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Wir hätten da was in Kiefer
„Welch ein Unglück, nein, welch ein Unglück“, schluchzte das zusammengekrümmte Häufchen Elend mit tränenerstickter Stimme und roten, verquollenen Augen.
„Mein armer, armer Friedrich. Ach Gott, welch ein Unglück!“
Obermeier musste krampfhaft ein Gähnen unterdrücken, während er nur mit halbem Ohr zuhörte. Der Schweinebraten mit Klößen lag ihm noch schwer im Magen und die zwei, drei Gläschen Cognac danach trugen auch nicht gerade zu seiner Aufmerksamkeit bei.
Er kratzte sich verstohlen im Schritt und warf dann einen unauffälligen Blick auf seine goldene Armbanduhr. Seit fast zehn Minuten heulte ihm dieses Mauerblümchen jetzt schon ihr Unglück vor.
Der Anblick seiner neuen Uhr munterte Obermeier jedoch ein bisschen auf. Reines, schweres Gold. Perlmutzifferblatt. Armband aus herrlichem Leder. Handarbeit von Mandelbaum& Söhne. Wundervolles Stück. Er hatte die Uhr von einem pickelgesichtigen amerikanischen Offizier gegen die Adressen von zwei sehr jungen, sehr unglücklichen und vor allem sehr hungrigen Witwen getauscht. Der Ami seinerseits hatte die Uhr einem deutschen Offizier abgenommen und ihm dafür zwar keine Adressen gefälliger Witwen gegeben, ihn jedoch immerhin am Leben gelassen. Und der deutsche Offizier wiederum hatte die Uhr aus einem eingeschlagenen Schaufenster von Julius Mandelbaums Juwelierladen mitgenommen. So hatte jeder der Vorbesitzer am Ende was für die Uhr bekommen. Außer Mandelbaum und seine Söhne natürlich, aber die waren ohnehin nur Juden und hatten zu dem Zeitpunkt mit Sicherheit andere Sorgen gehabt. Oder schon überhaupt keine Sorgen mehr, dachte Obermeier mit dem Anflug eines zynischen Grinsens.
Sei’s drum, die Zeiten waren hart und jeder musste sehen, wo er blieb. Von nichts kam schließlich kein Schweinebraten auf den Tisch – schon gar nicht in einer Zeit, wo man ein Schwein buchstäblich mit Gold aufwiegen konnte. Oder mit einer auf einen Zettel hingekritzelten Adresse. Er hatte in seiner Kartei eigens für junge hübsche Witwen ein Fach angelegt. Für Corned Beef, Zigaretten und Seidenstrümpfe konnte man sich da schon einen ganz vergnüglichen Abend machen.
Obermeier ließ seine Gedanken in die Ferne schweifen, um sich von der weinerlichen, brüchigen Stimme der Frau vor seinem Mahagonischreibtisch abzulenken. Irgendwann kam er zu seinem Lieblingsthema. Profit. Reichtum. Geld. Sein Geschäftssinn hatte ihm nicht nur die Uhr beschert. Er hatte ihn zum richtigen Zeitpunkt in die richtige Partei eintreten lassen und dafür gesorgt, dass er genug einflussreich, aber dabei nicht zu bekannt wurde. Der gleiche Riecher ließ Obermeier die richtigen Ärsche küssen, die richtigen Leuten denunzieren und bewahrte ihn vor den eisigen Steppen der Ostfront, dem brennenden Himmel über England oder einem nassen Grab im Atlantik. Und während der kollektive Größenwahn im Gebrüll der Bomben ein Ende fand und vielen seiner Gönner und Partner nur noch Selbstmord oder ein alliierter Strick blühte, gab ihm sein untrüglicher Geschäftssinn die Weitsicht, rechtzeitig mit genug Wertsachen und neuen Papieren in einer neuen Stadt ein neues Leben anzufangen, ohne sich dafür gleich bis nach Südamerika absetzen zu müssen.
Er konnte zu jeder Zeit und an jedem Ort aus buchstäblich Allem einen Gewinn schlagen – aus Allem. Es brauchte dafür nur viel Phantasie und wenig Skrupel. Und Reinhard Obermeier hatte die richtige Mischung von beidem –überreichlich und gar nichts.
„….und als mein Friedrich dann aus der Gefangenschaft kam, da glaubten wir an ein Wunder. Seine beiden Brüder waren ja schon in Russland und Afrika geblieben. Und dann….so plötzlich…..sein Herz……er war doch erst 42. Ach Gott, welch ein Unglück.“
Herrgott, war die Frau immer noch nicht fertig?! Träge musterte Obermeier sie mit abschätzendem Blick. Nein, die war nichts für seine Sonderkartei! Es wurde Zeit, das ganze Theater abzukürzen. „Time is money“ – wie seine neuen englischen und amerikanischen Geschäftsfreunde immer zu sagen pflegten.
„Frau Adelmeier, ich bedauere sehr..“
„Adelmann.“ Obermeier stutzte und sah von seinen Papieren auf.
„Häh?“
„Adelmann. Ich heiße Adelmann, nicht Adelmeier“, sagte die Frau kleinlaut und fast entschuldigend, während sie sich die laufende Nase putzte.
„Na schön, dann von mir aus Adelmann“, murmelte Obermeier verächtlich, wobei es ihm herzlich egal war, dass sie ihn hören konnte. Ob nun Adelmann oder Adelmeier- so oder so war sie zu arm, um übermäßige Höflichkeiten zu verdienen.
„Ich fürchte, ihre Ersparnisse werden für Eiche nicht ausreichen, Frau Adelmann. Eine Ausführung in Eiche wird selbst in der schlichtesten Verarbeitung rund 500 Mark kosten. Und die Garnitur, Floristik und der Grabstein sind dabei noch nicht mal mit eingerechnet.“
Obermeier kannte das Geschäft gut genug um zu wissen, dass die Hinterbliebenen bei solchen Worten in den meisten Fällen entweder in Empörung oder Tränen ausbrachen. Auf beides hatte er jetzt keine Lust.
„Wir hätten da was in Kiefer. Sehr schön verarbeitet, ausgesprochen würdevoll und bei Weitem…dem traurigen Anlass entsprechend sehr angemessen.“ Obermeier vermied bewusst Begriffe wie „Teuer“, „Günstig“ und „Preiswert“. Jeder dachte in Zahlen, nur hören wollte es keiner. Und als er sah, wie die trauernde Witwe anfing zu überlegen, zog er noch einen kleinen Trumpf aus dem Ärmel seines maßgeschneiderten schwarzen Anzugs aus reiner englischer Schurwolle.
„Und da ihr Mann tapfer für unser Vaterland gekämpft hat und schließlich ja auch bis vor Kurzem in Kriegsgefangenschaft war, ist es das Mindeste, dass mein Unternehmen die Kosten für die Gravur des Grabsteins übernimmt.“ Mehr als der Nachnamen und das Geburts- und Todesjahr wird’s allerdings auch nicht werden, dachte Obermeier zufrieden. Mit der Gravurmasche kriegte er meistens dann auch die Unentschlossenen rum. Und die ganz und gar renitenten Fälle bekamen im Höchstfall noch einen Blumenkranz mit verwelkten Lilien aus Obermeier raus, aber bei der Adelmann war das zum Glück nicht nötig. Die war emotional zu sehr am Boden um zu feilschen, wie Obermeier mit Kennerblick feststellte.
Mit einem mitfühlenden Lächeln, das jedem Außenstehenden eher wie das Grinsen eines Haifischs vorgekommen wäre, schob er ihr ein paar Papiere und einen Füllfederhalter zu.
Rademacher rauchte seine Lucky Strike so weit herunter, dass er die Glut schon auf seinen Lippen fühlen konnte. Erst, als er fast schon den Geruch von seinem verbrannten Fleisch in der Nase hatte, warf er den winzigen Stummel in die Dunkelheit. Wie ein Glühwürmchen zog die Zigarette ihre Bahn und landete auf dem erdigen Lehmboden. Normalerweise hätte er die Zigarette in der Hocke geraucht und die Glut mit der Hand abgedeckt. Er hatte zu viele Idioten gekannt, die ihre Sucht und Unvorsichtigkeit mit einem Kopfschuss bezahlt hatten. Eine brennende Kippe sah man bei Nacht hundert Meter weit. Einfach die Glut ins Visier nehmen, einen knappen Zentimeter drüberhalten und die Kugel landet genau zwischen den Augen. Ende aus. Das hatte er genauso gemacht. Einmal, in Charkow, war das eine Sauerei gewesen, da hatte er den Ivan nicht richtig erwischt, Menschenskinder hatte der geschrieen, bis dann endlich……
Gewaltsam holte Rademacher sich in die Gegenwart zurück. Es reichte, wenn ihn seine Erinnerungen nicht in Ruhe schlafen ließen. Da wollte er nicht auch noch daran denken, wenn er wach war. Er zündete sich eine neue Zigarette an und spülte den Tabakrauch mit einem kräftigen Schluck öligen Kartoffelschnapses runter.
Wann kam der Kerl denn endlich?
Inzwischen war ein bleicher, gleichgültiger Mond aufgegangen, der wie ein riesiger Totenkopf auf Rademacher heruntergrinste. Fehlten nur noch die Ratten, die sich durch die blicklosen Augen in das Innere des Schädels fraßen, um an das Gehirn zu kommen. Was für Rademacher Sauerbraten mit Stampfkartoffeln war, das war für Ratten wohl Hirn von toten Soldaten. Oder Frauen, Kindern, Greisen und Krüppeln. Ratten waren da nicht besonders wählerisch, was ihre Lieblingsspeise betraf. Es schien sie auch nicht zu stören, wenn das Hirn schon hartgefroren war im russischen Winter. Oder noch nicht ganz tot. Wenn noch ein schwach zuckender und leise stöhnender Mensch an dem Hirn hing. Diese aggressiven, bösartig zischenden Biester, die man in den schlammigen, staubigen oder eisigen Gräben überall fand. Mit ihrem schwarzbraunen Fell sahen sie aus wie Miniaturausgaben der russischen Soldaten in ihren braunen Uniformen. Russenratten. Rattenrussen.
Rademacher klemmte sich mit einer fahrigen Bewegung die Lucky zwischen die Lippen, um mit zitternden spindeldürren Fingern eine neue Zigarette aus der Schachtel zu fummeln. Als er sie an die Lippen führen wollte bemerkte er, dass er schon eine brennende Kippe im Mund hatte.
Er schloss seine Augen und zählte langsam und konzentriert von Zehn runter auf Eins. Das hatte ihm immer geholfen, sich zu beruhigen. Wenn man eine Granate heranorgeln hörte und nach einer Ewigkeit bei Eins angekommen war, so hatte man dieses Mal Glück gehabt. Dann hatten die Splitter, der Druck und die Explosionswucht einen anderen in Fetzen gerissen. Und man konnte zumindest bis zur nächsten Granate sein Gehirn behalten. Mit dem nächsten hohen, kreischenden Pffffttttt fing das Spiel allerdings von neuem an.
Aus der Dunkelheit schälten sich zwei trübe gelbe Lichter. Gleichzeitig hörte Rademacher das asthmatische Röcheln eines altersschwachen Fahrzeugs, das sich den schmalen Weg bis zu der Baumreihe quälte, wo Rademacher wartete. Mit einem letzten Seufzen erstarb der Motor und eine quietschende Tür wurde aufgestoßen.
Rademacher stieß sich von dem Baum ab, an dem er gelehnt hatte und ging auf das Fahrzeug zu. Er konnte die nur allzu vertraute Silhouette eines Opel „Blitz“ Lastwagens erkennen. Wie viele tausend Kilometer war er auf den Rücken dieser Blitze durch Europa und Asien gefahren?
„Du kommst spät, Obermeier.“
Die gedrungene Gestalt stieß ein Grunzen aus und ging zur Ladefläche des Opels.
„Hatte noch was zu erledigen. Ich konnte ein paar Fässer Benzin organisieren.“ Obermeier drehte sich in der Dunkelheit zu Rademacher um und lachte leise und spöttisch.
„Schlimm? Verpasst Du meinetwegen jetzt vielleicht ein Konzert?“
„Ich hab jedenfalls Besseres zu tun als hier rum zustehen. Außerdem hab ich keinen Passierschein vom englischen Sektorkommandeur so wie Du. Keine Lust, nach der Ausgangssperre verhaftet zu werden.“
„Ja ja, mir kommen die Tränen. Dann hast Du ja einen Grund mehr, dass wir uns beeilen. Los jetzt.“ Obermeier wollte sich umdrehen, als Rademacher ihn recht unsanft am Ärmel festhielt.
„Hast Du nicht was vergessen? Na?“
Sichtlich genervt zog Obermeier ein Bündel Geldscheine aus der Tasche und reichte sie ihm herüber.
„Du hättest es schon gekriegt, keine Sorge. Kannst von mir aus gerne nachzählen. 120 amerikanische Dollar.“
„Moment mal, Obermeier. Wieso nur 120? Wir hatten 150 vereinbart.“
„Die Unkosten sind nun mal gestiegen. Und der Sprit wird auch nicht billiger. Können wir dann jetzt endlich anfangen? Ich habe nämlich auch nicht die ganze Nacht Zeit.“
Damit machte Obermeier sich nicht weniger grob los und kletterte auf die Ladefläche. Unter einer Zeltplane holte er zwei Schaufeln hervor.
„Vorsichtig, verdammt noch mal. Du gräbst hier kein Schützenloch!“ Obermeier spuckte wütend auf den Boden.
Rademacher antwortete ihm zwar nicht, schlug aber dennoch den nächsten Spatenstich etwas sanfter in das Erdreich. Beide standen mittlerweile etwa bis zu den Schultern in einer Grube. Links und rechts von ihnen türmte sich der dunkle Erdauswurf wie eine Mauer hoch. Es roch nach sattem, frischem Torf und Mutterboden. Die Erde auf ihren Schaufeln war im Mondlicht schwarz und amorph wie ein fest gewordenes Stück Schatten. Lediglich eine kleine Öllampe spendete etwas flackernde, irrlichternde Helligkeit. Gerade genug, um schwache Umrisse in unmittelbarer Nähe erkennen zu können.
Obermeier hatte trotz der klammen Kälte der Nacht seine grobe Kordjacke ausgezogen und die Ärmel seines Arbeitshemds hochgekrempelt. Sein Gesicht glänzte im schwachen Licht der Ölfunzel unter dem Dreck- und Schweißfilm und sein Atem ging ebenso röchelnd und stockend wie der alterschwache Motor seines Opels.
Rademacher hatte eine Lucky im Mundwinkel und buddelte mechanisch weiter. Er unterbrach seine Schippbewegungen nur, um sich an den Resten seiner alten Zigarette eine neue anzuzünden.
„Lass mich raten. Du wirst Dein ganzes Geld für Glimmstengel ausgeben, richtig?“ Obermeier rauchte gerne ab und an Zigarren, besonders in Gesellschaft eines guten Weinbrands oder Cognacs. Aus Zigaretten hatte er sich nie viel gemacht. Wenn man natürlich davon absah, dass er sie abgöttisch wegen des Geldes liebte, das er mit ihnen verdiente.
„Meine Sache, was ich mit meinem Zaster mache“, brummte Rademacher grimmig. Für ihn bedeutete das Geld endlich mal wieder ein bisschen Fleisch auf dem Teller und nicht nur Steckrüben. Und guten Schnaps, der ihm beim Einschlafen half. Und nach dem Aufwachen die Träume vertreiben konnte. Aber das alles brauchte das feiste geldgierige Schwein nicht zu kümmern.
Obermeier seinerseits war es ohnehin mehr als egal, was dieser komische Kauz mit den paar Kröten anstellte. Es war bedauerlich genug, dass er sich für diese Arbeit einen Helfer hatte suchen müssen. Aber die Möglichkeit hatte sich einfach als viel zu profitabel erwiesen, um sie nicht zu nutzen. Und alleine konnte er sie beim besten Willen nicht bewältigen. Und so hatte Obermeier sich schweren Herzens zur Investition in einen Mitarbeiter entschließen müssen. Es hatte ein bisschen Zeit und etliche wässerige Biere in zwielichtigen Spelunken und Kaschemmen gedauert, aber schließlich hatte er in Rademacher den perfekten Kandidaten gefunden. Er hatte zwei große Charaktervorzüge, die Obermeier interessierten. Rademacher war verschwiegen und ihm war es egal, was sie da taten, denn er hatte nicht gefragt. So, wie ihm ohnehin scheinbar alles egal war. Einmal hatte er Andeutungen gemacht, über den Krieg. Natürlich über den Krieg, worüber denn sonst? Wieder so ein verweichlichter Waschlappen, der beim kleinsten bisschen Remmidemmi den Schwanz einzog. Obermeier schniefte verächtlich. Er hatte bei den Kameradschaftsabenden und Gauleitertreffen damals in München nie verstanden, worüber sich die Jungens an der Front eigentlich immer so beklagt hatten. Natürlich waren da die Kämpfe, über die alle immer so rumjammerten. Aber so schlimm konnte es ja auch wieder nicht sein. Und die ganzen Geschichten über Hunger, Kälte, Winter, Krankheit und Tod waren ohnedies alle maßlos übertrieben. Mussten sie sein. Kein Mensch hatte den ganzen Miesmachern ihre Gruselmärchen von Stalingrad geglaubt. Das waren alles bloß Gerüchte, ersonnen von Feiglingen, die ihre eigene Angst kaschieren wollten. Genauso wie dieser Depp Rademacher. Wahrscheinlich hatte er den ganzen Krieg in einem Depot für Wollsocken in Oberammergau verbracht.
„Ich hab da was. Ich glaube, wir haben’s“, Rademachers Stimme schreckte Obermeier aus seinen Gedanken.
„Bist Du sicher? Könnte auch bloß ein Stein sein.“
„Nein, ich bin sicher!“
„Gut, dann sei aber vorsichtig. Verkratz mir gefälligst nichts. Ich müsste Dir Schäden ja eigentlich von Deinem Lohn abziehen.“, nörgelte Obermeier.
„Kannst Dir ja einen anderen Spießgesellen für Deinen kleinen Nachtausflug suchen, Du Hanswurst.“
Obermeier wollte schon zu einer heftigen Antwort ansetzen, verbiss sie sich dann aber wieder. Er brauchte Rademacher zumindest in diesem Moment. Der Idiot wäre glatt in der Lage gewesen, ihn hier mitten in der Nacht stehen zu lassen. Sein Geld hatte er ja leider schon bekommen. Über kurz oder lang konnte es aber nicht schaden, sich ruhig nach einem Ersatz umzutun. Für 120 Dollar würde er schon einen anderen verschwiegenen Helfer anheuern können. Und wer weiß, vielleicht sollte er den Lohn direkt auf 100 Dollar reduzieren. Oder besser 80 Dollar plus eine Stange Zigaretten. Verdammt, wenn er doch bloß eher bemerkt hätte, wie viel Rademacher verqualmt. Dann hätte er andere Preise ausgehandelt.
Obermeier leckte sich gierig die Lippen, während er Rademacher zusah, wie dieser vorsichtig die frische Erde wegschaufelte und dann mit den Händen über den Boden wühlte. Schließlich kam ein heller Holzdeckel zum Vorschein.
„Da hast Du’s. Hab ich doch gesagt.“, brummte Rademacher.
„Sehr schön, sehr schön“, murmelte Obermeier abwesend, während er die Öllampe langsam über dem Deckel hin- und herschwenkte und das Holz mit seiner anderen Hand abtastete. Schließlich richtete er sich grinsend auf.
„Gut. Sehr gut. Das ist gute Qualität. Manchmal bricht der Deckel unter dem Gewicht der Erde ein oder kriegt Risse, aber der hier ist immer noch tiptop in Schuss, wie’s scheint.“
„Wie es aussieht ist das Ding ja auch erst vor ein paar Stunden unter die Erde gekommen.“
„Der Boden ist zum Glück noch nicht zu feucht um diese Jahreszeit. Los, weiter“
Gemeinsam legten sie die Kiste frei. An den Rändern erschienen erdverkrustete Handgriffe, als sie die Seiten freischaufelten. Nach wenigen Minuten waren sie fertig.
Rademacher lehnte sich mit einem Schnauben an die Grubenwand, stellte lässig einen Fuß auf die Kiste und sah Obermeier ausdruckslos an, während er rauchte.
„Was ist das eigentlich hier für ne Sache? Schmuggelst Du?“
Obermeier sah ihn überrascht an. Rademacher schien an Plaudereien eigentlich nicht besonders interessiert gewesen zu sein.
„Wieso interessiert Dich das denn auf einmal?“, fragte er lauernd.
„Bin bloß neugierig.“
„Sei besser nicht zu neugierig. Aber um Deine Frage ausnahmsweise Mal zu beantworten: es liegt doch auf der Hand, nicht wahr?“ Obermeier deutete auf die Kiste.
„Weißt Du, wie viel so ein normaler Sarg wert ist? Das Holz, die Verarbeitung, die Lackierung. Man muss ihn dicht verfugen, das Innere mit Füllmaterial auskleiden. Die Garnitur ist maßgeschneidert, alle Seiten, der Deckel, die Kopf und Fußteile. Dann noch je nach Wunsch des Kunden Einlegearbeiten, Gravuren, gedrechselte Verzierungen, Metallgriffe aus Messing. Alles vom Feinsten.“ Obermeier pfiff leise durch die Zähne. Vor seinem inneren Auge sah er Kassenbücher, Einkaufslisten, Rechnungen, Quittungen.
„Und jeder einzelne ist ein kleines Kunstwerk. Selbst die ganz einfach gezimmerten Modelle – Du kannst die Leichen ja schließlich nicht in einer Bananenkiste beerdigen. Selbst wenn’s denen scheißegal ist.“ Obermeier würde keine Sekunde zögern, eine Leiche in einer Bananenkiste zu beerdigen, wenn es profitabel genug wäre. Er wusste das, und Rademacher konnte es sich denken.
„Da ist es doch eine wirklich furchtbare Verschwendung, so ein schönes Stück nur ein einziges Mal zu benutzen und dann anschließend in der Erde einfach verrotten zu lassen. Findest Du nicht? Deshalb halt ich auch nichts von Heirat. Geldverschwendung, einen Haufen Geld für ein sündhaft teures Brautkleid auszugeben, was die Frau dann nur ein Mal trägt, oder?“ Obermeier musste über den Vergleich grinsen. Ein Teil seines Gehirns speicherte gleichzeitig die Idee für einen Brautkleidverleih. Oder vielleicht könnte er gebrauchte Brautkleider aufkaufen und umnähen lassen. Witwen gab es im Land ja jetzt genug, also auch eine Menge potentieller Neukunden für Brautkleider. Man musste halt in allem seinen Vorteil sehen, auch in einem Krieg. Egal ob gewonnen oder verloren. Eigentlich war ein verlorener Krieg sogar noch besser – je größer die Not, desto mehr Geld war zu machen. Obermeiers Verstand lief zu Höchstformen auf.
„Weißt Du was, Rademacher, dass ist überhaupt die Idee!“ Das breite Grinsen wurde fast vom geldgierigen Glitzern in seinen Augen überstrahlt. Sogar im trüben Schein der Öllaterne konnte man seinen verschlagenen Gesichtsausdruck im Halbdunkel so gut sehen, als würde er von einem Suchscheinwerfer angestrahlt werden.
„Die Klamotten. Mensch, dass ich da nicht von Anfang an drauf gekommen bin. Zuerst wollte ich die Scheißleichen einfach nur aus den Särgen werfen. Aber manche haben von ihren Angehörigen richtig schöne Sachen angezogen gekriegt. Die werden in ihrem piekfeinsten Sonntagsstaat verbuddelt. Die kann man doch noch verhökern. Oder ich biete sie meinen Kunden als Paketangebot an. Sarg und feine Beerdigungskleidung inklusive zum Sonderpreis.“ Obermeier kicherte albern. Speicheltropfen spritzen aus seinem Mund und hinterließen kleine helle Punkte auf dem staubigen Sargdeckel. Er war jetzt so in Fahrt, dass er weder den angewiderten Zug um Rademachers Mund bemerkte noch den starren, kalten Blick, mit dem Rademacher ihn musterte.
„Bei dem hier lohnt das nicht. Das ist nur so ‘n armes Würstchen. Hatte nicht mal genug Geld für anständige Zivilklamotten. Seine Frau hat ihm aus seiner Uniform ne Art Anzug genäht. Total löchrig und abgerissen, das kann ich dir flüstern. Die kann ich natürlich nicht nehmen. Aber vielleicht hat er ja wenigstens seinen Ehering noch. Ich kenn da einen Goldschmied, der kauft jed……“
Das flache Blatt der Schaufel, die in Obermeiers Gesicht krachte, ihm das Nasen- und Jochbein brach und sämtlichen Vorderzähne zertrümmerte, beendete seinen Redefluss.
Eine warme, plätschernde Flüssigkeit tropfte auf Obermeiers angeschwollenes und blutverschmiertes Gesicht und weckte ihn auf. Es kostete ihn seine gesamte Willenskraft, die bleischweren Augenlider zu heben. Er lag mit dem Gesicht nach oben neben dem hellen Kiefernsarg. Es erschien ihm, als würde er aus der Tiefe eines unendlich langen Kohlenschachts in den Himmel hinaufsehen. Am Rande dieses Schachts konnte er eine undeutliche Gestalt schemenhaft erkennen.
Obermeier wollte etwas sagen, fragen, was passiert sei. Doch dann spürte er, dass etwas seinen Mund blockierte. Er konnte neben Blut und Speichel auch das muffige Aroma von Papier schmecken.
Das Plätschern hörte auf und Obermeier konnte einen Reißverschluss hören, der zugezogen wurde. Tropfen der warmen Flüssigkeit liefen ihm in die Augen, die Überreste seiner zerquetschten Nase und in seine Mundwinkel.
„Bist Du endlich wach, Du dreckiges Schwein? Ich warte schon fast eine viertel Stunde.“ Die Stimme kam Obermeier bekannt vor. Er brauchte ein paar Augenblicke, bis er sie zuordnen konnte. Sie gehörte einem gewissen Rademacher, erinnerte er sich benommen.
„Ich hab für Deine schmierigen 120 Dollar übrigens die passende Verwendung gefunden, Du Drecksau. Ich hab Dein widerliches Maul damit gestopft.“
Rademacher ging in die Hocke und sah zu Obermeier herunter. Dieser versuchte schwach, sich aufzurichten. Nach wenigen Zentimetern sackte er wieder zurück. Rademacher hatte ihm mit dessen Gürtel die Hände auf dem Rücken zusammengeknotet und mit seiner Jacke die Beine gefesselt.
„Weißt Du, ich hätte Dich eigentlich gleich erledigen können. Aber ich will Dir lieber zuerst noch was erzählen. Eigentlich will ich mir selbst etwas sagen. Von der Seele reden.“ Rademacher spuckte Obermeier ins Gesicht.
„Ich weiß, wie das ist, wenn man einen Toten aus seiner Kleidung schält. Ich kenne auch das Gefühl, noch warme Socken und Stiefel von jemandem anzuziehen, der keinen Kopf mehr hat. Und wenn wir die Möglichkeit hatte, unsere Toten einfach so in eine Grube zu werfen, ohne Sarg, ohne Schuhe und ohne Kleidung, dann war das sogar ein richtig großer Luxus. Denn meistens hatten wir keine Zeit, unsere Toten zu beerdigen. Aber wir haben das nie getan, weil wir damit….“, Rademacher zögerte einen Moment und verzog angeekelt das Gesicht, „…Geld machen wollten.“ Er spuckte das Wort „Geld“ regelrecht aus.
„Und ich kenne auch die Ratten. Die Viecher, die sich an den ganzen Leichen fett und rund gefressen haben. Du, Obermeier, Du bist viel schlimmer als jede Ratte, die ich jemals gesehen habe. Denn Du frisst Dich nicht nur an den Leichen fett und rund, sondern auch an ihren Familien. Ihren Frauen und Kindern. Ich habe vor jeder räudigen, dreckigen, verflohten und verlausten Ratte mehr Respekt und Achtung als vor Dir.“
Rademacher richtete sich auf und packte die Schaufel.
„Ich hab auf den Grabstein gesehen. Leider steht da nicht sein Vorname drauf. Es tut mit daher um den werten Herrn Adelmann aufrichtig leid, dass er sein Grab mit Dir teilen muss, aber er hat wenigstens einen Sarg. Und den wird er auch behalten. Dich werden die Maden zuerst fressen, Obermeier. Ich hoffe, sie verderben sich an Dir nicht den Magen!“
Die erste Schaufel Erde traf Obermeier direkt ins Gesicht.