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Wir Helden vom Karo 7

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07.08.2002
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Wir Helden vom Karo 7

Wir Helden vom "Karo 7"

Sind sie irgend jemandem noch nicht aufgefallen, diese hübschen Kneipen, die Aushängeschilder des deutschen Gaststättenverbandes?
Ich meine die kleinen gemütlichen Wirtshäuser der Marke „Bei Uschi und Klaus“ oder „Bierstation“, in denen auch die letzen Sauerstoffmoleküle mit Alkohol geschwängert sind.

Kaum 18 Jahre alt, war ich anerkannter Stammgast und stand ganz oben auf der Liste der gern gesehenen Gäste
Ich lernte recht schnell von den Helden des „Karo 7“.
Sie brachten mir bei ein Mann zu werden und vieles andere mehr.
Meine Komplexe nahm der Gerstensaft, Hemmungen wurden ertränkt und Befürchtungen dem Leben nicht mehr gewachsen zu sein verflüchtigten sich in den Veränderungen meiner Bewusstseinszustände.
Eine nette kleine Familie.

Vorhang auf! Für meine lieb gewonnenen Hauptdarsteller des "Karo 7": Verkrachte Existenzen, Spinner, Träumer, Maulhelden, alkoholkrank allesamt.

Ein Wirt, dessen bulliger Körper jedem Besucher Furcht einflössen konnte. Seine Launen bestimmten, wem er wohl gesonnen war, von seiner Gnade hing es ab, wer noch einen trinken durfte und wann er jemanden vor die Tür setzte. Er war Wortführer und Stimmungsmacher. Jeder achtete ihn.
"Rote-Socken-Bernd"(niemand hatte je erfahren, ob er ein oder zwanzig Paar rote Socken besaß) von der Werkstatt zur Tränke. Betrat er die Bühne, stellte ihm der Wirt eine Flasche Rum und ein Glas auf die Theke,... fertig. Bernd sprach nicht, lächelte in sein Glas und trank. Zwei Stunden später bezahlte er und ging. Irgendwann dann für immer.
„Weinbrand-Heike“ eine Frau deren Körper gar nicht mehr aufhörte, (allerdings auch mit einem Hirn, das gar nicht erst anfing) gab mir von Zeit zu Zeit das Gefühl von Geborgenheit und noch ein wenig mehr.
„Mineralwasser-Jürgen“ (trank nie Korn ohne Wasser) bestärkte mich in meinem Trinkverhalten, indem er mir vor Augen hielt, welch langweiliger Geselle ich doch sei, so nüchtern und fad.
“Rembrandt“, ehemaliger Kunstlehrer, der von irgendeiner Künstlerkolonie auf Bali träumte und immer wieder erwähnte uns jetzt endlich bald in einem Ölgemälde zu verewigen.
„Kuddel“, der am Tage darüber jammerte, daß er nur saufe, weil seine Frau ihm abgehauen wäre, dabei wusste jeder, daß es sich genau umgekehrt verhielt.
Inge und Heinz, unsere kleine Rotwein-Fraktion, schafften es von der Strasse wegzukommen, um in einer Ein-Zimmer-Wohnung (Bereitstellung vom Sozialamt) vor sich hin zu vegetieren. Was für ein grandioser Aufstieg!

Tja,… unter den Blinden ist der Einäugige der König.
Hier warb ich für meine Person, holte mir Anerkennung, kasperte mich durch den Tag und soff!

Ab und zu stolperte der „Philosoph“ besoffen über die Schwelle der Eingangstür und offenbarte seine Gedankengänge über die alltäglichen Dinge des Lebens. Irgendwann kam er nicht mehr.
Als er starb, waren alle recht froh, denn der Philosoph hatte die schlechte Angewohnheit seine eigene Trinkerei als Thema nicht zu tabuisieren und so kratzte er natürlich auch am positiven Selbstbild eines jeden anderen.
Ein schlechtes Gewissen wollte hier niemand haben.
Positive Selbstbilder halten sich recht lange, es galt nur jemanden zu finden, dem es noch schlechter ging, der noch verrissener aussah und noch tiefer gesunken war. Schon konnte man sich beruhigt nach unten hin vergleichen.

Für diese Vergleiche hielt Harry her.
Er lebte auf der Strasse. Wenn er nicht schlief, trank er. Ein entsetzlicher Gestank begleitete ihn, ein Gemisch aus Fäkalien und Alkohol.
Ich erinnere mich an Dreck und Schweiß, vergilbten Zähnen schuppigem Haar…..zum kotzen! Ekelig!
Manchmal traute er sich in die Kneipe.
Wenn „die Familie“ gut drauf war, der Pegel stimmte, dann wurde Harry verarscht.
Er hatte nie Geld und das wussten wir.
„Hey Harry! Trinkst einen mit?“
Harry kam angetippelt guckte einen mit seinen traurigen glasigen Augen unterwürfig an, immer in der Hoffnung einen Schnaps zu ergattern. Wir hielten ihm das Glas unter die Nase, grinsten frech und tranken es selbst. Gnade kannten wir selten. Jeder machte sein Spiel mit ihm, denn er war Abschaum, kein Mitglied der Gesellschaft, ein Alki eben.
Hatten ihn alle kräftig verarscht, schmiss der Wirt ihn raus!
Alle lachten. Ich lachte.

„Nein, so wollte ich nie werden“

Irgendwann tauschte ich Ausbildungsplatz gegen Barhocker ganz, verließ das gesunde soziale Umfeld, um sämtliche „Halbe-Liter-Rekorde“, zu brechen. Das Aufstellen neuer Bestmarken brachte mir so manches Schulterklopfen ein. Nun saß ich mittendrin, immer noch ein Kind, unter all den Erwachsenen, amüsierte mich darüber wie Männer sich küssten, über die Verbrüderungsszenen der schaukelnden Gäste, die sich am nächsten Tage nicht mehr aneinander erinnern könnten und biederte mich an, indem ich über die dämlichsten Witze als erster lachte.
Ich lachte viele Jahre.

In einem 32er-Skat-Blatt, gilt die Karo 7 als niedrigste Spielkarte, hatte den geringsten Wert. Mir fiel es nie auf, sogesehen trug meine Zufluchtsstätte diesen Namen zurecht.
Im Laufe der Zeit wechselte das Publikum. „Mineralwasser-Jürgen“ hatte seinen Verstand versoffen, "Rote-Socken-Bernd" raffte die Leberzirrhose dahin und Rembrandt´s Vernisagen fanden ihr Publikum in der Psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhaus Niedersachsen.
Kein Problem! Eine neue Generation reifte heran und so mancher Heranwachsende erkor „Karo 7“ als seine zukünftige Ausbildungsstätte.

15 Jahre später.

Der dreiunddreißigjährige junge Greis hielt sich am Tresen fest, sein Atem war schwer, seine Stimme zittrig. Vorbei die Zeiten, als der kleine Junge von nebenan jedermann mit seiner Anwesenheit erheiterte. Er warf dem Wirt einen ängstlichen, schuldbeladenen Blick zu. Derselbe Wirt, den Harry jahrelang hatte ertragen müssen, um das ein oder andere Glas zu erbetteln, schien beim Anblick dieses Exemplars der Gattung Mensch, selber einer zu werden.
„Tut mir leid, aber ich gebe Dir nichts“
„Eines bitte, ich gebe Dir morgen Geld, bitte, bitte!“
„Ich rufe einen Krankenwagen!“
„Hol einen Notarzt“ rief einer der Trinkenden.
Keiner der Gäste lachte, niemand grinste. Einige schauten verschämt beiseite.
Die traurige Gestalt hatte damals Recht behalten.
Harry wurde immer wieder verarscht, er schon lange nicht mehr!

 

Hallo Archetyp,

die ganze Geschichte ist im Prinzip nett erzählt, mit all ihren Flauten und Steigungen; nett eben in ihrer sonderbar ironisch - sarkastischen Art und Weise.
Die Moral ist gut formuliert und ebenso verständlich.

Die einzige Unklarheit basiert darauf, ob der Protagonist und der dreiunddreißigjährige junge Greis ein und die selbe Person sind. Falls es sich zum Schluss hin nur um einen Wechsel in der Erzählperspektive handelt - was ich in diesem Falle für legitim hielte - wirkt er auf Anhieb etwas irreführend und eine deutlichere Kennzeichnung der selben (oder doch unterschiedlichen?) Personen wäre vonnöten.


Gruß, Hendek

 

Hallo Archetyp,

mit viel Zynismus erzählst du hier den Werdegang eines Menschen, der irgendwann sich dorthin gesoffen hat, wo er nie sein wollte. Die Geschichte geht aber noch tiefer. Teilweise erschüttert hat mich die beinharte Aufarbeitung des Themas Alkohol. Der gesamte Text lädt zum Nachdenken ein und somit ist dieser für mich sehr gelungen. Der Schluss kann irreführend sein, aber ich denke, dass der Protagonist selbst der junge Greis ist.
Wirklich eine sehr beachtliche Aufarbeitung, vielleicht mit autobiographischem Hintergrund?

Sehr sehr gelungen.

Liebe Grüße - Aqualung

 

hallo Hendek, erst wollte ich mich hier nicht drauf melden, weil alles für sich spricht, aber so glasklar ist es wohl doch nicht. Du hast mich darauf aufmerksam gemacht, daß nicht ganz klar sein könnte, wer nun wer ist. Ich habe mit einem einfachen Satz versucht es klarzustellen. Danke, daß Du dich dieser story angenommen hast, Hendek

Aqualung, natürlich hattest Du recht.
Eine liebe Frau hat mir schon erzählt, daß es evtl. eine Spur zu hart sei, wie du verstehst, wird hier natürlich nichts abgeschwächt, außerdem hab ich das schon gemacht.

Du hattest auch in einem anderen Punkt recht.
Ich habe nicht mal eben locker auf "Beitrag erstellen"
gedrückt. Das war n kleiner Kampf.
Schönen dank Aqualung.

Archetyp

 

Hallo Arche,

ist fast so gut wie "Sie" und um einiges besser als "Trinkergedanken". Du erzählst das Leben in der Kneipe so genau, dass man meinen könnte, du bist nur noch pro Forma an der Uni eingeschrieben.

Der Erzähler ist derjenige der am Schluss dahinsiecht, oder? Dass die Perspektive plötzlich wechselt, verwirrt ein bisschen. Ansonsten: gut gemacht.

Jan

P.S.: Unglaublich wie viele Beiträge du schon hast! Wir haben doch hier fast gleichzeitig angefangen. Junkie!

 

Hallo, Archetyp!

Wirklich verdammt gut, wie du dieses Thema angepackt hast. Eine schonungslose Abrechnung mit einer Sucht, die ohnehin zu sehr verharmlost wird.
Auch ich kenne genügend Freunde und Verwandte, die an ihrer Abhängigkeit zugrunde gingen.

Liebe Grüße
Antonia

 

Hallo Archetyp,
genau solche Sprünge meine ich, du springst zwar hier nicht zwischen den Zeiten sondern mit der Zeit. Und schon ist sie da, die dritte Dimension.
Vorher war die Geschichte auch schon Klasse und die 15 Jahre später lassen sie brennen.
Harter Text, toll.
Liebe Grüße **********Merlinwolf**********

 

Vielen dank Peter, ich habe gelacht "Uni pro Forma"
nein, habe durch zufall vor 4 wochen angefangen, und kann nicht mehr aufhören, tja. leicht süchtig durchstrukturiert bin ich. Also nein uni mach ich weiter.
So...? du hast ne kleine Rangliste im Kopf von mir?
das ehrt mich. Weisst du warum "Trinkergedanken nicht so gut geworden ist?
Ich wette Du kommst drauf, außer der Tatsache, dass das meine 2. war!
es liegt mir viel dran, das diese story gelesen wird, vielmehr als alle anderen!!

Danke Antonia, schön, daß wir ähnlich denken, Bagatellisierung...ja du hast recht. Freu mich, daß es Dir nicht zu hart war, in Wiklichkeit ist es aber eh härter.

Merlinwolf, meine Story brennt? Hm super, tja das mit dem zeitenwechsel und dem perspektivwechsel das muss sein. Sag einmal warum finde ich denn nur 2 storys von dir. hab beide gelesen. mein favorit ist der "portugieser" aber hab ich ja schon vor 2 wochen geschrieben Dir (hey, was ist denn mit meinem satzbau los!!)

Also vielen Dank euch 3 bleibt dabei!!!

liebe grüsse Stefan

 

Hallo Archetyp,

daß klingt aber gar nicht mehr so witzig, wie die Satire.
Ist es wirklich so in diesen Kneipen?
Ich hoffe Du bist dort nicht mehr.
Ich habe diese Welt nie kennengelernt.
Aber Menschen, die sich so benehmen habe ich erlebt, ob die wohl alle aus dem Karo 7 kommen?

Ziska25

 

Hallo Archetyp
die Story brennt, weil Alkohol ja brennt, nein ernsthaft, das habe ich so geschrieben weil mir die Worte gefallen, sich das Thema "einbrennt" und man noch lange darüber nachdenkt.
Geschichten findest du Keine weil mir die Zeit fehlt, sie hier mühselig einzutippen (Kann man keine Dateien anhängen?????)
Liebe Grüsse, ich versuche meine Zeit besser zu teilen, dann gibt es noch mal ein paar Worte*******************Merlinwolf************

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Archetyp !

Die Lokalszenerie die du beschreibst fand ich nicht hart, sondern ich würde sie eher mit einem klar gewordenen Blick umschreiben, den du nochmal hinwirfst. Und das machst du wirklich gut, denn du versucht nicht zu beschönigen, aber auch nicht zu verdammen. Es ist fast wie eine Reportage.

Was mich sehr bedrückte war die Erkenntnis wie sich die Menschen in absteigender, oder zumindest den Umständen sich ergebender, Lebenslage immer noch einreden, ohnehin alles im Griff zu haben oder andere für sich verantwortlich machen zu können.

Auch die fast liebevoll gemeinten Spitznamen geben ihnen so etwas wie eine Bedeutung die sie sonst gar nicht mehr haben. Dass es auch eine Art Hierarchie gibt, um letztlich doch noch einen zu finden auf den man runtertreten kann, durch dessen Lächerlichmachen man sich noch einmal ein bisserl erhöhen kann - das tat fast weh.

Ich finde es ehrlich sehr schön, dass wir uns hier bei deinen Geschichten treffen und nicht in einem der vielen Karo7-Lokale.

Alles Gute und lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Hei Merlinwolf, schön, daß ich Dich irgendwie damit beeindrucken konnte. Nachdenken soll man auch, noch mehr sollend die nachdenken, die im Karo 7 sitzen, aber wie gesagt, die sitzen dort. Einige sind da noch immer, war das letzte mal vor 1,5 Jahren da auf´n Kaffee. Sind aber noch weniger geworden. "Traurige Realität"

P.s ich schreibe die mal in einer privatmail wie du schnell geschichten erstellen kannst

Liebe Schneeule, du hast den Text ganz wunderbar verstanden, das schreibst du mir mit jedem Wort, daß du schreibst. Es freut mich, daß Du Dich darauf gemeldet hast.
Ja, es ist die Wahrheit. Wenn nichts mehr geht, kein Schuldiger mehr zu finden ist, dann fällt einem ein, daß man selbst verantwortlich ist. Würde es einem vorhereinfallen, lässt sich schlecht ohne Dissonanzen, also Gewissenskonflikte saufen.
Nochmal Schee.eule, du hast es auf den Punkt gebracht mit Deiner Kritik, genau das was du schriebst, wollte ich und habe ich ja auch anscheinend gesagt. Das stimmt mich froh.
Hätten wir uns im Karo 7 getroffen,...huuiiiiii ich glaube ich würde mich Dir jetzt aus Scham nicht zu erkennen geben. Ist aber anders, deswegen

Lieben Gruß bis zur nächsten Geschichte, entweder Deine oder meine oder beide.

Archetyp

 

Hi Archetyp!

Eine mich mitnehmende Geschichte, weil sie doch so realistisch ist... ;)
Die Stimmung unter den Stammgästen in solchen Kneipen geht sehr gut aus ihr hervor, die Qualität der Freundschaften, die Perspektivlosigkeit. Und vor allem auch die Ehrlichkeit finde ich beeindruckend!

Du schreibst, Du hast Dir nicht leicht getan beim Posten - ich hoffe aber für Dich, daß Dir diese Aufarbeitung hilft. Ein Tip: Schick es ganz bewußt von Dir weg, wenn Du sowas postest. Gewinn mit jedem Absenden solcher Geschichten Abstand und spüre, wie jede auch nur ein bisschen mitfühlende Antwort einen Teil der Last wegnimmt - es wird immer leichter.

Alles liebe
Susi

 

Hallo Häferl, schönen Dank, daß du dich ihrer (story)
angenommen hast.
Mit nicht "einfach zu posten" meinte ich auch noch, "ob das wohl noch irgend jemanden interessiert"
Ausserdem ist sie ja nicht grad weich geschrieben, dazu an vielen stellen zynisch.

Hätte ja auch so aussehen können, als ob ich das ganze nicht ernst nehme, nun....was soll´s sie ist ja drin.

Liebe Grüße Stefan

 

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