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Wir, die Nacht vor Ostern und der Bahnhof
»Des Herrn Ostern, freuet euch, ihr Menschen!« Und alles Gute, das in der Welt war, alles war ihretwegen da. Und Katjuscha schien zu verstehen, daß alles das ihretwegen sei.
Tolstoi, Leo. Auferstehung
„Ich heiße Isa*.“ erwiederte ich auf ihre Frage. „Und wer seid ihr?“ „Ich bin Frank.“ „Ich heiß auch Frank.“ sagte der andere. Wir lachten. Frank war wohl der häufigste Jungsname bei uns. Allein in meiner Schulklasse früher gab es fünf Franks. Was haben sich die Eltern bloß dabei gedacht. Die beiden hatten mich gefragt, ob ich mich an ihren Tisch setzen will, denn sie hatten bemerkt, dass ich ständig belästigt wurde.
Merkwürdige, aufdringliche Gestalten kamen andauernd an meinen Tisch und versuchten mich anzugraben und betaschten mich sogar. Eine Frau, die sich nachts allein auf dem Bahnhof aufhält, genießt wohl kein allzu hohes Ansehen und gilt bei den meisten als Schlampe.
Wir saßen alle miteinander in dieser Osternacht in der Bahnhofsmitropa einer großen Stadt im Süden, die für ihre chemische Industrie berühmt war.
Durch die ganze Mitropahalle waberte ein aufdringlicher Bockwurstgeruch. Zu Anfang, als ich noch Hunger hatte, war mir dieser Geruch noch appetitlich vorgekommen. Jetzt, nach einiger Zeit, war er nur noch eklig. Die Bahnhofsmitropa war wohl der einzige Ort in dieser großen Stadt, wo es um diese Uhrzeit noch etwas Eßbares gab, wenn es auch bloß Bockwurst war.
So trudelten alle Nachtschwärmer, die, ihrem Outfit nach zu urteilen, aus dem Theater oder von Konzerten kamen, hier ein und taten sich an Bockwurst gütlich. Was anderes gab es nicht zu essen. Die Bahnhofsmitropa war wohl fest im Nachtleben verankert. Es wäre gar nicht mal so ausgeschlossen, dass „er“ heute auch noch mit seiner Clique hier aufschlug.
Außerdem schien die Mitropa der nächtliche Aufenthaltsort aller verlorenen Seelen dieser Stadt zu sein. Jeder mit Problemen hing hier wohl nachts ab.
Ich war ganz froh, dass ich mich zu den beiden rübersetzen konnte. Sie waren etwas später als ich gekommen und waren mir gleich wegen ihrer langen Haare aufgefallen. Kurz nachdem sie sich hingesetzt hatten, kam gleich die Transportpolizei und nahm sie mit, obwohl sie sich ganz ruhig verhalten hatten.
Für die Bahnhofspolizisten waren lange Haare und Parker wie ein rotes Tuch. Ich hatte früher schon öfter erlebt, wie sie Leute im Hippielook und mit Mundharmonika in den Händen, „zur Klärung eines Sachverhalts“ auf dem Bahnhof mitgenommen hatten. Mich hatten sie in dieser Nacht auch schon dreimal nach meinem Ausweis und meiner Fahrkarte gefragt. Es waren immer dieselben. Wenn etwas auch nur im Entferntesten nach Jugendprotest roch, hieß es gleich: „Folgen sie uns bitte.“
Dagegen ignorierten sie die merkwürdigen Gestalten, die bestimmt keine Fahrkarte hatten und die versucht hatten, mich zu belästigen. Nach einer halben Stunde trudelten die beiden Franks dann wieder ein und wir drei unterhielten uns, noch immer mißtrauisch von der Transportpolizei, die härter war als die normale Polizei, beobachtet. Die Trapo war allgemein verhasst, genauso wie die Stasi.
Die harmlosesten Leute hatten schon bei Bahnreisen mit ihnen unangenehme Erfahrungen gemacht. Ich weiß noch, wenn ich früher mit meiner Mutter unterwegs war und ein Zug ausfiel und wir nachts auf den nächsten warten mussten, kamen sie ständig an und wollten wissen, was wir hier wollen und andauernd wurde unsere Fahrkarte kontrolliert, immer von denselben Leuten. Sogar meine Mutter fing schon an, am System zu zweifeln.
Wahrscheinlich gab es innerhalb der Polizei Rangsordnungen, wobei die Trapo, wie die Transportpolizei genannt wurde, auf der untersten Stufe stand. Da waren wohl bevorzugt Leute beschäftigt, die nicht viel zu melden hatten und nicht viel verdienten, und hierin eine Möglichkeit sahen, ihren Frust rauszulassen.
Andererseits gewährleistete ihre Anwesenheit auf dem Bahnhof aber auch eine gewisse Sicherheit, besonders für Frauen, da sich viele nicht sehr vertrauenserweckende Gestalten hier rumtrieben, aber sie drangsalierten natürlich sinnlos die harmlosesten Reisenden.
"Und woher kommt ihr? fragte ich sie. Es stellte sich heraus, dass die beiden auch aus Berlin waren. In ihrer Stammkneipe hatten sie sich erst kurz zuvor kennengelernt und spontan zu einem Osterausflug in diese Stadt entschlossen. Sie wollten den Onkel von dem einen Frank besuchen, aber leider war der nicht da. Deshalb saßen sie jetzt in der Bahnhofsmitropa.
Mir erging es genauso.
Nach einer trübsinnigen Arbeitswoche, wollte ich Ostern endlich mal etwas anderes sehen und entschloss mich spontan in den Zug zu steigen und in diese Stadt zu fahren, wo jemand lebte, den ich mal gekannt hatte. Abends stand ich versteckt in einer dunklen Ecke vor seinem Club und beobachtete ihn dabei, wie er mit seinen Kumpels lachte und scherzte.
Hier hatte jemand ein Leben, was ich nicht von mir behaupten konnte und brauchte mich nicht. So trudelte ich zum Übernachten auf dem Bahnhof ein, wo ich die beiden traf.
Es sah so aus, als wenn wir drei ein Team werden könnten. Die beiden sahen gut aus. Der eine war flachsblond und breitschultrig und der andere zierlich und dunkelhaarig. Ich hatte angenommen, dass sie Freunde waren, aber sie kannten sich auch erst seit ein paar Stunden.
Auf die Idee mit den spontanen Ausflügen hatte übrigens „er“ mich gebracht. „Wenn ich irgendwo bin und keine Penne hab, geh ich einfach in den Park und haue mich auf die nächste Parkbank.“ Parkbank war mir als Frau nun doch zu gefährlich, da hätte ich bestimmt nicht lange allein gelegen, aber der Bahnhof war eine Option.
Die Tür ging auf, und eine junge Frau betrat die Mitropa. Sie hatte ein verweintes Gesicht und ihre Haare waren zerzaust. Sie setzte sich an den Tisch neben uns. Sofort kamen die Trapotypen. Sie hatte weder Ausweis noch Fahrkarte dabei. Ihr Freund hatte sie geschlagen, und sie war ohne etwas aus der Wohnung geflüchtet. Es gab noch keine Frauenhäuser und die Mitropa war die einzige Gaststätte, wo noch auf war.
„Setz dich doch zu uns, sagten wir zu ihr.“ Der eine Frank holte gerade eine neue Runde Bockwürste und brachte ihr auch eine mit. Langsam bekam ihr Gesicht wieder Farbe, und sie hörte auf zu weinen. Es ist immer gut, wenn man nicht mehr allein ist. Die Franks versuchten sie aufzumuntern. Sie waren beide Naturtalente, was Witz und Humor anbelangt. Ich gestand mir neidlos ein, dass ich damit nicht konkurrieren konnte. Obwohl ihr absolut nicht danach zumute war, musste sie lachen. Ich war stolz auf die Jungs.
Wir vier versuchten zu schlafen, aber immer wenn wir unsere Köpfe gerade auf die schmierige grüne Plastiktischplatte gelegt hatten, kamen sofort die Typen von der Trapo an, und es hieß mal wieder: "Den Ausweis bitte".
Ein neuer Gast betrat die Mitropa und setzte sich an den Tisch, an dem eben noch die junge Frau gesessen hatte und fing sofort an, Kontakt zu uns suchen. Bald saß auch er in unserer Runde. Ich taufte ihn den Papageienmann. Seine Jacke, die er wohl irgendwo abgestaubt hatte, wirkte sehr gewagt. Der Designer dieses Kleidungsstücks hatte sich in einen expressionistischem Farbrausch reingesteigert. Manet und Monet hatten ihre Spuren hinterlassen, aber auch der „Blaue Reiter“** war vertreten.
Im Gegensatz zu den anderen Gästen der Mitropa kontrollierten ihn die Bahnhofspolizisten nicht, sondern grüßten ihn. Er war ein so dermaßen netter, aufgeschlossener Typ, dass er mit seinem Charme sogar die harten Herzen der Trapoleute rührte. Er erzählte uns, dass er auf der Straße lebt, aber momentan keine eigene Wohnung will.
„In Dessau, wo ich her bin, wollte der Bürgermeister mir eine Wohnung geben, aber ich habe sie nicht genommen. Aber vielleicht mache ich mich doch einmal eines Tages „fest“. Aber das ist noch lange hin.“ Diese Bezeichnung für sesshaft werden hörte ich zum ersten Mal.
„Hast du Lust, mit mir zusammen durch die Gegend zu ziehen? Ich passe auch auf dich auf.“ fragte mich der Mann mit der Papageienjacke. „Wir beide würden ein Superteam abgeben.“ „Nein“ erwiederte ich, und er war nicht böse.
Er stammte aus der selben Gegend wie „er“, und sprach stark Dialekt, und es verblüffte mich, dass sich ihre beiden Stimmen zum Verwechseln ähnlich anhörten, wie man es oft bei Leuten findet, deren Tonfall stark vom Dialekt ihrer Heimat eingefärbt ist. Die beiden Landsleute sprachen nicht nur mit demselben Zungenschlag, sondern sahen sich auch vom Typ her ähnlich.
Ich selber, die aus dem Norden kommt, hatte zu meinem Leidwesen keinen norddeutschen Dialekt, worüber sich jeder wunderte. Ich führe das darauf zurück, dass ich in meinen ersten Lebensjahren von einer Umsiedlersfrau aufgezogen wurde, da meine Mutter arbeiten musste. Die Frau stammte selbst nicht aus unserer Gegend, sondern kam von weit entfernt her.
Sie und ihre Tochter brachten mir sprechen bei, und ich nahm wohl dadurch die Lautfärbung der beiden an.
Ich konnte mich nicht mehr an sie erinnern, aber wenn ich in das Dorf, in dem sie wohnte, mit den anderen zum Baden radelte, lief mir oft auf der Dorfstraße eine Frau entgegen, in deren schöne braune Augen ein Leuchten kam, wenn sie mich sah, worüber ich mich wunderte.
„Bestell deiner Mutter schöne Grüße von mir“, trug sie mir jedesmal auf. Mir fiel aber auf, dass sie traurig und zerbrechlich aussah, und wirklich verstarb sie, die auch eine alleinerziehende Mutter war wie meine Mutter, jung an einem Herzfehler.
Als nach dieser stressigen Nacht endlich der Morgen graute, entschlossen ich und die beiden Franks uns zu einem Osterspaziergang durch die Stadt. Außerdem wollten wir versuchen, etwas zu essen aufzutreiben, was nicht nach Bockwurst roch. Diese Idee war zu dieser frühen Stunde aber einigermaßen utopisch.
Als wir aus der Bahnhofshalle traten, merkten wir, dass es winterlich kalt war, obwohl wir Ostern hatten. Ich zitterte. „Willst Du meine Jacke anziehen?“ "OK" sagte ich, und der eine Frank überließ mir großzügig seine Lederjacke. Ich ersoff fast darin, und auch ihm war sie viel zu groß. Es war eine herrliche, abgewetzte alte Lederjacke, die fantastisch roch und wohl vor ihm schon Dutzende Besitzer gehabt hatte.
Die Transportpolizei hatte auch gerade Schichtwechsel, und wir sahen unsere Quälgeister mit Aktentasche und in Zivil an uns vorbeigehen. Sie ließen es sich aber nicht nehmen, uns dreien noch einen unfreundlichen Blick zuzuwerfen. "Frohe Ostern" riefen wir versöhnlich hinter ihnen her, aber wir bekamen keine Antwort.
"Mein Gott warum hast du mich verlassen?" hörten wir eine Stimme singen. Die Musik kam aus einem geöffneten Fenster. „Das ist die Matthäuspassion von Bach.“ sagte der Frank, dessen Lederjacke ich trug. Ich lauschte verzaubert den Engelstönen. Und ich hatte Bach immer für einen alten Langweiler gehalten.
Die junge Frau, die mit uns die Mitropahalle verlassen hatte, bog in eine Gasse ein. „Ich gehe wieder in meine Wohnung zurück. Vielleicht habe ich Glück, und er schläft.“
Wahrscheinlich wußte sie nicht, wo sie sonst hin soll, und länger in der Mitropa sitzen wollte sie auch nicht. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Es war wohl nicht das erste Mal, dass sie flüchten musste und bestimmt auch nicht das letzte Mal.
Mir war unklar, wie man freiwillig mit jemanden, der einen schlägt, zusammenleben kann. Und wie konnte man mit so einem Mann noch schlafen? Ich hatte in meiner Kindheit auch viel Gewalt durch meine Mutter erlebt, aber da blieb mir nicht anderes übrig, als das zu ertragen, da ich nirgendwoanders hin konnte. Niemals würde ich zulassen, dass ein Mann mich schlägt.
„Guckt euch mal den Fluß an. Habt ihr sowas schon mal gesehen?“ Wir gingen gerade über eine Brücke und staunten, dass unter uns der Fluß bloß aus Schaum bestand. Auf der Hinfahrt war mein Zug an einer Fabrik vorbeigefahren, die lichterloh in Flammen stand.
Das war aber keine Havarie, sondern es sah dort immer so aus, denn ich war da schon öfter vorbeigefahren. Mir war unklar, wie man dort arbeiten kann. Allein bei dem Gedanken grauste mir schon. Aber tatsächlich liefen dort Leute raus und rein.
Als wir zusammen durch die Altstadt gingen, trafen wir keinen Menschen. Es war ja Ostersonntag, und die Leute konnten ausschlafen. Ich lief übernächtigt, aber wunschlos glücklich, zwischen den beiden. Endlich fanden wir am Markt eine Gaststätte, die so früh schon auf hatte.
Wir waren die einzigen Gäste im „Goldenen Hahn“. Der Kellner mochte uns genausowenig wie die Transportpolizei und hätte uns am liebsten rausgeschmissen. Er servierte uns mit eisigem Gesicht Kaffee und Salamiplatte.
Danach bestellten die beiden Bier. Ein Bier frühmorgens erschien mir als Gipfel der Dekadenz. In meinem Dorf hätte ich jetzt als übelbeleumundete Frau gegolten. Über die zogen meine Mutter und ihre Klatschtanten immer her. Mein Ruf wäre ruiniert gewesen, und keiner hätte mich geheiratet und erst recht nicht, wenn sie gewusst hätten, dass ich nachts auf dem Bahnhof abhing.
Wir drei im „Goldenen Hahn“ wurden immer ausgelassener. Ich fühlte mich geborgen zwischen den beiden. So läßt man sich das Leben gefallen. Wenn ich da an Berlin dachte und an meine Arbeit, auf der ich kräftig gemobbt wurde und wo ich Montag wieder hin musste. Wir schmiedeten Pläne für die Zukunft. Gleich am nächsten Wochenende wollten wir drei wieder zusammen auf Tour gehen.
Beschwipst und fröhlich traten wir aus dem „Goldenen Hahn“ wieder in Freie, worüber sich der Kellner sehr freute. Draußen hatte sich immer noch nicht viel geändert. Es war immer noch morgens und kalt und menschenleer. Der Ostertag und die fremde Stadt lagen vor uns.
Da passierte etwas, womit ich niemals gerechnet hätte. Der eine der beiden Franks fasste spontan den Entschluß, auf der Stelle nach Berlin zurückzufahren. „Ich fahr nach Hause Leute. Seid nicht sauer.“
Er war übermüdet und hatte die Nacht auf dem Bahnhof verbracht, aber wir waren 21. Wie oft hatte ich an die Nachtschicht noch eine Frühschicht rangehängt, weil jemand ausgefallen war, und es machte mir nichts aus.
„Kommst du mit mir?“ fragte er mich. „Nein, ich bleibe.“ sagte ich. Ich wußte, wenn ihm wirklich was an mir liegt, dann bleibt er da.
Er beharrte darauf nach Hause zu fahren, und wir brachten ihn noch zum Zug. Reisende soll man bekanntlich nicht aufhalten, aber bis zuletzt hatte ich noch gehofft, dass er seinen Plan nicht in die Tat umsetzt. Auf dem Bahnsteig gab ich ihm seine Lederjacke wieder, und ich und der andere Frank, der bei mir bleiben wollte, winkten dem Zug hinterher. Ein Abschied fürs Leben. Ob er das jemals bereut hat?
Als er abgefahren war, war die Stimmung irgendwie traurig. Unser Kleeblatt war nicht mehr komplett. Auch der andere Frank war nicht mehr so lustig und wirkte einsilbig. Etwas fehlte.
Wie machten uns zu zweit auf, die Stadt zu erkunden. Mit der Straßenbahn fuhren wir zum Ufer des Flusses. Das war ein Naturparadies. Ich kannte die Gegend, weil „er“ in der Nähe wohnte. Er liebte die Landschaft hier. Er stammte aus dieser Stadt und hatte mir mal eine Villa gezeigt, die früher seiner Familie gehörte. Sein Vorfahr besaß eine Fabrik und ging damit pleite. Das verkraftete er nicht, und erschoß sich. Das war noch vor dem ersten Weltkrieg.
Die Familie hatte ihre gesellschaftliche Stellung eingebüßt, aber nicht ihren Dünkel. Den Abstieg haben sie wohl nie ganz verwunden. Also daher stammten seine Hochnäsigkeit und Arroganz. Er war der allerarroganteste Typ, der mir jemals über den Weg gelaufen war.
Aber irgendwie reizte mich gerade das, denn ich vermutete hinter dieser Schutzschicht eine verletzbare Seele. Nach seiner wilden Zeit würde er am Ende aber doch nur wieder ein Bildungsbürger werden, fürchtete ich für ihn.
Mit so einer Herkunft konnte ich nicht dienen. Ich stamme von Fabrikarbeitern und väterlicherseits von Generationen von Eisenbahnern ab. Ich weiß nicht, ob das erklärt, dass ich mich in Zügen und auf Bahnhöfen wie zu Hause fühle und das Rattern von Eisenbahnen und der Anblick von Gleisen immer sehr vertraute Gefühle in mir wecken.
Ich hätte noch stundenlang da rumwandern können, aber ich bemerkte, dass Frank nicht glücklich war. Er zitterte, denn am Wasser war es kalt, und eigentlich gefiel es ihm hier in der Natur nicht.
Er war wohl nur meinetwegen dageblieben. Ich wollte ein guter Kumpel sein und beschloss deswegen, dass es das Beste ist, wenn wir zusammen nach Berlin zurückfahren. Wenn ich allein gewesen wäre, wäre ich noch den ganzen Tag durch die Stadt gelaufen. In Berlin war ich ja schließlich jeden Tag, und die teure Zugfahrkarte musste sich lohnen.
Ich glaube, Frank fiel ein Stein vom Herzen. Im Zug holten wir uns Bier und wieder mal Bockwürste. Es war nicht voll im Abteil. Die anderen, die noch mitfuhren, saßen nach kurzer Zeit um uns herum und Frank, der sehr offen und lebhaft war, war in seinem Element. Ich mochte ihn, aber ich wußte, dass es nur Freundschaft war.
Natürlich ließ ich mich dann doch rumkriegen, und wir beide waren danach eine Weile zusammen. Aber es lief einfach nicht, das sahen wir beide.
Ich war die absolute Spaziergängerin. Ich hatte meine Lieblingsstraßen in Berlin, durch die ich oft flanierte. Das schöne war, dass dieser Spaß gratis war, da ich nicht allzuviel Geld verdiente. Am meisten liebte ich die Schönhauser Allee und diese winzige kleine Gasse beim Hackeschen Markt.
Wenn man in ihrer Mitte stand und die Arme ausbreitete, konnte man die Wände rechts und links berühren, so schmal war diese Straße. Ich hatte sie mal zufällig entdeckt, und seitdem zog es mich immer wieder da hin. Es gab dort auch wenig Passanten, so dass ich fast immer allein mit dem alten Gemäuer war.
Viel, viel später erst erfuhr ich, dass in dieser Straße früher die Ostjuden gelebt haben.
Ich wollte dieses Gefühl immer gerne mal mit jemand teilen. Ich dachte dabei an „ihn“, der der geborene Großstadtflaneur war.
Leider musste ich feststellen, was mir damals an Ostern auch schon aufgefallen war, dass mein Freund Frank nicht gern spazierenging, sondern jeden Meter mit der Straßenbahn fuhr.
Er lief mißmutig neben mir her und war für den Zauber der Straßen völlig unempfänglich. Er verspürte nichts von dem besonderen Flair, den die Geschichte in diese Mauern eingegraben hat.
Vielleicht bin ich da ungerecht. Ich, die aus einem kleinen Dorf kam und noch nicht allzulange hier lebte und die ihre neue Heimat erkunden wollte, reagierte wohl viel sensibler auf die Stadt als er, der hier geboren war.
Als ich zum ersten Mal in Franks Zimmer, er wohnte noch bei seinen Eltern, kam, wunderte mich am meisten, dass er kein einziges Buch hatte. Obwohl, ein einsames Buch stand doch im Regal. Es war das Buch, das wir alle von der Schule zur Jugendweihe geschenkt bekamen.
Die Jugendweihen fanden in unserem Dort immer um Ostern herum statt. Merkwürdigerweise blühte um diese Zeit immer eine gelbe Blume, die der Butterblume ähnelt. Ich taufte sie deshalb Jugendweiheblume. Als Kinder liefen wir mit Glückwunschkarten herum und bekamen Süßigkeiten von den stolzen Jugendweihlingen geschenkt.
Ich war selber noch in der Unterstufe, als mich meine Freundin mit in die Turnhalle unserer Schule nahm, wo die Jugendweihe ihrer Schwester stattfand. Ich wunderte mich, wie beknackt ihre Schwester aussah, die mit leuchtenden Augen oben auf der geschmückten Bühne stand. Sie hatte Korkenzieherlocken und trug ein viel zu kurzes Kleid, das ihr nicht stand und viel zu hohe Schuhe, auf denen sie nicht gehen konnte.
Alle bekamen einen Blumenstrauß und dieses Buch in die Hand gedrückt, das ich ein paar Jahre später auch erhielt und das bei Frank einsam im Regal vermoderte. Ein Quartett von traurig dreinblickenden Männern in schwarzen Anzügen, die wohl normalerweise nur bei Beerdigungen spielen, spielte betrübliche Musik, und es wurden langweilige Reden gehalten. Aber alle waren happy und feierlich gestimmt, und die Jugendgeweihten waren stolz, und es gefiel mir mächtig.
Bei meiner eigenen Jugendweihe, die auch an Ostern stattfand, durfte ich das erstemal Seidenstrupfhosen anziehen. Ich erinnere mich noch an das herrliche Gefühl auf der Haut, als ich die Strumpfhose vorsichtig, damit sie nicht zerreißt, über mein Bein streifte. Ich lackierte mir die Fingernägel und schwenkte meine Hände durch die Luft, damit der Lack trocknete.
Ich durfte aber nur farblosen Lack nehmen, damit mich niemand für eine Nutte hielt. Natürlich hatte auch ich mit Lockenwicklern geschlafen.
Nachmittags ging ich mit meiner Freundin durchs Dorf, obwohl ich wegen meiner hohen Absätze kaum laufen konnte. „Kommt doch zu uns.“ rief ein Stimme hinter uns her, und wir setzen uns auf eine Bank hinter einem Haus am anderen Ende des Dorfes, die der Treff von ein paar älteren Jungs war, die einen Recorder dabei hatten.
Normalerweise verspotteten sie uns immer, aber heute akzeptierten sie, dass wir uns dazugesellten. Mein Jugendweihekleid stand mir wohl, und der Junge, in den ich schon seit fast zwei Jahren verzweifelt verliebt war und hinter dessen Haus wir saßen, sah mich das erste Mal richtig an.
„Liebe ist kein sehr haltbares Gefühl.“ Da hat Marcel Proust recht.
Ich spürte, jetzt wäre alles möglich gewesen. Aber es hatte wohl zu lange gedauert. Jetzt wo sich endlich die Gelegenheit bot, die ich so lange erträumt hatte und die herbeizuführen, ich so viele vergebliche Anstrengungen unternommen hatte, konnte ich auf einmal nichts mehr damit anfangen.
Es hatte meiner Leidenschaft wohl auch einen Dämpfer gegeben, dass er, der eines Tages wohl gespürt hatte, wie es um mich stand, versucht hatte, mich vor den anderen auf dem Schulhof lächerlich zu machen.
Frank war wohl eifersüchtig auf den anderen Frank und hatte zu verhindern gewußt, dass ich ihm noch einmal begegnete. Er hatte mal erwähnt, dass er ihn in seiner Stammkneipe, wo sich die Langhaarigen trafen und wohin er mich nicht mitnahm, gesehen hatte.
Stattdessen gingen wir immer in eine kleine Kneipe in der Nähe seiner Wohnung. Die Leute dort liebten Frank, und alle saßen nach einer Weile um unseren Tisch herum. Es war dasselbe wie in dem Zugabteil. Frank wirkte anziehend auf Menschen.
Normalerweise gibt es in diesen Arbeiterkneipen keine Frauen, aber meist ist immer eine dabei, die sich ihre Scheidung schöntrinkt.
Auch in Franks Kneipe gab es so eine Frau. Sie mochte mich nicht und sah auf Anhieb, dass wir nicht zusammen passen. Ich kam mir unangenehm durchschaut vor. Wer weiß, was sie von mir hielt.
Für mich war es das erste Mal, dass ich in einer Berliner Arbeiterkneipe war. Ich war sonst immer nur an den geöffneten Türen vorbeigegangen, durch die ich den dicken Qualm sah und aggressive Männerstimmen hörte, und es hatte mich wenig verlockt einzutreten.
Die einzige Frau, die es dort gab, stand hinter dem Tresen. Frank liebte diese Atmosphäre und das Bier machte ihn, der ein freundlicher, offener Typ war, lustig und mitteilsam.
Ich war der Meinung, dass wir zu jung wären, um eine Zweckbeziehung zu führen. Er war ein hübscher Junge, und als ich ihn mal mitgebrachte, hatten die anderen Mädchen im Wohnheim bewundernd gesagt: „Mann, sieht der gut aus.“
Ich hoffte, ihn mit einer Freundin von mir zu verkuppeln, der er gleich auf den ersten Blick gefallen hatte. Ich sah mich schon die Patenschaft für ihre Kinder übernehmen.
Wir beide hätten es bei einer Freundschaft lassen sollen. Aber ich habe Frank wohl nicht das Herz gebrochen, aber doch enttäuscht, und wir sahen uns nie wieder.
*Soll an „Bilder deiner großen Liebe“ von Wolfgang Herrndorf erinnern.
**Künstlergruppe