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Wir denken, also bin ich...
Es war ein lustiger Abend in der Kneipe. Billardkugeln wurden gestoßen, Biergläser gehoben und vor allem wurde viel gelacht. –Wo bin ich hier? Steig einfach in die Bahn und fahr...
Nach einem langen Abschied machte ich mich auf den Weg zur U-Bahn. Wie immer wenn ich mit der ersten Bahn nach Hause fuhr, blickte ich in leere Gesichter auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Keiner dieser Menschen wirkte auch nur im geringsten interessant. –Sie schauen dich alle an, diese vielen Menschen...
Sie starrten ins Nichts, saßen in einem Wagen voller Leute und waren doch nicht da. –Guck mal, den kennst du von früher, das ist der Niko... Doch halt, eines dieser leeren Gesichter blickte mich an und ich sah so etwas wie Erkennen in ihren Augen. Tatsächlich es war die Deborah von gegenüber. Eigentlich stimmte das natürlich nicht mehr, denn es war bestimmt schon zehn Jahre, daß sie mir gegenüber gewohnt hatte. Als Kind hatte ich mit ihren Puppen gespielt, doch irgendwann hatten wir uns auseinander entwickelt. Wenn es mal wieder darum ging, daß ich eine schlechte Note aus der Schule mit nach Hause gebracht hatte, sagten meine Eltern immer ich sollte mir ein Beispiel an Deborah nehmen. Sie war immer strebsam gewesen und hatte ihre Jugend am Schreibtisch verpaßt. –Du kennst ihn gut, geh zu ihm rüber, red mit ihm. Ich trau mich nicht. Los geh...
Jetzt saß sie hier mit mir in der Bahn und hatte sich äußerlich kaum verändert, vielleicht hier und da ein bißchen mehr Speck auf den Rippen, doch was wirklich auffiel waren ihre Augen. Sie wirkten tot und stumpf und suchten ständig irgendetwas. Ohne Zeichen erkennbarer Wiedersehensfreude kam sie zu mir und setzte sich neben mich. –Was soll ich nur sagen? Frag ihn. Ich hab Angst. Frag ihn trotzdem, er ist ungefährlich...
Grad als ich sie zur Begrüßung in den Arm nehmen wollte, wich sie zurück und meinte ohne Emotion: „Du riechst nach Alkohol. Kann ich heut bei Dir übernachten? Die Öfen in meiner Wohnung sind kaputt und es ist viel zu kalt.“ –Geschafft... Ohne nachzufragen, wie sie von unserem kleinen Heimatdorf in die große Stadt gekommen war, sagte ich ihr, daß es kein Problem wäre bei mir zu übernachten. –Er wird mir doch nichts tun? Nein, er ist ungefährlich. Du kennst ihn. Was soll ich ihm bloß erzählen? Du brauchst nicht reden...
Fast ohne Worte zu wechseln fuhren wir zu mir in die Wohnung. Sie grinste jedesmal verlegen, wenn ich ihr direkt ins Gesicht schaute, antwortete jedoch kaum auf meine Fragen und stellte auch ihrerseits keine. –Erzähl ihm von Markus, er kennt ihn, Geschichten von früher sind gut. Aber ich bin nicht mehr mit ihm zusammen. Erzähl` s ihm, denk dir was aus...
Als wir angekommen waren, kamen wir wenigstens noch ein bißchen ins Gespräch, ich konnte aus ihr herausbekommen, daß sie noch denselben Freund hat wie damals als wir uns aus den Augen verloren hatten. Er hatte sie vor einigen Wochen geschwängert. –Deine Lügen sind lächerlich. Aber ich sollte doch... Seltsamerweise war es nicht diese Neuigkeit die mich erstaunte, sondern die Art und Weise wie sie erzählte. Sie stockte und stotterte, verlor die Stimme, fing alles zweimal von vorn an und lachte lauthals an Stellen ihrer Erzählung, die jeder Komik entbehrten. Eigentlich lachte sie an den traurigsten Stellen am lautesten.
Es war schon spät und außerdem sehr anstrengend ihr zu zuhören, also schlug ich vor langsam ins Bett zu gehen und unser Gespräch am nächsten Tag fortzusetzen. –Du bist dreckig, wasch dich...
Deborah wollte jedoch nicht ins Bett gehen ohne vorher zu duschen, was sie von mir aus gerne tun konnte. Während sie duschte ging ich unser vorheriges Gespräch im Kopf noch einmal durch, -Herrliches heißes Wasser... und erst jetzt wurde mir bewußt, was mich so stark an ihr irritiert hatte: sie sprach mit zwei komplett unterschiedlichen Stimmen. Eine war die einer Dreiundzwanzigjährigen, die andere dagegen war beängstigend. Sie erinnerte mich an eine hysterische Zehnjährige und kam immer kurz vor diesem seltsamen Lachen zum Vorschein. Immer wenn in ihren Geschichten etwas besonders Wichtiges, ob tragisch oder komisch, passierte, schien sich eine zweite Persönlichkeit einzuschalten. –Ich habe ihn nur angelogen, es war schrecklich. Du warst gut, ich habe mich lange nicht mehr so gut mit dir amüsiert...
Ich erschrak. Sie mußte etwas so Schreckliches erlebt haben, daß sie es allein nicht verarbeiten konnte. Und ich konnte nicht damit umgehen. Rausschmeißen wollte ich sie für heute nicht, ich hatte ihr schließlich diese Nacht zugesagt und überhaupt, der alten Zeiten wegen. Ich verwarf aber auch den Plan, sie im Zimmer meiner Mitbewohnerin unterzubringen, welches heute leer stand. –Und glaub mir, es wird noch besser...
Ich wußte nicht ob sie randalieren würde, wenn sie allein in einem Zimmer war. Widerwillig richtete ich mir ein Schlaflager auf dem Boden neben meinem Bett her. Als sie aus der Dusche kam, eröffnete ich ihr die Veränderung der Schlafverhältnisse. –Er mag dich... Sie in meinem Bett mit meinem Schlafsack, ich davor auf dem Boden, doch wenigstens mit meiner kuscheligen Bettdecke. Sie schien kaum erstaunt, eher erfreut über diese Neuigkeiten. Innerlich zitterte ich vor Unsicherheit, würde sie mich in Ruhe schlafen lassen, würde sie mich gar im Schlaf erwürgen? –Wie soll ich das machen, mich ihm anbieten? Außerdem will ich gar nicht. Tu es...
Nein, es war dummes Gerede, Schizophrenie mußte nicht zu Gewalttätigkeit führen. Ein letzter Funken Zweifel blieb dennoch, als mein Kopf sich in das dazu gehörige Kissen schmiegte. Lange Zeit sagten wir nichts, es war still. –Jetzt tu es, er erwartet das. Was soll ich denn tun? Laß dir etwas einfallen...
Irgendwann hörte ich jedoch wieder ihr schrilles Lachen. Unendlich langes Schweigen folgte. Die Frage ob ich ins Bett kommen wollte, man könne sich gar nicht unterhalten, verneinte ich, nichts lag mir ferner. Wir redeten außerdem eh nicht, was sollte also diese platte Anmache. –Er möchte das genauso wenig wie ich. Ihr wollt es beide. Mach weiter, du warst gut...
Es sollte noch schlimmer werden. Sie fing an sich über ihre zu kalte Decke zu beschweren, sie wollte meine haben. Ein starker Ruck, eine heftige Bewegung und meine Decke lag auf dem Bett und ich ohne alles auf dem Boden. Stur behielt sie meine Bettdecke erwartete wohl, ich würde ins Bett kommen, so ganz ohne Decke. Ihr bestes Argument die Decke zu behalten war immer noch ihr erschreckendes Lachen. Resignierend ging ich in das Zimmer meiner Mitbewohnerin und lieh mir ihre Decke aus. An dieser krallte ich mich fest und es gelang Deborah nicht sie mir auch noch zu entreißen. –Jetzt schläft er ein...
Ich hatte mir fest vorgenommen nicht einzuschlafen, hatte den Wecker auf drei Stunden später gestellt, es mußte möglich sein diese Zeit wach zu bleiben. Es war nicht möglich. –Siehst du, ihr liegt vereint in seinem Bett, eng umschlungen, ihr küßt euch. Aber ich bin doch im Bett und er auf dem Boden. Sei ruhig, es ist wie ich es sage...
Kurze Zeit später schreckte ich vom Klingeln meines Weckers auf, stand fast auf meinem Kissenlager. Deborah schaute mich an. Hatte sie mich die ganze Zeit über angeschaut, während ich schlief? Ich ging in die Küche um mir einen Cappuccino zu machen und Deborah wollte natürlich auch einen.
Wir saßen am Frühstückstisch und ich wußte nicht was ich sagen sollte, mußte aber auch nichts sagen, es blubberte nur so aus ihr heraus. –Erzähl ihm deine Geschichte, wecke Mitleid er wird dich noch mehr mögen, es kann immer so sein wie letzte Nacht. Da war doch aber nichts. Ich habe dir gesagt was gewesen ist. Erzähl ihm auch von mir...
Sie erzählte mir vom Tod ihres Vaters und daß sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester (ich hatte immer gedacht sie sei Einzelkind) in die nächste größere Stadt gezogen war und das ihre Mutter sie vor die Tür gesetzt hatte. Sie erzählt von den Eßstörungen ihrer Schwester und daß sie in verschiedenen Jugendhilfeeinrichtungen gewohnt hatten. Jetzt hatten sie hier einen Neuanfang mit einer eigenen Wohnung geschafft. –Er liebt dich, er wird dich nie wieder gehen lassen...
Kein Wort mehr von ihrer angeblichen Schwangerschaft und dem dazugehörigen Freund. Und wieder ihre Art zu erzählen, dieser Wechsel zwischen den zwei Stimmen, dieses hysterische Lachen, diese offensichtliche Geisteskrankheit. Es wurde mir zuviel, ich konnte ihr nicht helfen, konnte ihr noch nicht einmal weiter zuhören, sie war einfach zu durchgedreht. Ich bat sie zu gehen. –Ich hab es gewußt, dieses ständige Lügen es bringt nichts. Noch ist es nicht vorbei, du bist noch hier, geh einfach nicht... Einen Cappuccino wollte sie noch trinken und dann gehen. –Komm ihm näher, er mag dich... Während dieses Cappuccinos kam sie mir wieder aufdringlich nahe, sie begann mit der bettelnden Stimme einer Zehnjährigen zu sprechen, sie wollte noch eine Nacht bleiben, es wäre so nett bei mir gewesen und es sei so kalt in ihrer Wohnung. –Er will, daß ich gehe. Nein er läßt dich bleiben, dafür sorge ich...
Nein es ging nicht, sie brauchte professionelle Hilfe, nicht einen alten Freund. Sie verstand es nicht. –Er wird dich bleiben lassen... Wie ein beleidigtes Kind begann sie zu trödeln, packte ihre Sachen schmerzlich langsam, brauchte zehn Minuten um ihre Schuhe anzuziehen und blieb dann in der Tür stehen, wartete ab. –Du mußt nicht gehen, er wird dich bleiben lassen...
Ich mußte sie förmlich aus der Tür drücken, schloß hinter ihr ab, wünschte ihr, daß es ihr bald besser gehen möge. –Er hat dich vergewaltigt. Du weißt es. Du wolltest das letzte Nacht gar nicht. Aber da war doch auch nichts. Er hat dich vergewaltigt. Ja, er hat mich vergewaltigt... Sie blieb noch über eine Stunde in unserem Hausflur, klingelte, klopfte und schrie:“Niko du Unhold, mach die Tür auf.“. Ich drehte die Musik lauter und hab sie nie wieder gesehen.
[Beitrag editiert von: SignoreSalami am 06.03.2002 um 14:51]