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Wir haben doch nur uns
Neonröhren sind als Leuchtmittel gänzlich ungeeignet. Dennoch strahlen sie mich an mit diesem leichten Flackern, das eigentlich gar kein Flackern ist, sondern die normale Funktionsweise dieser Scheißdinger, die immer ein bisschen flackernd wirken, auch wenn alles in Ordnung ist. Ich schaue an die Decke und ärgere mich. An einem solchen Ort sollte das Licht Wärme oder Leben ausstrahlen, wenigstens eins davon, und nicht dieses lebensverneinende Grellweiß. Der Boden des Flurs besteht aus gräulichem Linoleum, das sich in gleich großen Quadraten mal längs, mal quer von Wand zu Wand hangelt. Die Neonröhren hinterlassen ein grässlich dumpfes Schimmern. Jemand läuft von einer Tür zur anderen, ein Quietschen durchbricht die Stille. Aus einer anderen kommt eine Frau im weißen Kittel und wirkt irgendwie geschäftig.
– Entschuldigung, ich suche …
– Was?
– Oh. Entschuldigung. Ich suche meine Tante, Hann …
– Name?
– … elore. Hannelore.
– Und weiter?
Ich zögere.
– Das … weiß ich leider nicht.
– Wie, das weißt du nicht? Willst du mich verarschen?
– Nein. Liegt bei Ihnen eine Hannelore?
– Kann schon sein, aber wir sortieren die nach Nachnamen.
– … sortieren? Wie meinen Sie das?
– Legen. Wir legen die Leute nach Nachnamen geordnet in die Zimmer, damit man sie besser findet.
Ich nicke. Damit habe ich nicht gerechnet, und scheinbar ist es der Frau ein zu großer Aufwand, mal eben im System nachzuschauen. Da findet man doch sonst immer die Antworten auf die brennendsten Fragen: im System.
– Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich einfach nachsehe?
– Du darfst nicht in die Zimmer. Also nur, wenn du mit jemandem verwandt bist. In dem Zimmer.
– Aber woher soll ich wissen, wo meine Tante liegt?
Sie starrt mich wütend an und atmet kraftvoll aus, wobei sich ein Spucketropfen bildet, der lautlos auf dem Linoleum landet und nun auch von oben angestrahlt wird. Wahrscheinlich verdunstet er schnell. Sie scheint fertig abgewogen zu haben.
– Dann schaue ich halt im System nach.
Geht doch.
– Geht doch.
– Was?
– Danke. Danke habe ich gesagt.
– Ach so. Ja, hm.
Sie trottet los, gefangen zwischen Quadraten, Röhren und gelblich weißer Raufaser. Ich gehe ihr zögerlich hinterher. Unvermittelt bleibt sie stehen.
– Wieso kennst du den Nachnamen deiner Tante nicht?
– Wir kannten uns nicht gut. Also doch, aber irgendwann nicht mehr. Sie hat oft geheiratet. Ganz am Anfang habe ich noch bei ihr gelebt, also am Anfang meines Lebens, kurz nach der Geburt. Aber dann irgendwann nicht mehr und …
– Ja, ja, ist ja gut. Zu viel Information. Wie hieß sie denn damals? Es gibt ja Leute, die … die nehmen irgendwann ihren alten Namen wieder an.
– Pilz. Hannelore Pilz, so hieß sie mal.
– Oh. Ja, gut, den Namen wird sie wohl nicht freiwillig angenommen haben. Wer heißt denn schon Pilz?
– Na, meine Oma. Und meine Mutter. Die hießen beide so. Ich auch, aber meine Tante wahrscheinlich nicht mehr.
– Oh. Na ja, ich schaue mal im System nach.
Sie geht um einen weißen Tresen herum und setzt sich an den Schreibtisch, ich bleibe vor dem Tresen stehen.
– Du kannst die Mütze ruhig abnehmen, hier ist es ziemlich warm.
Ich greife an meinen Kopf. Dann nicke ich und ziehe sie behutsam ab.
– Herrgott, du blutest ja unter deinem Haar.
– Ja. Sehen Sie meine Tante im System?
– Ach so. Ja. Hildegard hast du gesagt?
– Ja, äh, nein, Hannelore.
– Hannelore.
Sie murmelt den Namen noch einige Male und klickt mit der Maus umher. Ein Mann in einem weißen Overall läuft hallenden Schrittes den Gang entlang, bleibt kurz stehen, nickt in meine Richtung und biegt dann in ein Zimmer ein. Irgendetwas piept leise.
– Peter?
Ich zucke zusammen, es bleibt für einige Sekunden still. Die Frau räuspert sich.
– Hannelore Peter? Kann das sein? Gottverdammt, du musst mir schon helfen.
– Ich weiß nicht, wie sie heißt. Wie viele Hannelores gibt es hier?
– Eine.
– Dann ja. Welches Zimmer?
Die Frau deutet auf die Tür direkt gegenüber.
Ich nicke, ziehe meine Mütze wieder auf und bewege mich in Richtung Tür. Hinter mir räuspert sich die Frau wieder, sie muss sich verschluckt haben. Ich bleibe stehen und drehe mich um.
– Danke.
– Ach, super gerne.
Sie lacht künstlich und setzt schlagartig wieder ihre ernste Miene auf. Ich öffne die Tür und sehe den Mann im weißen Overall und drei andere, ähnlich gekleidete Personen, in einem Halbkreis um ein Bett herum stehen. Einer ist über das Bett gebeugt und drückt im gleichen Rhythmus etwas auf die Person im Bett.
– Noch zehn!
Einer scheint das Kommando übernommen zu haben und schaut zu, während die anderen Dinge tun. Der Boden ist in diesem Zimmer ein anderer, an der Decke hängt jedoch auch eine Neonröhre, zwei sogar. Der Stuhl, der neben dem Bett steht, ist rot und passt nicht zur restlichen Einrichtung.
– Drei … zwei … eins … und absetzen. Todeszeitpunkt: Einundzwanzig Uhr Vierunddreißig. Wir … oh.
Der, der spricht, dreht sich zu mir um und verstummt. Einige Sekunden vergehen.
– Hallo.
– Hallo.
– Was machst du denn hier?
– Ich besuche meine Tante.
– Wie heißt deine Tante?
– Hannelore.
– Und weiter?
– Ist sie tot?
– … ja. Das tut mir sehr leid.
– Darf ich sie sehen?
– Gerade eher nicht.
– Bitte, ich muss … ich muss sie sehen. Ich ziehe zu ihr, in ihre Wohnung, ich will sie wenigstens vorher fragen, ob das in Ordnung ist.
– Hör zu … du kannst sie jetzt nicht fragen. Sie ist im Himmel.
– Aber ich sehe sie doch. Sie heißt Hannelore, die Frau, die da liegt, richtig?
Meine Stimme bricht allmählich.
– Der Datenschutz … es …
Einer der anderen schaltet sich ein.
– Geh zum Schalter zur lieben Frau Ottensen, die wird sich um dich kümmern. Wir kommen dann auch gleich raus und dann sehen wir weiter.
– Ich … ich … muss doch zu meiner … zu meiner Tante ziehen. Mama hat gesagt, wenn sie mal … wenn sie mal nicht mehr ist, soll ich zu Tante Hannelore gehen, sie kümmert sich … ich … bitte, ich kann nicht zurück zu … nein, bitte, sehen Sie doch …
Tränen rollen meine Wangen hinab und fallen auf den Boden, den anderen Boden, es werden immer mehr. Vielleicht verdunsten sie auch irgendwann. Der, der zuletzt geredet hat, kommt auf mich zu und fasst meine Schulter an. Ich zucke zusammen, drehe mich um und renne durch die offene Tür in den Flur hinaus. Vorbei an Frau Ottensen und ihrem Tresen, vorbei an den geschlossenen Türen und der ohrenbetäubenden Stille. Plötzlich höre ich eine tiefe Männerstimme von hinten.
– Juliane … du wirst doch nicht etwa abhauen?
Ich erstarre. Frau Ottensen ist hinterhergeeilt.
– Kennen Sie das Mädchen?
Der Mann lacht in sich hinein.
– Aber natürlich kenne ich meine Tochter.
Ich stehe noch immer regungslos da. Dann höre ich schwere Schritte auf dem Linoleum, bis ich wieder den leicht abgestandenen Atem in meinem Nacken spüre. Ich will losrennen, doch mein Vater greift blitzschnell nach meiner Kapuze und ich falle rücklings auf den Boden. Röchelnd versuche ich, mich aufzurichten. Seine Hand presst mich am Hals auf den Boden, das Neonlicht blendet.
– Du gehst nirgendwohin, Kleines.
Seine Augen glühen fast, als er mich breit grinsend anstarrt.
– Wir haben doch nur noch uns. Das willst du doch nicht zerstören?