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Wir Könnten Freunde sein

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17.03.2002
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Wir Könnten Freunde sein

* mit Zitaten der Lassie Singers und einer Werbung für eine neue SAT1 Fernsehanwaltsserie

Tisch. Stuhl. Bett. Schrank. Alles noch da. Alles noch an seinem Platz, da wo es schon immer steht. Der Spiegel in der Ecke. Der Fernseher in der anderen. Dicht daneben auch Agathe, meine Topfpflanze. Spiegel. … Spiegel? … Ich zögere. Soll ich einen Blick wagen? Aber was wenn keiner zurückblickt? Ich schließe die Augen und taste mich langsam vor. Blinzele. Erst rechts. Dann links. Zögerlich. Noch einmal. Überwinde mich schließlich, meine Augen ganz zu öffnen. Erkennen der bekannten äußeren Form. Dann Erleichterung. Noch da. Nicht auf der Strecke geblieben. Nicht aufgelöst. Nicht Nichts. Hätte ja gut sein können. Das Gefühl, es wäre so, habe ich durch die letzten bewusstlos tauben Tage geschleppt. Betäubt. Herzschlag kaum fühlbar.

Schlägt da noch was?, fragte ich mich des öfteren irritiert. Vor allem abends, im Bett. Ich lag kerzengerade, Hände auf dem Bauch zusammengefaltet. Wie ich da so rumlag, versuchte ich meinen Puls zu fühlen. Keine Regung. Vielleicht die falsche Stelle. Beim DRK-Kurs vor der Führerscheinprüfung hatte ich den rechten Arm in Gips und war zur Handlungsunfähigkeit somit nur zum Zuschauen verurteilt. Probierte es also noch einmal. Am Hals. Meine Lymphknoten waren geschwollen. Das konnte ich schnell feststellen. Ich drückte den Kopf tiefer in mein Kissen, dabei wölbte sich mein Kehlkopf leicht heraus. Aber einen Puls konnte ich nicht finden. Ich überlegte kurz, ob ich mit einer Taschenlampe in die Augen leuchten sollte, um die Pupillenreaktion zu prüfen. Spreizte schon mal mit Daumen und Zeigefingern beide Lider auseinander. Drehte die Augäpfel in alle Richtungen. Verrollte sie soweit nach rechts und links bis es wehtat. Bis die Sehnen drohten sich überdehnen. Dann fiel mir ein, dass die Taschenlampe in der Abstellkammer liegt. Dass hieße aufstehen. Das hieße bewegen. Eilig verwarf ich also den Gedanken wieder. Ein Leben im Liegen*.

Irgendwann zwischen „Wer wird Millionär“ um Zwanziguhrfünfzehn und dem Ende der Wiederholung von „Bärbel Schäfer“ gegen Vieruhrfünfundvierzig muss ich wohl eingeschlafen sein. Ich erinnere mich nicht mehr an vieles. Nur Bruchstücke. Und dass bei Bärbel zwei Dreihundert-Pfund-Frauen in Unterwäsche um einen Mitleid erregenden Typen tanzten.

Heute Morgen dann, gegen Sechsuhrsiebenundzwanzig: aufstehen, waschen, anziehen.
Rituale. Zerstreut, geistesabwesend vollzogen. Ohne bewusste Erinnerung.

Jetzt stehe ich im Zimmer. Immerhin, ich stehe. Ein Fortschritt. Und die Gestalt im Spiegel sieht dem mir bekannten Ich recht ähnlich. Bloß gut. Taste, um wirklich sicher zu gehen, noch mal alle markanten und exponierten Körperteile ab. Ziehe mir an Ohren und Nase. Klopfe argwöhnisch auf Brust, Bauch, Po. Hebe zu guter Letzt beide Arme und Beine. Kein Griff ins Leere. Alles beweglich. Glück gehabt. Glück im Unglück.

Agathe steht am Fenster. Agathe, die Gute. Auch ihr streichle ich beinahe liebevoll über ihre kleinen Blättchen. Wie ein Kind, dass zum ersten Mal mit den bis jetzt immer viel zu kurzen Ärmchen an das Objekt seiner Neugierde heranreicht. Fasziniert von Sinneseindrücken. Von Berührungen. Man wird viel zu wenig berührt. Nein, verbessere ich den Gedanken eilig, man lässt viel zu wenig berühren. Agathes neue Ableger sind weich und samtig. Hellgrün und ganz zerbrechlich. Passt gar nicht zu ihr, denke ich. Ist sie doch sonst so edel und stark*.

Draußen der Frühling. Draußen die Welt. Auch Menschen. Mit geöffneten Jacken. Manche auch in kurzen Hosen. Im Februar. Agathe am Fenster. Ich in ihrem Schatten. Öffne uns den Blick nach draußen, indem ich das Fenster öffne. Gewähre uns ein wenig viel-zu-frühe Frühlingsluft. Ach, seufze ich. Atme tief ein. Und aus. Mir fällt nichts besseres ein und ich seufze ein weiteres Mal. Dann kommt mir auch der Anlass dieses Seufzens wieder in den Sinn: Da mag eine einen, den eine andere auch mag und der eine mag die andere lieber als die eine. Um es mal so zu sagen. Die eine weiß nichts von den Gefühlen der anderen. Und umgekehrt. Was bleibt, ist eine vorübergehende Bildstörung. Bei der einen. Und der anderen auch. Über die Gefühle des einen kann an dieser Stelle nur gemutmaßt werden. Angenommen wird aber eine ähnliche Ohnmacht. Die eine und die andere teilen eine Wohnung. Sie teilen Bad, Küche und auch ein Stück Leben. Glück und Unglück wohnen manchmal Wand an Wand. Ein Leben in Redewendungen. Die tauchen in solchen Momenten extremer Verunsicherung und Verstörung immer auf. Es scheint fast so, als würden sie die nicht denkbaren Gedanken, das Rauschen, in Denkbares übersetzen. Denn nur in solchen Momenten ergeben diese Redewendungen wirklich Sinn. Spenden ein wenig Trost und Aufmunterung. Na ja, das ist vielleicht zu viel gesagt. Wahrscheinlich sind sie vielmehr eine Art Brücke zwischen selbstmitleidiger Egomanie und deren Überwindung. Ansonsten bleiben sie Floskeln. Leere Worthülsen. Ganz schnell vergisst man deren Bedeutung, deren Wahrheit. Man vergisst sowieso viel zu schnell.

Ich gebe Agathe ein wenig Wasser und stelle sie nach draußen auf das Fensterbrett. In die Sonne. Mir selbst ziehe ich die Mütze in die Stirn, schlage den Mantelkragen nach oben und wage den Schritt in die Welt. Überrascht von der eigenen Bewegungsleistung. Die Sonne lacht, wie man so sagt. Was mich nicht umbringt, macht mich stark, sagt man auch. Da waren sie wieder, die Redensarten. Sogar Wörterbücher widmet man ihnen. Duden, Band elf. Aus Spaß und weil ich es wissen will, blättere ich ein wenig darin. Du wirst schon nicht an Herzdrücken sterben. Und lass erst mal Gras über die Sache wachsen. Besonders schön ist aber: wenn du heiratest ist alles vorbei. Na ja, alles vorbei … Derlei Weisheiten eben. Die kommen einem auch garantiert in den Sinn. Alle. Ich lese weiter: Jedem Ende wohnt ein Anfang inne. Okay. Mal sehen.

Ich also raus auf die Straße. In die Welt. Stille Grundtrauer. Trübes Denken in einer Blase: Nichts hören, nichts erkennen, nur Umrisse und geisterhafte Schatten. Und immer nur laufen. Nur nicht stehen bleiben. Nur nicht umkehren. Also laufe ich und laufe. Wohin ist egal. Hauptsache vorwärts. Deshalb versuche ich Ampeln und Kreuzungen zu umschiffen und summe, zu meiner eigenen Unterhaltung, leise irgendeine Melodie vor mich her. Ich glaube irgendwas von diesen traurig komischen Liedern der Lassie Singers. „Hallo laute Welt“, oder so. Ich bin nicht sicher, schließlich bin ich unmusikalisch. Aber irgend so ein Lied wird es wohl sein.

Zu meinem Erstaunen schauen mich die Leute nicht mal komisch an. Sie sind ganz mit sich beschäftigt. Mit ihren Kaffeetassen, ihren Eisbechern und ihren exotischen Fruchtcocktails. Und ihrer Freude über die ersten warmen Sonnenkitzelstrahlen. Ich denke kurz an einen Satz, den ich irgendwo einmal aufgeschnappt habe. Ich fand ihn wohl gerade passend. Und jetzt kommt er mir ab und zu, um genau zu sein an solchen Tagen wie heute, in den Sinn: „Wen das Unglück aufsucht, der mag sich aus einer Ecke in die andere verkriechen, oder ins weite Feld fliehen, es weiß ihn dennoch zu finden.“ An solchen Tagen sitzt der Schrecken in allen Ecken. Manche sagen, der Schrecken sitze immer da. Jeden Tag. Immer in den selben Ecken. Überall. Und man sei an eben genannten Tagen einfach nur verängstigter und scheuer als an anderen. Mag sein. Allerdings suggeriert das ja, man sei selbst verantwortlich ... Wie auch immer, es gibt eben diese Tage und der Schreck immer noch in allen Ecken. Sitzt da und lauert. Dass jemand vorbei kommt der gerade einen dieser Tage hat.

Die Fußwege sind plötzlich menschenleer, weil das an diesen Tagen immer so ist. Wie ich so auf Umwegen herumirre, verfinstert sich der Himmel. Die Wolken sind in rasender Bewegung. Da braut sich was zusammen, denke ich, und, verlass dich nicht auf’s Wetter. Das ist alles nur in deinem Kopf, schießt es mir in selbigen. Der macht auch, dass um so mehr Autos durch die Straßen jagen. Da gibt es gar keine andere Möglichkeit und schon gar keine Diskussion. Das ist in sich schlüssig und konsequent. Und ich selbst? Na ja. Hängende Schultern, hängender Kopf. Der ist schwer von den vielen Luftschlössern, Hirngespinsten und Entscheidungen, die ich so mit mir durch die Gegend schleppe. Hier kann nicht einmal von der Fähigkeit gesprochen werden, überhaupt so etwas wie einen klaren Gedanken fassen geschweige denn festhalten zu können. Was ja die Vorraussetzung wäre, Entscheidungen zu treffen. In gewisser Weise ist das ja auch konsequent. Genannte verwirrte Ratlosigkeit lässt selbst die Suche nach einfachen Antworten auf harmlose, unkomplizierte Fragen, die nur eine Entscheidung zwischen Ja oder Nein erfordern würden, zu stundenlangen Diskussionen mit mir selbst und den unzähligen Anderen in meinem Kopf ausarten. Das macht wiederum ungeahnt bewegungslos. Und, falls ich es noch nicht erwähnt habe, alle zu überquerenden Ampeln stehen auf rot. Natürlich. Und zum Glück. So ist es sozusagen amtlich: ich darf mich gar nicht bewegen. Aber, es wäre nicht einer dieser Tage, wenn es nicht auch noch aus tiefschwarzem Himmel anfangen würde zu regnen. Sintflutartig, zweifelsohne. An einem sonnigen Frühlingsnachmittag im Februar. Bei aller Unentschlossenheit bin ich nun doch wieder vor eine Wahl gestellt: An der Ampel warten, nicht bewegen und so langsam regennass werden – was dem regungslosen Gemüt am ehesten entspräche – oder den Schritt wagen, auf die Straße treten und kaltblütig an- im ungünstigsten Fall überfahren zu werden. Denn grün wird es sowieso nicht. Nicht einmal gelb. Weil Fußgängerampeln gar keine Gelbphase haben. Und die Autofahrer sind alle in Eile. Da stehe ich also an der Kreuzung und die Nase tropft. Eigentlich alles andere auch, aber das Tropfen der Nase stört besonders. Warum, kann ich nicht sagen. Das ist nur so ein Gefühl. Ich denke an Agathe. Und, ob es wohl wunderlich ist, an eine Zimmerpflanze zu denken. Ich weiß es nicht. Alle anderen Pflanzen sind im Laufe der Jahre eingegangen. Für die einen war es zu viel Wasser. Für die anderen zu wenig. Ich konnte es keiner Recht machen. Nur Agathe. Sie ist anders als alle anderen. Sie ist überhaupt auch anders als alle anderen Dinge in meinem Zimmer. Sie ist das einzige Lebendige. Ein winziger Hauch Leben. Vielleicht habe ich sie deshalb so lieb gewonnen. Sie ist mir eine Vertraute, fast so etwas wie eine Freundin. Manchmal habe ich überlegt, mit ihr durch die Straßen zu ziehen. Sie mit in die Kneipen und Clubs zu nehmen, in die ich nie ging. Ich hätte sie und ihren flippig extravaganten gelb-grün-gepunkteten Übertopf einfach auf den Tisch gestellt. Ich hätte einen Milchkaffee für mich und ein Glas Wasser für sie bestellt und wir wären nicht allein gewesen. Na ja. In solchen Momenten dachte ich aber immer, die Leute würden nicht verstehen. Deshalb nahm ich manchmal, an besonders seltsamen und schreckhaften Tagen, eines ihrer kleinen, hellgrünen Blättchen, steckte es mir in die Manteltasche und hielt mich daran fest, wenn der Schrecken aus seinen Ecken kroch um mir Furcht einzujagen. So konnte ich auch den Weg nach Hause finden, konnte über die Ampeln gehen und den Regen in meinem Kopf ertragen. Gewiss, noch immer schüchtern und ängstlich, aber immerhin.

Heute hatte ich nichts in der Manteltasche. Keines von Agathes Blättchen, auch keinen Zettel mit Namen und Adresse. Also stehe ich da und warte. Bis jemand kommt und mich an die Hand nimmt. Aber natürlich kommt keiner. Ist ja keiner auf der Straße bei dem sonnigen Unwetter. Nur eine schrullige Alte, mit einem Gesicht wie Bukowski. Großporig und zerknittert. Die hilft mir aber auch nicht. Die stellt sich nur direkt vor mich und starrt. Und wundert sich. Über den seltsamen, regungslosen jungen Menschen. Ungläubig den knautschigen alten Kopf schüttelnd. Die Brille, die selbst für ihren gewaltigen Kopf viel zu groß ist, weitet ihre Augen um das Fünffache. Albtraumgesicht. Sie murmelt, vergiss das Wetter und verlass dich auf niemanden. Dann nimmt sie ihren zottelig-schwarzen Riesenschnauzer auf den Arm, und überquert schnellen Schrittes die leere Straße. Und ich selbst stehe immer noch da. Die Ampel ist ja schließlich rot und die ganzen Autos …

Ich weiß nicht, wie lange ich noch so unbewegt an der leeren Kreuzung stehe. Habe keinerlei Zeitgefühl. Irgendwann kommt einer und stößt mich an. Dabei verliere ich endgültig das Gleichgewicht. Ich stolpere. Den Sturz kann ich nicht mehr aufhalten, meine Hände sind tief in den Manteltaschen vergraben. In Zeitlupe stürze ich und pralle auf die Erde. Dabei stoße ich mir den Kopf auf dem Kopfsteinpflaster. Welch schicksalhafte Fügung, denke ich, Kopf auf gleichnamiges Pflaster und kein selbiges zu Hand um die Wunde zu bedecken. Und ich bin nicht sicher, ob ich jetzt ohnmächtig werde. Das Gefühl entspricht ungefähr diesem Zustand, aber das kann auch trügen. Unsicher harre ich noch ein wenig aus, warte was passiert. Nichts. Ich entschließe mich, liegen zu bleiben und betrachte die Rillen zwischen den Pflastersteinen. Schwarze Erde und winzige braune Steinchen. Aus einer dieser Erdritzen, ganz dicht am Bordstein, direkt vor meinem Gesicht, wächst eine kleine Pflanze. Und wieder muss ich an Agathe denken. Erst schmunzelnd, weil mir diese Gedanken immer wieder absonderlich, geradezu befremdlich erscheinen, dann aber doch mit sorgenvoller Mine. Schließlich ist Februar. Und jetzt auch noch der Regen. Und sie steht nun schon Stunden auf dem Fensterbrett. Ich befreie meine Hände aus ihren Gefängnissen, stütze mich langsam auf. Wie ich nach Hause komme, weiß ich nicht. Ich laufe einfach. Irgendwann schuppst mich eine leichte Böe an, schiebt mich bis vor die Tür. Vielleicht nehme ich auch einfach nur die Straßenbahn. Ich weiß es wirklich nicht.

Jetzt stehe ich wieder neben Agathe am Fenster. Ich blicke hinaus auf die Straße. Die Sonne strahlt wieder und die Leute sitzen noch immer in den Straßencafés. Mir ist plötzlich unbehaglich. Ich friere. Mir ist kalt. Ich muss mich kurz schütteln und ein Schauer zieht mir über den Rücken. Dann Gänsehaut und ein erneuter Schauer. Dennoch bin ich dankbar für jede Gefühlsregung. Ich muss an Frau Bukowski denken. Und an ihren Hund. Und daran wie glücklich er mit dem Schwanz wedelte, als sie ihn auf den Arm nahm und über die Straße trug. Ach, ein langes Seufzen. Schwermütig schließe ich das Fenster. Dann sehe ich unbeholfen und ohnmächtig zu, wie Agathe drei Etagen tief auf den Fußweg stürzt und zerschellt. Was bleibt ist ein Häufchen Erde, ein paar gebrochene Zweige und manche Scherben. Wie das Leben manchmal so spielt. Ich wusste, dass Freundschaften zerbrechlich sind. Ich hatte es wohl nur mal eben kurz vergessen.

 

Van Cleef, Glückwunsch zu Deinem grandiosen Einstieg bei KG.
Finde, Du schreibst wirklich gut, und damit meine ich Inhalt und Ausdrucksweise.
Glücklicherweise hat mich Dein einleitender Zitathinweis doch nicht vom Lesen abgehalten - kenne weder Lassie Singers noch Sat1 Werbung - und dann habe ich ihn doch noch verstanden.
Einzig verwunderlich -oder vielleicht beängstigend - ist für mich die Wahl der Kategorie Seltsam, konnte beinahe sämtliche Gedanken und Gefühle des Erzählers so gut nachvollziehen, daß fast vollständige Identifikation möglich war - Seltsam? Hast wohl recht!
Gelungener Beitrag, weiter so!
Franki

 

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