türkische Kinder in der Gruppe gibt, haben die Mütter typische Speisen aus dem Land mitgebracht, aus dem sie kommen.
Und die wurden von hungrigen Kindern verspeist.
So wurde aus Elifs Geburtstag ein Nationalitätenfest und die Kinder lernten von Frau Zeiller noch einiges über ferne Länder.